Der gewaltsame Auftakt ist grenzwertig, aber auch originell überzeichnet
Der Bilderrausch dieser visuell herausragenden „Tatort“-Folge aus Kiel beginnt im Computerspiel-Modus: Ein Mann mit Wolfsmaske steht vor einem Fitnessstudio, der dunkle Abend ist unheilvoll rot gefärbt. Als der Auftragsmörder ins Studio geht, wechselt die Kamera in die Egoshooter-Perspektive. Am Ende des Überfalls liegen ein Gast und der Besitzer des Studios erschossen am Boden. Der Killer wurde bei einer wüsten Schlägerei mit dem Besitzer verletzt und ist geflüchtet. Der getötete Gast war Polizist, Dezernatsleiter für Cyber-Kriminalität im Landeskriminalamt (LKA). Der gewaltsame Auftakt ist zweifellos grenzwertig für den Familienkrimi am Sonntagabend, und auch sonst zeichnet sich „Borowski und das dunkle Netz“ durch einige schonungslose Bilder aus. Allerdings ist die Inszenierung von Kinoregisseur David Wnendt insgesamt eine originelle Überzeichnung. Die zum Teil skurrilen Figuren, der Humor, die visuellen Akzente schaffen eine überhöhte Film-Realität und damit einen Kontext, in dem auch Gewalt, Schmerz und Ekel etwas weniger real erscheinen. Wie sich zum Beispiel der als Wolf maskierte Killer versehentlich den kleinen Finger abtrennt, erinnert an die fatale Ungeschicklichkeit der Figuren aus Filmen der Coen-Brüder.
Foto: NDR / Christine Schroeder
LKA-Abteilung Cyber-Kriminalität: Zwei Nerds in einer leeren Halle
Nahe an der Grenze zur Karikatur sind auch LKA-Chef Eisenberg, herrlich bärbeißig gespielt von Michael Rastl, sowie die beiden jungen Cyber-Spezialisten Cao (Yung Ngo) und Dennis (Mirco Kreibich). „Das sind richtige Polizisten, keine Nerds“, behauptet Eisenberg, der Kommissar Borowski (Axel Milberg) dagegen für „aufgeblasen, eingebildet, überschätzt“ hält und Kollegin Brandt (Sibel Kekilli) nur für dessen „Kaffeetasse“. Der stets uniformierte Eisenberg haut gerne Sprüche von vorgestern raus, schwärmt aber von moderner Polizeiarbeit und vor allem von „Schakal“, der neuen Kieler LKA-Software, die Kriminelle im weiten Datennetz ausfindig machen soll („So was haben nicht einmal die Bayern“). Er akzeptiert die beiden Ermittler nur, weil sich Staatsanwalt Austerlitz (Jochen Hägele), der offenbar ein Auge auf Brandt geworfen hat, für sie einsetzt. Borowski und Brandt quartieren sich nun in der Cyber-Abteilung des LKA ein, bei Cao und Dennis also, deren Schreibtische und Computer verloren in einer großen, leeren Halle stehen. Das Szenenbild macht unübersehbar klar, wie weit die unterbesetzte Polizei von einer wirkungsvollen Bekämpfung der Cyber-Kriminalität entfernt ist. Die Autoren Wnendt und Thomas Wendrich, der zuletzt das Drehbuch für den mehrfach ausgezeichneten Täter-Film des NSU-Dreiteilers „Mitten in Deutschland“ geschrieben hatte, setzen auch eine Animation ein, in der in simplen Worten und bunten Grafiken erläutert wird, wie das Darknet funktioniert. Ein bisschen „Sendung mit der Maus“ ist also auch dabei. Das trockene Thema wird außerdem in humorvolle Dialoge und in komische Geplänkel zwischen Tollpatsch Borowski, der von den Männern genervten Brandt, dem leicht stotternden Dennis und dem stets Rollschuh fahrenden Cao verpackt.
Regisseur David Wnendt, Jahrgang 1977, machte bisher mit drei Filmen fürs Kino, „Kriegerin“, „Feuchtgebiete“ und „Er ist wieder da“, von sich reden.
Foto: NDR
Svenja Hermuth glänzt in der Nebenrolle der unverblümten Rosi
Nicht ganz neu ist die Idee einer Sprach-Software, die ein munteres Eigenleben entwickelt. Aber selten war es so witzig wie bei der eskalierenden „Beziehung“ zwischen Borowski und „Sabine“. Vielleicht weil der Kommissar der Stimme aus seinem Smartphone den Namen seiner ersten Freundin gegeben hat. Axel Milbergs Talent fürs Komische darf sich auch mal in Slapstick-artigen Szenen wie im Kampf mit einem Kopierer entfalten. Sibel Kekilli, die leider aussteigen wird und hier das vorletzte Mal im Kieler „Tatort“ zu sehen ist, muss dagegen einige physische Herausforderungen bestehen. Eine etwas humorlose, aber schlagkräftige Rolle, denn Brandt straft nicht nur die Vorurteile der Männer Lügen, sondern muss auch noch die Drecksarbeit machen. „Brandt und das dunkle Netz“ wäre vielleicht der bessere Titel gewesen. Während sich die Polizei langsam zu den Hintergründen des Falls vortastet, kennt das Publikum bereits das Gesicht des Killers. Hagen Melzer (Maximilian Brauer) hat im Hotel Oase ein Zimmer genommen und wird von der fülligen Hotel-Angestellten Rosi gestalkt. Svenja Hermuth spielt diese unverblümte Neben-Figur mit einer ebenso komischen wie würdevollen Entschlossenheit. Wenn sie sich schließlich nackt neben den ohnmächtigen, weil Finger-amputierten Killer legt, hat das gar nichts Peinliches. Schade, dass eine Praline genügt, um Rosi für den Rest des Filmes außer Gefecht zu setzen.
Eine atemberaubende Verfolgungsjagd quer durch Kiel
Die Macher setzen sich, wie häufig auch der HR-„Tatort“ mit Ulrich Tukur, bewusst vom Standard der populären Krimireihe ab. „Wir wollten die Grenzen des Formates für uns neu abstecken und verschiedenste Genreelemente miteinander kombinieren. These: Der jüngere Zuschauer ist im deutschen Fernsehen formal tendenziell unterfordert“, sagt Kameramann Benedict Neuenfels, der bereits für die Bildgestaltung vieler herausragender Kino- & TV-Filme verantwortlich war („Die Fälscher“, „Homevideo“, „Der Fall Barschel“). Vergleichsweise spektakulär für TV-Verhältnisse ist hier in einigen Szenen die Bewegung der Kamera durch den Raum. Atemberaubend die Verfolgungsjagd zu Fuß, bei der die Handkamera Brandt und Melzer quer durch Kiel hinterherhetzt. Sie endet erst in der vollbesetzten Arena bei einem Handballspiel des THW, wo Melzer zwar nicht vom Zebra, dem THW-Maskottchen, aber in der Damen-Umkleide gestellt werden kann und im Stile einer Actionkomödie in die Falle geht.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Was eine Schakal-Falle aus Kenia mit einem Kreisverkehr gemein hat
Neuenfels‘ Bildgestaltung ist dynamisch, fantasievoll im Detail, atmosphärisch dicht. Wie Brand in einer anderen Szene in einen engen Schacht klettert, um der Spur der Maden & dem Leichengeruch zu folgen, das ist Horror pur. Und der finale Showdown, bei dem sich Brand allein in der dunklen Wohnung des „Jägers“, des Oberschurken, einfindet, ist spannender Thrill. Währenddessen sieht man Borowski endlos durch einen Kreisverkehr kurven – ein Luftbild, das unangenehm an die spiralförmige Schakal-Falle aus Kenia erinnert, deren Funktionsweise der „Jäger“ gerade liebevoll erläutert hat. Schön auch die Einstellung von dem Wassertropfen in Großaufnahme, der in Zeitlupe ankündigt, dass gleich die Sprenkleranlage das LKA unter Wasser setzen wird. Angesichts der Vielfalt der Ideen und des ungewöhnlich spielerischen Umgangs mit dem Krimi-Format erscheint es kleinkariert, die nicht immer nachvollziehbaren Details der Handlung zu bekritteln: Etwa dass der Tod des Besitzers des Fitnessstudios anfangs völlig unbeachtet bleibt. Oder dass Brand & Borowski am Ende leicht begriffsstutzig sein müssen, während das Publikum die Identität des „Jägers“ bereits ahnt.
Das Darknet dient auch dem Schutz von Dissidenten und Journalisten
Widersprüchlich bleibt der Umgang mit dem Thema. Das Darknet wird hier zwar differenziert dargestellt. Das Tor-Netzwerk werde auch von Dissidenten und Journalisten verwendet, die in ihren Ländern verfolgt werden. „Das ist nichts Böses“, sagt Cao. Aber auch dieser „Tatort“ ist letztlich ein Krimi und orientiert sich an dem realen Fall des vom FBI enttarnten Silkroad-Netzwerks. Auf diesem Schwarzmarkt im Darknet waren unter anderem Drogen gehandelt und mit Bitcoins bezahlt worden. Und der rätselhafte Killer mit Wolfs-Maske wirkt, eindrucksvoll und unheimlich gespielt von Maximilian Brauer, Jungstar an der Berliner Volksbühne, wie die leibhaftige Ausgeburt einer dunklen Parallelwelt. (Text-Stand: 22.2.2017)