Ein Luxuswarenhaus im Berlin der 1920er Jahre, eine pulsierende Metropole, eine „Stadt der Frauen“. Die Weimarer Republik verspricht Hungerjahre, Inflation, den Aufstieg der NSDAP, eine Radikalisierung der Straße, Antisemitismus, Arisierung, Enteignung, Exil. Die Historie ist aber nur die halbe Wahrheit von „Eldorado KaDeWe – Jetzt ist unsere Zeit“ (Degeto, RBB / Constantin Television, UFA Fiction). Der Sechsteiler von Julia von Heinz gibt über die geschichtlichen Gewissheiten hinaus ein Versprechen auf mehr: Nicht die Reproduktion eines Jahrzehnts bestimmt die Erzählung, die Charaktere sind der Kern, vier junge Menschen, die auf dem Vulkan tanzen und die ihre Liebe und Glückssuche nicht von den gesellschaftlichen Umständen allein abhängig machen wollen. Es ist eine Reise ins Utopia der Liebe & Triebe, der Sehnsüchte & Hoffnungen, der weiblichen Identität & Intimität. An dieser Miniserie, in der eine (innere) Haltung, eine Vision und vor allem ein Streben nach Wahrhaftigkeit spürbar werden, stimmt ästhetisch alles. Darin unterscheidet sie sich von vielen anderen TV-Großprojekten. Aus der gemeinsamen Anstrengung zweier Produktionsfirmen entstand die beste deutsche Serie seit langem. In dem Sechsteiler treffen sich Kino-Arthaus-Ästhetik & ein kluger subjektiver (weiblicher) Blick mit der Dringlichkeit modernen Serienerzählens.
Viel Kontakt hatten die 15jährige Alma und ihr Vater Oliver die letzten Jahre nicht. Das ändert sich, als die Mutter bei einem Unfall ums Leben kommt. Das Mädchen zieht zum Vater, der immer noch mit dem Mann zusammenlebt, wegen dem Oliver einst aus seiner Ehe ausbrach. Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Vater und Tochter durch die Ausnahmesituation des plötzlichen Zusammenlebens verändert und wie durch den Lebenspartner des Vaters und den bibelfesten Freund der Tochter das kommunikative Gleichgewicht beeinflusst, ja gestört wird, davon erzählt der ARD-Fernsehfilm „Eine fremde Tochter“ (Aspekt Telefilm, Bavaria Fiction) von Stefan Krohmer nach dem Drehbuch von Daniel Nocke. Beide sezieren mit analytischem Blick die Befindlichkeiten der Protagonisten, die kleinen Machtkämpfe, die freigelegten Aggressionen, und sie zeigen, wie Fronten aufweichen, während andere verhärten. Wie immer geht es bei ihnen um Muster von Kommunikation, um die Fallstricke, die einem Werte- und Moralvorstellungen in den Weg legen können, die Selbstlügen und subjektiven Konstrukte, die Menschen sich bauen, um vor sich selbst bestehen zu können. Und natürlich geht es auch um konkrete (Alltags-)Situationen, um Lebensthemen, die in der Handlung aufscheinen. Da die Geschichte sich über das strukturelle Ganze und nicht über singuläre Narrative erschließt, ist dieser Text weniger eine klassische Kritik als der Versuch einer (Lesarten-)Analyse.
In der Bevölkerung ist das Bauhaus 1920 verrufen als ein Sammelbecken von Spinnern und Klecksern, von Kommunisten und Nudisten. Auf die Heldin des History-Dramas „Lotte am Bauhaus“ (MDR / Ufa Fiction) aber übt diese Kunstschule & ihr moderner Geist eine große Anziehungskraft aus, und sie wird gegen alle Widerstände ihren Weg machen… Die 14 Jahre deutsche Bauhaus-Geschichte aus dem Blickwinkel einer jungen Frau zu erzählen, ist hier mehr als eine Konvention frauenaffiner TV-Fiction. Der Fokus liegt auf der Aufbruchs-Stimmung der Zeit, aber auch die Benachteiligung der Frauen in der jungen Demokratie ist ein Thema. Die Sprache im Film wirkt modern, verzichtet auf historisierende Rhetorik und barocke Handlungsführung. Damit rekonstruiert Autor Braren ein Stück weit die Klarheit des Bauhaus-Codes und vermittelt damit auch dem Laien etwas vom Wesen dieser innovativen kunsthandwerklichen Formensprache. Den Geist des Bauhauses emotional zu vermitteln, diese Aufgabe kommt der Titelfigur & der einmal mehr hinreißenden Alicia von Rittberg zu.
Zwei dauergemobbte Außenseiter-Teenager können den Spieß endlich mal umdrehen. Das Schicksal und die Segnungen eines „intelligenten“ Hauses bringen sie auf die wahnwitzige Idee, ihren verhassten Schulleiter in seinen eigenen vier Wänden einzuschließen. Die ARD/Arte-Serie „Nackt über Berlin“ (Studio.TV.Film, Sehr Gute Filme) beginnt als köstliche Rache-Komödie, schlägt aber bald ernsthaftere Töne an, ohne an Unterhaltungswert zu verlieren. In clever strukturierten Rückblenden zeigt sich, dass der Gefangene als Ehemann, Familienvater, Schulleiter und Pädagoge versagt hat. „Nackt über Berlin“ vereint all das, was Axel Ranisch und seine Filme so besonders, ja so besonders gut und außergewöhnlich macht: die Sympathie für seine ebenso nerdigen wie liebenswerten Anti-Helden, Außenseiter, die sich nicht verbiegen lassen. Es ist nicht die Geiselnahme, die dieser Serie ihren Sog verleiht: Komödie, Tragikomödie, Thriller, Coming-of-age-Dramedy, ein erschütternder Drama-Plot, eine Freundschaftserzählung, Musical- und Fantasy-Elemente – die Mischung aus Genres, Stimmungen, Bildern macht‘s. Und die Schauspieler, allen voran Lorenzo Germeno, sind große Klasse, und Thorsten Merten als Pauker kriegt sogar eine Eins mit Sternchen.
Der vorzügliche Rostocker „Polizeiruf 110 – Daniel A.“ (NDR / filmpool fiction) handelt von Liebe und Identitätssuche – mit einem trans Mann im Mittelpunkt. Im Fall einer durch Stalker-Gewalt getöteten jungen Frau könnte Daniel, der für seinen Vater und die meisten in seiner Umgebung noch Daniela ist, ein wichtiger Zeuge sein. Aber seine Identität gegenüber der Polizei möchte er aus Furcht, geoutet zu werden, lieber nicht preis geben. Jonathan Perleth spielt diese differenzierte Figur bei seiner ersten Fernseh-Hauptrolle überragend, und das nicht nur, weil er selbst ein trans Mann ist. Spannend auch die neue Konstellation im Kommissariat: Die forsche Neue, Melly Böwe (Beckmann), nervt mit ihrer Aufgeschlossenheit die immer noch vom Abgang Bukows verletzte Katrin König (Sarnau). Das herausragende Buch von Benjamin Hessler inszeniert Dustin Loose mit feinem Gespür für die Zwischentöne.
Unterbezahlte Streifenbullen, Rotlichtmilieu, Transgender-Alltag – auch das ist München. In diesem Milieu muss der blaublütige Preuße Hanns von Meuffels gegen die eigenen Kollegen ermitteln. Auch der fünfte „Polizeiruf 110“ mit Matthias Brandt ist wieder ein ganz besonderer Film. „Der Tod macht Engel aus uns allen“ ist ein diffiziler Ermittlungskrimi, ein rasant-realistisches Drama, ein wuchtiger Polizeifilm und ein Stadtporträt, das sich dem Bodensatz der Münchner Gesellschaft widmet. Die Stadt pulsiert, der Verkehr lärmt, der Alltag nervt, der adlige Held flucht heftiger als Schimanski und doch gibt es für eine Person Hoffnung.
„Vergiss mein Ich“ erzählt von einer Frau, die plötzlich keinen Zugriff mehr hat auf das, was die Medizin als „biographisches Gedächtnis“ bezeichnet. Sie muss Dinge ihres privaten Lebens, aber auch gesellschaftliche Codes neu lernen: Gefühle, Höflichkeit, Sexualität. Anders als in den vielen Amnesie-Fernsehfilmen, die das Drama und die zweite Chance betonen, löst der zweite Kinofilm von Jan Schomburg nicht alle Widersprüche der Situation auf, mit denen die Heldin und ihr Ehemann leben müssen, sondern kostet auch ihre absurd-komischen Seiten aus. Ein präziser Film über die Bausteine des Lebens, der Kommunikation, der Liebe – über den Traum vom zweiten Leben. Und Maria Schrader in ihrer vielleicht besten Rolle!
Die ZDFneo-Serie „Wir“ (Studio Zentral) erzählt von einem Freundeskreis in den Dreißigern. Zwischen Familien- und Karriereplanung versuchen die meisten von ihnen, sich etwas aufzubauen. Dabei ziehen sie gleichzeitig erste Bilanz, diskutieren die großen Lebensfragen. 24 Folgen à 20 Minuten soll die Serie am Ende haben. Die ersten zwölf Folgen, die in diesem Herbst zu sehen sind, stehen im Zeichen zweier Frauen, Anfang 30, die vor zwölf Jahren einen aufregenden Sommer miteinander verbrachten – nicht mehr nur als die besten Freundinnen. Erst jetzt sehen sie sich wieder, und jede wirbelt das Leben der Anderen sofort mächtig durcheinander. So treffend diese Geschichten einer Generation erzählt sind und so spannend es ist, die Anziehungs- und Fliehkräfte dieser beiden Liebenden mitzuverfolgen – ein kleines Fernsehereignis wird „Wir“ erst durch sein Format und seine wunderbar luftige, realistische Inszenierung, bei der der Sommer förmlich aus den Bildern strömt. Die Länge von zwanzig Minuten passt generell gut zum episodischen Charakter der Serie, erweist sich aber geradezu als perfekt für die Segmentierung des jeweils pro Folge Erzählten. Allein die geplanten Ausstrahlungs- und Streamingmodi sind diskriminierend und eine Diskussion wert.
Ein 17-Jähriger kann seine homosexuellen Neigungen nicht mehr verleugnen, kann sie aber auch nicht offenbaren. Nach einem Selbstmordversuch bemühen sich die Eltern darum, ihrem Sohn beizustehen, zugleich kämpfen sie mit eigenen Problemen. Ein Familiendrama im Mittelschichts-Milieu, überzeugend von Stefan Schaller inszeniert und stark besetzt: „Aus der Haut“ ist ein neues Werk von Autor Jan Braren, der erneut glaubwürdig über Identitätsfindung und die wechselseitigen Beziehungen in einer Familie erzählt. Doch an die Qualität von „Homevideo“ reicht der Film angesichts einiger schwacher Nebenfiguren nicht heran.
Es ist 25 Jahre her, da sah Cornelius für sich keinen anderen Ausweg, als die große Liebe seines ersten Lebensabschnittes zu verlassen, weil er erkannt hatte, dass er Männer liebt – und einen ganz besonders. Trotz großen Altersunterschieds hat die neue Liebe gehalten. Doch jetzt steht die Ex-Frau wieder auf der Matte… „Das Leben vor mir“ (Leitwolf Filmproduktion) wirft viele existentielle Fragen auf. Stellt der Mann sein Glück der letzten Jahre in Zweifel? Was machen seine Schuldgefühle mit ihm? Ist er der tolle Vater gewesen, für den er sich immer hielt? Die Erinnerungen machen ihn nachdenklich, Altersweisheit mischt sich mit schlechtem Gewissen. Das mit Ironie und Humor durchsetzte Drama besticht nicht nur durch seine unaufgeregte Haltung, die Autor Ramesh mit Hilfe seiner Hauptfigur der Geschichte mitgibt, sondern auch durch die Beiläufigkeit, mit der die gleichgeschlechtliche Beziehung erzählt wird. Die Besetzung ist top, die Sprache präzise, die Dialoge sind köstlich. Der Film erklärt einem nicht die Welt, besitzt dennoch eine Haltung, die mehr ist als die Summe der Haltungen der meinungsstarken Figuren, die Themen werden wie Töne angeschlagen.
Treueschwüre und Hochzeitsmythos sind lebendiger denn je. Schön, dass „Eine Sommerliebe zu dritt“ die ewige Illusion von der romantischen Liebe nicht mitmacht und amourös-erotische Alternativen zur Zweisamkeit ins Spiel bringt. Schön auch, dass Autorin Beatrice Meier und Regisseurin Nana Neul die Zuschauer nicht bekehren wollen. Alle haben selbst die Wahl: die Charaktere, wie sie leben und lieben wollen, und die Zuschauer, was sie alles in diesem Film sehen wollen. Es ließe sich einiges entdecken: ein ideal gecastetes & aufeinander eingespieltes Trio, die beiläufigen Zeichen, die Blicke und Bilder, die mehr erzählen als jede Dramaturgie. Dieser Film erklärt wenig, zeigt viel und will den Zuschauer in Versuchung führen.
„Freier Fall“ erzählt die Geschichte einer besonderen Leidenschaft in einem besonderen Milieu: zwei Polizisten verlieben sich ineinander – der eine von den beiden hat Frau und Kind. An ein Coming out ist nicht zu denken… „Freier Fall“ ist eine Geschichte über Unfreiheit; die Männer sind Gefangene ihrer Gefühle. Stephan Lacans Inszenierung & Sten Mendes Kamera wissen, das nachdrücklich mit Bildern zu vermitteln. Die wachsende Verzweiflung des zwischen zwei Liebesobjekten hin und her gerissenen Polizisten ist der emotionale Motor des psychologisch stimmigen Films. Besonders Hanno Koffler überzeugt als Sympathie- & Empathieträger!
„Ich will dich“ erzählt von einer Ehefrau, Mutter und Geschäftsfrau, die ungeahnte Gefühle für eine andere Frau entwickelt. Der Film von Rainer Kaufmann verweilt ganz im Rahmen der Familie. Was wie ein Arthaus-Ästhetik-geschwängertes Gedankenexperiment beginnt, entwickelt sich zu einer wahrhaftigen Liebesgeschichte um tiefe Sehnsüchte & Verdrängung, um den Wunsch nach Nähe & körperlichem Verlangen. Es ist der großen Kunst und sinnlichen Überzeugungskraft von Ina Weisse & Erika Marozsán zu verdanken, dass es nur weniger intimer Momente bedarf, um einem die Liebe der Frauen glauben zu machen.
„Kokon“ (ZDF / Jost Hering Filme), zweite Regiearbeit von Leonie Krippendorf, bevor sie fürs ZDF die Serie „Loving Her“ gedreht hat, erzählt eine reizvolle Mischung aus Coming of age und Coming out: In dem famos gespielten Jugenddrama „Kokon“ entdeckt ein Mädchen die Liebe. Herausragend ist vor allem die Leistung von Lena Urzendowsky. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war sie bereits 18; trotzdem gelingt es ihr, die 14-Jährige Hauptfigur Nora jederzeit glaubwürdig zu verkörpern. Nicht minder überzeugend sind Lena Klenke als Noras ältere Schwester und Jella Haase als Romy, jene junge Frau, an die Nora ihr Herz verliert. Unverzichtbarer Teil der Realitätsnähe des Films ist auch die unverblümte Sprache. Sensiblen Gemütern wird diese Ebene allerdings nicht gefallen: Gerade die männlichen Jugendlichen werfen sich ständig diskriminierende Beleidigungen an den Kopf.
Was muss das für ein Spaß gewesen sein – und was für eine Tortur allein wegen der Highheels! Aber das Üben hat sich gelohnt: Axel Milberg spielt in „Meine Freundin Volker“ (NDR / Cinecentrum/Realfilm) die Dragqueen Vivian Bernaise, die als Zeugin eines Mafia-Mordes „im Vorhof zur Spießerhölle“ bei einer braven Lehrerin (Kim Riedle) untertaucht. Prompt prallen zwei Welten aufeinander. Wie beim Modell der Heldenreise konfrontiert das abwechslungsreiche Drehbuch die Hauptfiguren mit verschiedenen Bewährungsproben, die sie mit Bravour bestehen. Milbergs Leistung ist mehr als eindrucksvoll, zumal er konsequent vermeidet, die Rolle zur Parodie werden zu lassen: Auch dank des bemerkenswerten Maskenbilds wird Vivian zu einer eigenständigen Persönlichkeit; ihre Auftritte sind ohnehin ein Fest. Bei aller Heiterkeit ist der Film auch ein Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt.
Schwul und evangelikal: Der Pastor einer Freikirche entdeckt seine unterdrückte Homosexualität wieder. „So auf Erden“ ist ein ruhig erzählter, sorgfältig aufgebauter und intensiv gespielter SWR-Fernsehfilm über das Gemeindeleben bibeltreuer Christen, über Glaubensfragen, Nächstenliebe und Vergebung, Drogensucht und Eheproblemen. Die Inszenierung von Till Endemann ist reich an Bibelzitaten und nicht frei von philosophisch-religiösem Pathos, aber auch reich an irdischen, zwischenmenschlichen Konflikten.
Die Suche nach seiner (neuen) Identität, eine Familie und ein soziales Umfeld, die einen ablehnen, eine aus Verzweiflung aufgekündigte Freundschaft, eine Ehe, die ein Missverständnis ist, Verwirrung, Verletzungen, Verdrängung. Kein leichter Stoff, den sich Uli Brée, eigentlich eher ein Komödienautor, für „Ungeschminkt“ (BR, ORF / Bavaria Fiction) ausgedacht hat. Aber so wie er auch in seinen sieben Büchern für den ORF-„Tatort“ nicht auf Wiener Schmäh verzichten mag, so hellen auch die Trauermienen und bösen Blicke in diesem Vier-Personen-Drama immer wieder auf. Das Transgender-Thema wird in dem Film von Dirk Kummer nicht in seiner sozialkritischen Dimension abgehandelt, sondern als psychologisches Drama mit Tiefgang, und der zeit(geist)lose Kern der Geschichte dreht sich darum, inwieweit man als Liebender schwere seelische Verletzungen vergeben und verzeihen kann. Besonders gelungen ist das Wechselspiel zwischen introspektiven Solo-Szenen und emotional intensiven Gesprächspassagen. Es kommt nicht oft vor, dass man Dialoge in einem Fernsehfilm so gebannt verfolgt. Die exzellenten Schauspieler tragen mit dazu bei.
Eine ambitionierte, wenn auch ziemlich pessimistische Serie über Wut und Widerstand der Jugend und ihre Konflikte mit der Eltern-Generation: „Wer wir sind“ (ARD – Viafilm) erzählt von der Radikalisierung einer Aktivistengruppe in Halle an der Saale und dem Schicksal eines jungen Intensivtäters. In der „Erwachsenen-Welt“ stehen eine Polizistin und ihr in der Jugendhilfe arbeitende Mann im Mittelpunkt. Beide sind die Eltern der jugendlichen Hauptfigur Luise. Neben Polizeigewalt, Umweltverschmutzung und Rassismus fließen auch der Krieg in der Ukraine und das Thema jüdisches Leben in Deutschland beiläufig mit ein. Die Serien-Dramaturgie erlaubt differenzierte Figurenzeichnungen, die Spannung bleibt trotz der einen oder anderen Ungereimtheit hoch, und die Besetzung – allen voran Lea Drinda und Florian Geißelmann – ist herausragend. „Wer wir sind“ passt zur düsteren Krisen-Stimmung, handelt aber auch nicht völlig ohne Hoffnung von Emanzipation und Erwachsenwerden.
In der zweiten Staffel von „All You Need“ (Degeto / UFA Fiction) geht es zunächst um das Scherbenaufsammeln. Ob es in den Beziehungen noch etwas zu kitten gibt, muss sich zeigen. Die neuen sechs Folgen sind (noch) besser als die ersten fünf. Nicht nur die Figuren sind reifer, die Charaktere dichter, auch dramaturgisch & filmisch wirkt das Konzept ausgefeilter. Erfrischend sind die Wechsel zwischen langen, psychologisch konzentrierten und handlungsintensiven, flüssig montierten Passagen. Hinzu kommt eine Vielzahl an Schauplätzen. Endlich spürt man, dass Vince, Robby & Co in Berlin leben. Der Fokus der Geschichte(n) liegt diesmal auf Gefühl und Liebe, ausschweifendes Sex- und Partyleben gibt es nur am Rande. Diese Tendenz hat mit dem Alter der Protagonisten zu tun, aber wohl auch mit der Intention, eine Serie machen zu wollen, die nicht nur die queere Community, sondern eben auch ein heterosexuelles Publikum unterhält. Und so wird mehr noch als in der ersten Staffel mit dem Mythos aufgeräumt, schwule Männer hätten nichts als Sex im Kopf. Die Macher taten gut daran, die bislang elf Folgen nicht LGBTIQ-mäßig zu überfrachten und die Serie nicht zum queeren Themenpool zu machen, sollten aber aufpassen, dass „All You Need“ nicht zum gleichgeschlechtlichem „Herzkino“ wird.
„Welches Pronomen hast du eigentlich?“ Charlie macht große Augen, als ihr jemand diesen Satz beiläufig zuwirft. „Bei mir stimmt das, was ich fühle, nicht mit dem überein, was andere Menschen sehen, wenn sie mich sehen.“ So klar, wie es andere im Internet formulieren, hat die Titelfigur von „Becoming Charlie“ (ZDF / U5 Filmproduktion) für sich das Unwohlsein noch nicht auf den Punkt bringen können. In einem Alltag, der immer nur von Geldsorgen bestimmt wird, bleibt wenig Zeit für Psyche und Selbstfindung. Jetzt, mit Anfang 20, begibt sich Charlie auf die Suche nach ihrer sexuellen Identität. Der Weg führt Charlie von der biologischen Frau über das Gefühl, eher ein Mann zu sein, zu der Erkenntnis, sich keinem Geschlecht zugehörig zu fühlen… Die gut geschriebene, klar strukturierte Serie ist nicht nur thematisch auf der Höhe der Zeit, sie besticht auch filmisch, zeigt, wie man mit einfachen Mitteln große ästhetische Wirkung erzielen kann. Die Arbeit der Gewerke ist vorzüglich. Und Lea Drinda ist die perfekte Besetzung, ideale Projektionsfläche, für jedes Geschlecht, jede sexuelle Präferenz. Mit ihr ist Identifikation ein Kinderspiel. Kleine Serie, großer Wurf.