Auch der Rostocker „Polizeiruf“ ist, wenn man so will, auf Identitätssuche. Nach dem Abgang von Charly Hübner, der die Reihe in 24 Filmen als Kommissar „Sascha“ Bukow wesentlich mitgeprägt hat, tritt nun Melly Böwe (Lina Beckmann) ihren Dienst an der Ostsee an. Während sich die Kommissarin in der letzten Episode („Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“) noch als Außenstehende aus persönlichen Gründen einmischte, feiert sie nun ihren offiziellen Arbeitsbeginn im Kommissariat – und trifft auf eine angespannte Situation. Katrin König (Anneke Kim Sarnau), die sich nach langer Zeit des Alleinseins auf eine Beziehung mit Bukow eingelassen hatte, nur um kurz darauf von ihm verlassen zu werden, gibt sich seiner Halbschwester gegenüber distanziert bis unfreundlich. Dass eine Frau Bukows Nachfolgerin und Chefin wird, verunsichert außerdem die Kollegen Thiesler (Josef Heynert) und Pöschel (Andreas Guenther): Sie ziehen sich in froher Erwartung eines Zickenkriegs auf Macho-Gehabe zurück. Und sogar Kommissariatsleiter Röder (Uwe Preuss) macht einen deprimierten Eindruck.
Foto: NDR / Christine Schröder
Insofern geistert der Bukow von Lina Beckmanns Lebenspartner Charly Hübner immer noch durch den Rostocker „Polizeiruf“. Mit Melly Böwe bekommt die Reihe nun aber nicht nur eine annähernde Geschlechter-Parität und einen leichteren und humorvolleren Touch. Sie ändert auch komplett die Richtung, denn Bukow, der Gesetzeshüter mit kriminellem Vater und nicht ganz sauberer Vergangenheit, stand ständig unter Spannung, schien immer nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Die alleinstehende Böwe ist bisher Kontrast pur, eine sympathische, in sich ruhende Frau: „Ich komme in Frieden und bringe Kuchenbrötchen mit“, sagt sie fröhlich trotz eines eher frostigen Empfangs. Backen ist ihre Leidenschaft, und ihr einziges Laster scheint es zu sein, an Kuchen und Keksen aller Art nicht vorbeigehen zu können. Freundlich und konfliktfrei wirken auch die Telefonate mit ihrer Tochter, die nicht mit nach Rostock umgezogen ist. Allerdings wäre es verfrüht, eine Gute-Laune-Kur für die zurecht viel gelobte Krimi-Reihe des NDR zu befürchten. Eine Figur aus dem Friede-Freude-Eierkuchen-Arsenal wäre gerade in Rostock etwas unglaubwürdig. Lina Beckmann, die Böwe so erfrischend geradeaus und warmherzig spielt, macht jedenfalls neugierig darauf, wie es mit der Neuen weitergeht.
Die Weiterentwicklung der Reihen-Figuren drängt sich in der Episode „Daniel A.“ nicht in den Vordergrund, weil Autor Benjamin Hessler und Regisseur Dustin Loose einen packenden Fall mit einer überragenden Hauptfigur erzählen. Daniel (Jonathan Perleth) hatte sich mit Nathalie (Lea Freund), einer Lehrerin, in einer Bar verabredet. Nathalie wird von ihrem Kindheitsfreund Marc Wiegand (Max Krause) verfolgt, mit dem sie nach dem Date mit Daniel auf dem Parkplatz in Streit gerät. Wiegand stößt die junge Frau um, Nathalie kommt bei dem Sturz ums Leben. Dass sich der Täter anschließend scheinbar voller Mitgefühl um Nathalies trauernde Mutter (Katharina Spiering) kümmert, wirkt besonders perfide. Aber auch die Täter-Figur spielt nur eine Nebenrolle. Im Mittelpunkt steht Daniel, der mit der Entscheidung ringt, sich bei der Polizei als Zeuge zu melden. Weniger aus Furcht, als Tatverdächtiger ins Visier genommen zu werden, sondern weil dies sein Outing bedeuten könnte.
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Denn was das Publikum der Polizei neben dem Tathergang vor allem voraus hat, ist das Wissen um Daniels innere Notlage. Vor dem Spiegel verwandelt er sich in die Person zurück, für die ihn fast sein gesamtes Umfeld hält: in Daniela Adamek, die Schwester und Tochter, die ihre schwer gestresste Familie zusammenhält. Der Vater ist alleinstehend, verzweifelt und ebenso überfordert wie die jüngere Schwester Charly (Daria Wolf), die im Alter von 15 Jahren ein Kind bekommen hat. Wenn Daniela (eigentlich Daniel) nach Hause kommt, herrschen Chaos und Geschrei. Vater Frank (Jörg Witte) sieht sich als „Lachnummer“ und sehnt sich nach Normalität. In dieser Situation traut sich Daniel erst recht nicht, sich gegenüber dem Vater zu öffnen. Und da Frank Adamek Polizist ist, erscheint es glaubhaft, dass Daniel unbedingt verhindern will, von der Polizei aufgespürt zu werden.
Jonathan Perleth ist selbst ein trans Mann und stammt überdies aus Rostock – das nennt man wohl eine perfekte, authentische Besetzung. Jedenfalls spielt der junge Schauspieler die Ambivalenzen der Hauptfigur überzeugend und lässt das Publikum an Daniels Notlage teilhaben, ohne dass der Film in einen belehrenden Tonfall oder Betroffenheits-Kitsch abgleiten würde. Dass die Figur lebendig und authentisch wirkt, ist natürlich auch das Verdienst des Drehbuchs und einer feinfühligen Inszenierung. Stark auch, dass der Film nicht in einem abgehobenen Milieu spielt und somit keine entsprechenden Stereotypen bedient. Daniel hat sich ein Refugium in einem alten Camper geschaffen, und Armin (Bernd Hölscher), sein bester Freund und Vertrauter, ist selbst ein trans Mann und betreibt eine Autowerkstatt.
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Gleichzeitig erzählen Hessler und Loose zwar kein Krimi-Whodunit, aber eine spannende Geschichte um Stalking und zurückgewiesene Liebe. Neben dem Versteckspiel mit der Polizei und der Sorge davor, dass sein Vater von der wahren Identität seiner vermeintlichen Tochter erfährt, treibt Daniel die heimliche Liebe zu Hanna (Alina Stiegler) an. Die verheiratete Frau fühlt sich zwar zu ihm hingezogen, hat sich aber für ihren Mann Simon (Maximilian Kraus) entschieden und verleugnet den Kontakt zu Daniel. Und so wird Daniel zum Stalker und dem Täter immer ähnlicher. Auch weil die trans Person im Zentrum nicht in ein simples Gut-Böse-Schema passt, erweist sich diese „Polizeiruf“-Episode als ein Film auf der Höhe der Zeit.