„Das weiße Kaninchen“ ist ein Glücksfall für den Fernsehfilm: ein doppelbödiger, hoch spannender, gesellschaftlich relevanter Cyber-Thriller, sogar noch mit einem möglichen medienpädagogischem Mehrwert. Eine 13jährige droht, gleich doppelt zum Opfer zu werden. Cyber-Grooming, sexuell motivierte Internet-Anbahnung, bietet den thematischen Unterboden für diesen wendungs-, subtext- und bilderreichen Genrefilm, der vielschichtig von der mal perfiden, mal faszinierenden Kraft der Verführung erzählt: Da ist ein Mädchen-Versteher um die 40, da ist ein schöner Jüngling, da ist das Netz mit seinen emotionalen Versprechungen, und da sind die Macher, die nicht weniger zu verführen wissen mit ihrem Film, der bereits einen Preis für sein Drehbuch bekommen hat. Es wird nicht die letzte Ehrung bleiben.
Ein Mitschüler kommt an ein intimes Video von Filmfreak Jakob. Die Hormone laufen Amok. Er weiß, was sich mit dem „Material“ alles machen lässt. Die Kamera, die dem 15-Jährigen die „böse Welt“ auf Distanz hielt, wird Jakobs größter Feind. „Homevideo“ erzählt von medialem Mobbing und einer Form der Mediatisierung von Wirklichkeit, die „wertvolle“ Sozialpraktiken schleichend verändert. Der Film erzählt aus der Opfer-Perspektive. Darüber, was den Jugendlichen im Film fehlt, Empathie, wird der Zuschauer in die Geschichte hineingezogen. Diese Tragödie konsequent subjektiv zu erzählen, nicht vornehmlich einen sozialkritischen Diskurs zu führen und ebenso auf eine genrehafte Zuspitzung zu verzichten – das macht „Homevideo“ eine Spur radikaler als „Wut“ oder „Ihr könnt euch niemals sicher sein“.
In einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt lebt die 14-jährige Becky mit ihren drei noch nicht schulpflichtigen Geschwistern und ihrer alkoholkranken Mutter. Als sie sich verliebt, droht das fragile Familiengefüge auseinanderzubrechen. „Keine Angst“ ist ein Fernsehfilm aus dem Armenhaus Deutschland. Authentische Kiddies, überragende Jungdarsteller und eine Bildsprache zum Niederknien. Ein vermeintlich kleiner ganz großer Film des WDR!
Kopf ohne Körper – ein grausiger Fund in einem Dorf bei Kiel verschlägt Borowski und seine Kollegin Sarah Brandt in den Kieler Drogensumpf. „Borowski und der Himmel über Kiel“ ist ein Film zwischen Rauscherfahrung und Zerstörungswut. Eine Tragödie, die auf leisen Horrorfilm-Sohlen daher schleicht. Ein seltsames Dorf, eine fremde Welt, eine Droge und eine bemitleidenswerte junge Frau, der nicht nur der Kommissar große Sympathie entgegenbringt. Christian Schwochows Ausnahme-„Tatort“ ist ein Film aus einem Guss, angetrieben von einem Erzählfluss, der Wirklichkeit & Wahnvorstellung, Gegenwart & Vergangenheit, das Dynamisch-Überdrehte & Düster-Depressive traumwandlerisch zusammenfließen lässt.
Ein Obdachloser ist in der U-Bahn getötet worden. Drei Jugendliche waren an der Tat beteiligt. Die Eltern sind ratlos. Wie sollen sie mit dem Vorfall umgehen? Vertuschen oder zur Polizei gehen? Und was ist überhaupt genau passiert? Der Fernsehfilm „Totgeschwiegen“ (ZDF / Studio.TV.Film) erzählt von fünf Erwachsenen, die hin- und hergerissen sind zwischen der Liebe zum eigenen Kind und ihrem gesellschaftlichen Gewissen. Und die Kids? Empathie Fehlanzeige, aber sind sie deshalb gleich Monster? Der Zuschauer ist gefordert bei dem Film von Franziska Schlotterer & Ko-Autorin Gwendolyn Bellmann. Es ist unmöglich, sich bei dieser Geschichte entrüstet auf eine moralische Position zurückzuziehen und so zu tun, als ginge einen der Konflikt nichts an. Dafür besitzt die Handlung nicht nur für Eltern ein zu hohes Identifikationspotenzial. Dafür wirken die Charaktere zu sehr wie echte Menschen. Dafür agieren die Schauspieler mit ihren alltagsnahen Dialogen viel zu realistisch. Und dafür sind auch Dramaturgie & Filmsprache zu überzeugend. Eines der Highlights des Jahres!
Vierzig Jahre nach der Verfilmung des Christiane-F.-Buchs „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ erzählen Autorin Annette Hess und Regisseur Philipp Kadelbach die Geschichte ein zweites Mal; aber völlig anders. Im Gegensatz zu dem Film, der 1981 fünf Millionen Zuschauer hatte, steht in der Serie (Amazon, Constantin) nicht allein die von Jana McKinnon eindrucksvoll glaubwürdig verkörperte Titelfigur im Mittelpunkt, sondern ihre gesamte Clique. Auf diese Weise entwickelt sich ein soziales Kaleidoskop, denn der Einstieg in die Drogenkarriere hat unterschiedliche Gründe. Die besondere Faszination der acht Folgen liegt in der Zeitlosigkeit der Umsetzung: Auf den ersten Blick wirken die Bilder wie die späten Siebziger, aber Sprache und Musik klingen nach Gegenwart. Außerdem hat Hess die Serie als düsteres Märchen konzipiert. Kadelbach setzt daher mehrfach optische Kontrapunkte, die der Geschichte einen surrealen Anstrich geben. Einige dieser Bilder brennen sich förmlich ins Gedächtnis ein.
Eine 16-jährige wird von drei Klassenkameraden auf einer Party vergewaltigt. Alkohol & Drogen sind im Spiel; das Mädchen kann sich an nichts erinnern. Einer der drei ist ihr bester Freund. Auch ihre beiden Mütter stehen sich nah… Der bis ins Detail äußerst stimmige ARD-Fernsehfilm „Alles Isy“ (RBB / DRIFE Filmproduktion) erzählt eine unfassbare und gleichsam alltagsnahe Geschichte. Das Geflecht der Beziehungen ist engmaschig, das Dilemma umso größer. Die Perspektiven wechseln ebenso wie die Haltungen. Es geht um Schuld, Sühne, Moral, Verantwortung. Die Vergewaltigung betrifft viele im Film, wirklich betroffen sind aber nur wenige. Dem Zuschauer indes geht diese Geschichte nahe, weil sie zwar viele Zeitgeist-Phänomene anspricht, aber sich nichts aufzwingen lässt. Es ist in erster Linie kein pädagogischer Themenfilm, kein Beratungsfilm für Opfer, und doch ist das gesellschaftliche Phänomen „sexuelle Gewalt“ in diesem dichten, vielschichtigen Drama gut aufgehoben. Als Diskussionsgrundlage vor allem auch für Jugendliche selbst ist dieser frisch & jugendaffin inszenierte TV-Film bestens geeignet. Ein Pflichtprogramm für Schulen?
Der Fernsehfilm „Aufbruch“ nach dem autobiographischen Roman von Ulla Hahn erzählt von einer jungen Frau auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Gegen alle Widerstände entflieht sie dem Arbeitermilieu ihrer Eltern und will Schriftstellerin werden. Ein weiterer Aufbruch ist der in eine neue Zeit, raus aus der Adenauer-Ära und ganz langsam rein in eine liberalere Zeit. Frauenbilder prallen aufeinander, Unwissen und Bildung, Arm und Reich, kölscher Dialekt und Hochdeutsch, die Enge der Herkunft und die Freiheit des Geistes: Beim Gang durch die frühen 60er Jahre nimmt einen die bezaubernde Anna Fischer an die Hand – und am Ende fällt es schwer loszulassen… Ein historisch stimmiger Film, eine Top-Leistung aller Gewerke!
Der 1929er Jahrgang galt als „verlorene Generation“. Die in diesem Jahr Geborenen gehörten zum „Volkssturm“ und mussten die Gräuel des Krieges aus nächster Nähe mitansehen. „Die Freibadclique“ erzählt von diesen Jungs, die viel zu früh ihre Unschuld verloren und das Erlebte nur schwer bewältigen konnten. Der Autor und Regisseur Oliver Storz (1929-2011) kam nie wirklich los von dieser Zeit. Noch drei Jahre vor seinem Tod schrieb er den autobiografischen Roman „Die Freibadclique“. Friedemann Fromm hat ihn ebenso frei wie kongenial verfilmt. Es ist ein Film über den Krieg, über die trügerische Freiheit im Sommer 1945, über das Erwachsenwerden. Hormonstau und Angst ums Überleben gehen Hand in Hand; brutal reißt der Krieg die Fünf aus ihren feuchten Träumen. Eindrucksvoll spielt Fromm mit der Ikonografie des amerikanischen Film Noir, während die Freundschaft in der Ästhetik des Nationalsozialismus ebenso eindrucksvoll ihren Ausdruck findet. Jonathan Berlin und Theo Trebs sind die Gesichter des Films; ihre Physis, ihre Blicke bleiben in Erinnerung.
„Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ (MDR, Degeto, BR / UFA Fiction) schildert ein bislang kaum erzähltes Kapitel der ostdeutschen Geschichte der 1980er Jahre. Der poetisch-kraftvolle Titel wurde von Peter Wensierskis faktenreichem Sachbuch übernommen. Der renommierte Autor Thomas Kirchner hat es für sein Drehbuch frei fiktionalisiert. Um die Umwelt zu retten, mussten die jungen Leute den Staat stürzen, bringt es Kirchner auf den Punkt. Aus einer kirchlichen Umweltgruppe wurden politische Aktivisten. Erfreulicherweise wird auf eine übermäßige Dramatisierung des Stoffs verzichtet. Das Unrecht des Staates schwingt zwar mit, aber im Zentrum stehen die jungen Bürgerrechtler. Emotional getragen wird „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ entsprechend von der jugendlichen Euphorie der Bewegung, der mit großer Sympathie begegnet wird. Indem Kirchner & und Regisseur Andy Fetscher auch den jugendlichen Leichtsinn „authentisch“ nachzeichnen, legt sich die titelgebende Leichtigkeit der Revolution über die Geschichte und lässt so das Naiv-Konventionelle an der Heldengeschichte vergessen. Entsprechend mitreißend spielt Janina Fautz die weibliche Hauptfigur als frech-frische Verkörperung des Prinzip Hoffnung.
Viel Kontakt hatten die 15jährige Alma und ihr Vater Oliver die letzten Jahre nicht. Das ändert sich, als die Mutter bei einem Unfall ums Leben kommt. Das Mädchen zieht zum Vater, der immer noch mit dem Mann zusammenlebt, wegen dem Oliver einst aus seiner Ehe ausbrach. Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Vater und Tochter durch die Ausnahmesituation des plötzlichen Zusammenlebens verändert und wie durch den Lebenspartner des Vaters und den bibelfesten Freund der Tochter das kommunikative Gleichgewicht beeinflusst, ja gestört wird, davon erzählt der ARD-Fernsehfilm „Eine fremde Tochter“ (Aspekt Telefilm, Bavaria Fiction) von Stefan Krohmer nach dem Drehbuch von Daniel Nocke. Beide sezieren mit analytischem Blick die Befindlichkeiten der Protagonisten, die kleinen Machtkämpfe, die freigelegten Aggressionen, und sie zeigen, wie Fronten aufweichen, während andere verhärten. Wie immer geht es bei ihnen um Muster von Kommunikation, um die Fallstricke, die einem Werte- und Moralvorstellungen in den Weg legen können, die Selbstlügen und subjektiven Konstrukte, die Menschen sich bauen, um vor sich selbst bestehen zu können. Und natürlich geht es auch um konkrete (Alltags-)Situationen, um Lebensthemen, die in der Handlung aufscheinen. Da die Geschichte sich über das strukturelle Ganze und nicht über singuläre Narrative erschließt, ist dieser Text weniger eine klassische Kritik als der Versuch einer (Lesarten-)Analyse.
Franz, ein 17jähriger Einzelgänger, hat sich schockverliebt. Ausgerechnet in die hübsche, so tough wirkende Zoe. Alle in Franzens Familie sind begeistert von ihr. Doch dann kommt der sensible junge Mann dem Geheimnis seiner Liebsten rausch- und schmerzhaft auf die Spur…. „Flunkyball“ (ARD / Hager Moss Film) ist ein Coming-of-age-Drama, ein Film über Liebesleid, Süchte, Sehnsüchte und die verschiedenen Arten damit umzugehen. Von Autor-Regisseur Alexander Adolph wird dabei der soziale Blick mitgedacht, beiläufig, aber entscheidend für die Qualität dieses Fernsehfilms. Auch dem Publikum hält der zweifache Grimme-Preisträger den Spiegel vor. Was begrüßt die am Tropf des Kommerzes hängende Gesellschaft mit einem Lächeln und was passt nicht in ihr aufgeräumtes Weltbild? Flunkyball, das titelgebende, als cool geltende Gesellschaftstrinkspiel der Generationen Y und Z steht bei Adolph Pate für diese Gedanken. Ein wilder, feinfühliger, energetischer Film.
Hans-Christian Schmid gelang 1996 mit seinem Debütfilm „Nach fünf im Urwald“ etwas Außergewöhnliches: eine realistische Komödie, in der alles stimmt, die Spaß macht und zugleich höchst wahrhaftig. Der Generationen-Alltag in einer Familie wird witzig, zeitgemäß und klischeefrei darstellt – und er wird gezeigt als die sich ständig wiederholende Geschichte zwischen jung und vermeintlich uralt. Überragend Axel Milberg als Spießer mit doppeltem Boden & Franka Potente, die in ihrer ersten Rolle eine enorme Frische & Authentizität an den Tag legt – was maßgeblich zum großen Erfolg des vermeintlich kleinen Films beitrug.
Zwei dauergemobbte Außenseiter-Teenager können den Spieß endlich mal umdrehen. Das Schicksal und die Segnungen eines „intelligenten“ Hauses bringen sie auf die wahnwitzige Idee, ihren verhassten Schulleiter in seinen eigenen vier Wänden einzuschließen. Die ARD/Arte-Serie „Nackt über Berlin“ (Studio.TV.Film, Sehr Gute Filme) beginnt als köstliche Rache-Komödie, schlägt aber bald ernsthaftere Töne an, ohne an Unterhaltungswert zu verlieren. In clever strukturierten Rückblenden zeigt sich, dass der Gefangene als Ehemann, Familienvater, Schulleiter und Pädagoge versagt hat. „Nackt über Berlin“ vereint all das, was Axel Ranisch und seine Filme so besonders, ja so besonders gut und außergewöhnlich macht: die Sympathie für seine ebenso nerdigen wie liebenswerten Anti-Helden, Außenseiter, die sich nicht verbiegen lassen. Es ist nicht die Geiselnahme, die dieser Serie ihren Sog verleiht: Komödie, Tragikomödie, Thriller, Coming-of-age-Dramedy, ein erschütternder Drama-Plot, eine Freundschaftserzählung, Musical- und Fantasy-Elemente – die Mischung aus Genres, Stimmungen, Bildern macht‘s. Und die Schauspieler, allen voran Lorenzo Germeno, sind große Klasse, und Thorsten Merten als Pauker kriegt sogar eine Eins mit Sternchen.
Die Serie „Parfum“ (ZDF, Netflix / Constantin Film, Moovie) nach Motiven von Patrick Süskinds meisterhaftem Schauerroman erzählt mit dem Mute der ästhetisierten Verzweiflung von den Perversitäten, die der Liebe entspringen, dem Wunsch begehrt zu werden, und entwickelt daraus einen sechsstündigen Alptraum, aus dem es nur selten ein Erwachen gibt. Es geht um das Mysterium der erotischen Anziehung und um die Frage, wie der Geruch die Gefühle manipulieren kann. Vereinsamt, verloren, verzweifelt sind alle in diesem kaputten Mikrokosmos, heute wie gestern. Die Männer schlagen zu, die Frauen nehmen es hin oder sie demütigen ihrerseits das lächerliche starke Geschlecht. Und was erzählen die Bilder? Die Menschen verloren in der Landschaft, gefangen in der Architektur. Selbst die in warme Farben getauchten Rückblenden sind eine Lüge. Düsternis verkommt hier nicht zum Look, Grauen und menschliche Niedertracht werden nicht in glatte Hochglanzbilder verpackt. Der Score ist sensationell, die Besetzung ebenso stimmig wie namhaft. Ein TV-Meisterwerk.
Die Mutter eine hysterische Rabenmutter, der Vater ein sexsüchtiger Egomane. Zwischen kaltherziger Bohème-Libertinage & selbstgefälligen Neureichen-Neurosen muss sich der kleine Robert alias Oskar Roehler seinen Lebensweg durch die 60er und 70er Jahre bahnen. Da ist der alte Nazi-Opa noch die verlässlichste Größe… „Quellen des Lebens“ ist ein nach den Regeln des Entwicklungsromans strukturiertes 169-mimütiges Familienepos, eine subjektiv erzählte Zeitchronik, die Ästheten, Psychologen und Freunde von Alltagsgeschichte mehr überzeugen dürfte als Historiker und Gesellschaftskritiker. Der subjektive Blick Roehlers ist Taktgeber eines Kunstfilm-Melodrams in der Tradition von Douglas Sirk & Fassbinder.
Solo für Mark Waschke: Nach dem grandiosen Ausstieg von Meret Becker und vor dem Einstieg von Corinna Harfouch widmet sich die „Tatort“-Episode „Das Opfer“ (rbb, Degeto / Geißendörfer Pictures) ausgiebig dem sperrigen Typen Robert Karow – seiner ersten Jugend-Liebe, dem Konflikt mit dem Vater und den Gründen für seine obsessive Wahrheitssuche. Gleichzeitig gelingt Drehbuch-Autor Erol Yesilkaya und Regisseur Stefan Schaller ein spannender und vielschichtiger Genre-Mix aus Thriller und tragischem Drama. Ein überragender Waschke verausgabt sich bei dieser Leidenstour Karows, der die Gründe für den Tod seiner Jugendliebe Maik Balthasar herauszufinden sucht. Aber auch die Nebenrollen sind glänzend besetzt (Pietschmann, Tabatabai, Riedle, Eryilmaz). Und: Nicht zum ersten Mal findet der „Tatort“ außergewöhnliche Berlin-Bilder (Kamera: Markus Nestroy).
Bahnen mit gigantischen Graffitis zu überziehen – nichts anderes haben die vier Sprayer in dem preisgekrönten Kinofilm „Wholetrain“ im Sinn. Doch die konkurrierenden Crews, aber auch die Zivilfahnder schlafen nicht. Die Graffiti-Subkultur wird dem Zuschauer extrem physisch näher gebracht. Die Kamera, die Montage, die Züge, der Soundtrack, die Schauspieler, der Rhythmus der Großstadt: Bewegung ist alles in diesem auch emotional mitreißenden Film. Und alles ist Bewegung in diesem urbanen Szene-Porträt mit seinen synästhetischen Wirkungen, das seine Helden nicht zu Großstadt-Cowboys verklärt.
Ein Teenager, der eine Club-Nacht nicht überlebt. Ein junger Mann, der von seinen besten Freunden getötet wird. Ein V-Mann, der ein gefährliches Doppelspiel spielt. Ein Deutscher und ein Ghanaer, die sich beide von einer Millionenerbin Großes erträumen. Vier Geschichten, die von dem „ZEIT“-Podcast „Verbrechen“ (X Filme Creative Pool) inspiriert wurden. Vier Filme, zusammengefasst zu einer bereits preisgekrönten Anthologie-Serie, die sich mehr am Arthouse-Kino orientiert als an den herkömmlichen Krimi-Erzählungen des deutschen Fernsehens. Diese unvergleichliche Produktion, beauftragt von Paramount+, gezeigt von RTL+, kommt den Anthologie-Serien nach Ferdinand von Schirach noch am nächsten, konzeptionell, filmisch jedoch sind die Filme das Radikalste, was es in diesem Genre bisher gab. Es geht mächtig zur Sache, Gewalt dominiert viele Bilder, Dynamik und Bewegung sind formale Prinzipien. Die Schauspieler agieren physisch wie im Genrekino, die Dialoge sind alltagsnah, die Ästhetik wirkt oft rau & rüde, eine Moral oder Message wird nicht vorgegeben. Die Filme bieten jedoch reichlich Diskussions- und Reflexionspotenzial.
Ein 17-Jähriger kann seine homosexuellen Neigungen nicht mehr verleugnen, kann sie aber auch nicht offenbaren. Nach einem Selbstmordversuch bemühen sich die Eltern darum, ihrem Sohn beizustehen, zugleich kämpfen sie mit eigenen Problemen. Ein Familiendrama im Mittelschichts-Milieu, überzeugend von Stefan Schaller inszeniert und stark besetzt: „Aus der Haut“ ist ein neues Werk von Autor Jan Braren, der erneut glaubwürdig über Identitätsfindung und die wechselseitigen Beziehungen in einer Familie erzählt. Doch an die Qualität von „Homevideo“ reicht der Film angesichts einiger schwacher Nebenfiguren nicht heran.