In einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt lebt die 14-jährige Becky mit ihren drei noch nicht schulpflichtigen Geschwistern und ihrer Mutter. Die alkoholkranke Frau schwankt zwischen Apathie, Delirium und Euphorie. Ihren mütterlichen Pflichten kommt sie nur unzulänglich nach, das Jugendamt schaut ihr auf die Finger, also muss Becky Vieles übernehmen: sie versorgt die Kleinen, wenn sie aus der Schule kommt, und sie tut es gern, denn für sie ist die Familie alles. Bis sie Bente kennenlernt. Der Junge, der ganz anders ist als die halbstarken Kiez-Machos, ist in einer ihr völlig fremden Welt zu Hause: Bente wohnt in einem Einfamilienhaus, er hat ein eigenes Zimmer und Eltern, die sich um ihn sorgen. Die beiden verlieben sich. Doch so einfach ist das nicht. Das fragile Familiengefüge droht, auseinander zu brechen. Sogar die Freundschaft zu Beckys „bester Freundin“ steht infrage. Und auch dass der „Macker“ von Melanies Mutter nun bei Beckys Familie eingezogen ist, macht die Situation nicht einfacher. An Beckys Geburtstag kommt es zur Katastrophe (sechsminütige west.art-Magazin-Reportage über den Film: Keine Angst vor Westerwelle).
„Keine Angst“ ist ein Fernsehfilm aus dem Armenhaus Deutschland. Martina Mouchot und Aelrun Goette begeben sich auf ein Terrain, das sonst allenfalls als pittoreskes Elendsmilieu in Fernsehkrimis zu finden ist. Eine Geschichte aus dem Innenleben eines sozialen Brennpunkts heraus zu erzählen und das direkt nach der „Tagesschau“ – das ist schon eine Besonderheit im Krisenjahr 2010. „Mit der hoffnungsvollen Liebesgeschichte wollen wir den Zuschauer verführen, sich auf ein Stück Lebenswirklichkeit einzulassen, das er meist nur in Form von Sensationsmeldungen oder nüchternen Zahlen präsentiert bekommt“, so die Regisseurin. Goette kennt das Milieu: „Ich weiß, wie diese Welt klingt, riecht und schmeckt.“ Und sie kann mit Kindern: Für den Dokumentarfilm „Die Kinder sind tot“ bekam sie den Deutschen Filmpreis und ihr überragendes mehrfach preisgekröntes Spielfilm-Debüt „Unter dem Eis“ erzählt sie von den Seelenqualen eines kleinen Jungen, der seine Freundin getötet hat.
Man spürt, dass hier eine erfahrene Dokumentaristin am Werke ist. Selten sah man Kinder so realistisch beiläufig ins Bild gesetzt. Wenn Becky-Darstellerin Michelle Barthel (eine Entdeckung wie Carolyn Sophia Genzkow, die bereits neben Götz George in „Zivilcourage“ glänzte) mit ihren Filmkindern zugange ist, erkennt man, was Goette meint mit dem „Schutzraum, in dem die Darsteller ihre Grenzen ausloten konnten“, und man ahnt, wie viel Arbeit es im Vorfeld der Dreharbeiten gewesen sein muss, diese Authentizität, diese Nähe zwischen den Kinderdarstellern, zu ermöglichen. „Wir haben viel improvisiert und uns darauf konzentriert, die Zeit vor der Geschichte lebendig werden zu lassen“, betont Goette.
Goette bebildert keine Drehbuchsituationen, sie und Matthias Fleischer erzählen mit der Kamera. Wie da die Heldin mit roten Luftballons durch die graue Betonstadt läuft. Wie Landschaft gezeigt wird: in Totalen, in denen Hochhäuser, Schlote oder Stromleitungen die einzigen Zeichen für Leben sind. Wie die Enge in der Wohnung bebildert wird: jeder ist dem Blick des anderen ausgeliefert, keine Türen, kein Freiraum, keine Individualität, es gibt kein Entkommen. Die Kamera registriert alles, ihr Blick bleibt beobachtend. Allein in Gewaltszenen deutet die Grimme-Preisträgerin nur an – und sucht den Schmerz in den Gesichtern. Immer wieder wird die Totale gesucht, der Zusammenhang zwischen Mensch und Milieu, dem Großen und dem Kleinen. Und so ist „Keine Angst“ ein vermeintlich kleiner ganz großer Film!