Noch vier Tage, dann wird Klaus Borowski pensioniert. Nun sitzt der Noch-Kommissar im Reisebüro und könnte vor dieser Foto-Tapete mit Traumstrand, Meer, blauem Himmel und Palmen nicht deplatzierter wirken. Die Szene und insbesondere das Spiel von Axel Milberg erinnern ein wenig an die Art, mit der Loriot seine liebenswürdig verschrobenen Figuren seziert hat. Borowski scheint überfordert bei dem Gedanken, dass er bald „alle Zeit der Welt“ haben könnte. Er runzelt verwirrt die Stirn, wenn die Reisefachverkäuferin verschiedene Vorschläge flötet. Auf das „stark durchdachte Komfort-Programm für Weltenbummler“ reagiert Borowski stark abweisend, und beim Stichwort „Aktivreisen für Best-Ager“ fragt er selbstzweifelnd zurück, ob der Begriff „Best-Ager“ denn auf ihn überhaupt zutreffe. Erst als er nach seiner idealen Wunschreise gefragt wird, verklärt sich sein Blick in Erinnerung an seine große Liebe. Für einen kurzen Traum-Auftritt kehrt deshalb Maren Eggert, die zwischen 2003 und 2010 im Kieler „Tatort“ die Psychologin Frieda Jung gespielt hatte, zum Abschied von Axel Milberg noch einmal zurück.
Foto: NDR / Thorsten Jander
„Borowski und das Haupt der Medusa“, die 44. und letzte Episode mit dem Kieler „Tatort“-Kommissar Klaus Borowski, beginnt zuvor jedoch mit einer anderen Art von Humor: als bitterböse Groteske mit Corinna Kirchhoff als garstiger Domina-Mutter und August Diehl als nägelkauendem Muttersöhnchen. Der von Diehl zum Fürchten gut gespielte IT-Experte Robert Frost setzt bei einem Abendessen zum Befreiungsschlag gegen die Tyrannin an – die Szene ist ein toller Horrortrip mit zwei erstklassigen Darstellern, von Regisseur Lars Kraume in der beklemmenden Atmosphäre aufgeräumter Bürgerlichkeit inszeniert. Das geräumige Haus wirkt mit seinem Interieur aus dem vergangenen Jahrhundert wie erstarrt und wird durch die kaltblütige Tat erst recht zu einem unheimlichen Ort. Hier erreicht der Film auch den höchsten Punkt der Spannungskurve, als Borowski allein durch das Frost’sche Anwesen streift, während der Mörder noch im Haus ist. Schön schaurig außerdem die Idee, dass der Sohn das bereits frisurtechnisch an die Medusa erinnernde Haupt seiner Mutter in seinem Aquarium platziert (Szenenbild: Zazie Knepper).
Axel Milberg über Klaus Borowski:
„Meine ursprüngliche Idee, einen kriminellen Ermittler zu erzählen, aber einen, der wie Robin Hood es den Bösen nimmt und den Guten, die aber keine Gerechtigkeit erwarten können, zuschanzt, das war in der ARD in einer Reihe nicht durchsetzbar. So aber blieb ein kleiner Schatten mit dieser dunklen Seite auf Borowski, der – und da fand ich den modernen Ansatz unbedingt notwendig – nicht mit dem moralischen Zeigefinger ermittelt und mit persönlicher Empörung und gespielter Entrüstung die Verdächtigen zusammenmeiert, sondern versucht, sie zum Sprechen zu bringen.“
Foto: NDR / Thorsten Jander
Das gestörte Muttersöhnchen erweist sich, nachdem er endlich aus seinem familiären Gefängnis ausgebrochen ist, als ernst zu nehmender Gegenspieler des Kommissars. Als IT-Freak hat er vorgesorgt, kontrolliert und hackt sogar den Polizei-Server. Schauspieler August Diehl, der sich längst auch in internationalen Kinoproduktionen einen Namen gemacht hat und in Filmen von Quentin Tarantino („Inglourious Basterds“) und Terrence Malick („Ein verborgenes Leben“) zu sehen war, gibt hier im Alter von 49 Jahren sein denkwürdiges „Tatort“-Debüt. Die Figur des Antagonisten (und die hochkarätige Besetzung der Rolle) erinnert an die Trilogie, die aus Axel Milbergs „Tatort“-Ära vornehmlich in Erinnerung bleiben wird: Zwischen 2012 und 2021 spielte Lars Eidinger in drei Filmen den „stillen Gast“ und Frauenmörder Kai Korthals. Der Autor war damals bereits Sascha Arango, der nun mit seinem insgesamt zehnten Drehbuch für den Kieler „Tatort“ auch Borowskis Abgang erzählen darf – wieder mit einem Psychothriller, in dem der Täter von Anfang an bekannt und der dennoch spannender ist als die meisten klassischen Whodunits. Ein Foto vom Haus der Familie Frost auf dem Bürgeramt, wo Borowski einen Reisepass beantragen will, weckt beim Kommissar eine Kindheitserinnerung. Und weil auf dem Amt, auf dem Robert Frost als Computer-Experte arbeitet, vor kurzem zwei Frauen ums Leben kamen, beginnt Borowski auf eigene Faust zu ermitteln – insbesondere gegen den Willen seines Chefs und Freunds Roland Schladitz (Thomas Kügel). Kommissarin Mila Sahin (Almila Bagriacik) dagegen steht ihrem eigenwilligen Kollegen nach anfänglichen Zweifeln bei. „Du wirst mir fehlen“, sagt sie. Eine Prise Abschieds-Wehmut darf schon sein.
Foto: NDR / Thorsten Jander
Der gebürtige Kieler Milberg ist im Laufe der Jahre mit seiner Figur verschmolzen wie kaum ein zweiter der aktuellen Hauptdarsteller:innen der ARD-Krimireihe. Der Kommissar passte perfekt in die Landschaft des Nordens. Milberg brachte auch seinen Freund Henning Mankell dazu, einige Drehbücher für Borowski zu schreiben. Zu einer TV-Ikone wie Götz Georges Ruhrpott-Haudegen Horst Schimanski, der einst das Krimi-Genre entstaubte, wurde Borowski sicher nicht. Aber Milbergs Talent für Sonderbares und Sonderlinge, seine scheinbar ungelenke, unperfekte und deshalb umso menschlicher wirkende Art zu spielen, haben den wortkargen und gelegentlich auch sturen Kommissar zu einer unverwechselbaren, nahbaren und sympathischen Figur werden lassen. Die Frauen an seiner Seite hatten es freilich nicht immer leicht. So ließ Sibel Kekilli, die in 14 gemeinsamen Filmen die Kommissarin Sarah Brandt spielte, bei ihrem Abgang vor acht Jahren etwas Frust über die Grenzen des TV-Formats und die Entwicklung ihrer Figur durchblicken. Und auf die Idee, den männlichen Ermittler eines eigentlich gemischten Teams regelmäßig bereits im Titel („Borowski und…“) ins Zentrum zu rücken, wird wohl keine Redaktion jemals wieder kommen. Insofern mögen die Borowski-Krimis nicht mehr ganz zeitgemäß gewesen sein, die Figur selbst dagegen wirkte eher zeitlos entrückt. Gelegentliche Anflüge männlicher Besserwisserei wurden durch sein besonderes Einfühlungsvermögen und seine Fähigkeit zum Zuhören und Zwischen-den-Zeilen-Lesen aufgewogen. Engstirnigkeit und Kleinkariertheit waren ihm fremd. Auch im letzten Fall betont Arango erneut Borowskis intuitives Vorgehen, das ihn freilich mal wieder in Gefahr bringt.
Foto: NDR / Thorsten Jander
Die sowohl komische als auch etwas sentimentale Reisebüro-Szene zu Beginn legt jedenfalls einen gelungenen Grundstein für den späteren Borowski-Abgang, der hoffentlich ähnlich unspektakulär ablaufen wird. Allerdings bemühte sich der NDR darum, in der Öffentlichkeit einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken und eine Extraportion Spannung zu erzeugen. „Borowski und das Haupt der Medusa“ wurde wie üblich den Kritikerinnen und Kritikern zur Sichtung vorab zur Verfügung gestellt – jedoch ohne die letzten Filmminuten. „Wie der Krimi mit Borowski endet, soll eine Überraschung bleiben“, lautete eine Einblendung. Und im begleitenden Pressematerial verspricht Arango: „Wir machen aus diesem schrecklichen Umstand, dass er jetzt aufhören wird, einen Teil der Geschichte. Und es endet ja trotzdem mit einem Knall…“ Wie auch immer der „Knall“ aussieht und sich anhört: Dass sich Borowskis Traum von der gemeinsamen Weltreise mit Frieda Jung erfüllt, ist wohl eher unwahrscheinlich. „Wir könnten ja heiraten“, hatte Jung in „Tango für Borowski“ (2010), dem letzten Auftritt von Maren Eggert im Kieler „Tatort“, vorgeschlagen. Und was entgegnete Borowski?: „Aber wen?“
- Tatort – Tango für Borowski
- Tatort – Borowski und die Frau am Fenster
- Tatort – Borowski und der stille Gast
- Tatort – Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes
- Tatort – Borowski und der gute Mensch
- Tatort – Borowski und der brennende Mann
- Tatort – Borowski und der Engel
- Tatort – Borowski und der Himmel über Kiel
- Tatort – Borowski und das dunkle Netz
- Tatort – Borowski und das Fest des Nordens
- Tatort – Borowski und das Glück der Anderen
- Tatort – Borowski und der Fluch der weißen Möwe
- Tatort – Borowski und der Wiedergänger
2 Antworten
Ein skurriler Tatort mit einem witzig überlegten Abgang. Dank an die Darsteller.
5,5 Sterne
Nicht nur Dank an die Darsteller, sondern vor allem an einen: Sascha Arango. Milberg hat einmal erzählt, wie schwer er sich manchmal mit dem Lesen schlechterer Drehbücher täte und er manchmal eine Woche bräuchte , bis er durch wäre. Nur die von Sascha Arango würde er immer in einem Zug in wenigen Stunden lesen. Arango hat ohne Zweifel die Highlights der Borowski – Reihe geschrieben. So hat er auch verdientermaßen die Abschlussfolge verfassen dürfen, jede der 88 Minuten völlig überzeugend. Also Kompliment an Sascha Arango, einem der besten Drehbuchautoren Deutschlands: Borowski Abschiedsfolge war ein Genuss.