„Der Skorpion“, ein Film von Dominik Graf und Günter Schütter, zwei Jahre nach ihrem „Tatort – Frau Bu lacht“ entstanden, war 1997 ein in mehrfacher Hinsicht umstrittener Polizei-Thriller. Vielen Zuschauern war der Film zu düster, zu brutal, zu wenig versöhnlich, zu desillusionierend. Zwanzig Jahre später gilt der Film als eines der visionärsten Werke des zehnfachen Grimme-Preisträgers. Und er zeigt, dass Dominik Graf nicht nur Schöngeist ist, sondern dass er es auch sinnlich mag im Sinne von knallig, effektiv, überladen, sexy, bizarr, vordergründig genrehaft. Mit seinem Mix aus opernhafter Opulenz, Zitaten aus Hoch- (Wagner, Verdi, Michelangelo) und Popkultur (Techno, Splatter-Effekte) wirkt der 105-Minüter wie eine Verneigung vor dem Trivialen. Auch heute noch ein magischer Trip!
LKA-Mann Murot gerät in ein Horror-Dorf – und in höchste Lebensgefahr. Dieser „Tatort“ ist ein Lust-Objekt für Filmfans. Die latente Angst zaubert eine Spielwiese von kafkaesker Bedrohlichkeit. Dr. Mabuse und Edgar Wallace grüßen schwarzweiß aus der Gruft. Tukur glänzt in Film-Noir- & Musical-Ambiente – und Claudia Michelsen als sadistische Dorfärztin kommt mit der Spritze. Dieser „Tatort“ ist aus Raum, Zeit und Krimi-Konvention gefallen. Ein intellektueller Spaß, ein cineastisches Vergnügen, ein Kritiker-Film. Doch hoffentlich nicht nur! Auf jeden Fall ein TV-Stück, das einem lange in Erinnerung bleiben wird.
Gegen die Rache eines Wahnsinnigen und die Methoden bolivianischer Drogenkartelle hat der gute Mensch aus Wiesbaden schlechte Karten. Das Fatale: Murot und jener Mann, der ihn und das BKA demütigen will, waren einst beste Freunde. Leichen pflastern nun den Weg des Heimkehrers: 47 Tote (?) – ein „Tatort“-Rekord, brutal aber ist „Im Schmerz geboren“ nicht wirklich. Es fließt Theaterblut, es werden Western-Tode gestorben, ein antiker Chorleiter warnt („Schickt die Kinder rasch zu Bette“) und das „Prinzip Tarantino“ wird telegen erprobt. Der Film von Florian Schwarz nach dem Buch von Michael Proehl ist mehr als ein Zitaten-Schatzkästlein; er bleibt Krimi, er bleibt spannend und ist dramaturgisch sehr komplex.
Ein Kinofilm weiß mehr als die Kommissare. Offenbar hat ein Autor & reuiger Mörder seine wahre Killer-Geschichte in ein Drehbuch geschrieben, um einen Mord an einer 14-Jährigen, den er nicht begehen wollte, zu rächen. Karow versteht sich als Medium dieses Mannes, der sich nach einer Selbstanzeige erhängt hat. Mit dem cineastischen Verschwörungsthriller „Meta“ begeben sich Yesilkaya & Marka auf einen ebenso wagemutigen wie faszinierenden Trip durch die Zwischen(be)reiche von Film und Wirklichkeit. Sogar de Niros „Taxi Driver“ geistert in Ausschnitten durch diesen meisterlichen „Tatort“, der ebenso blutig endet. Kein Film mit Botschaft, dafür dicht, raffiniert, suggestiv, spannend. Die Bilder besitzen fast Kino-Qualität, die Montage ist aufregend, dringlich, der Score dynamisch pulsierend, und die Duos Becker/Waschke und Rubin/Karow haben noch nie so gut „harmoniert“. Der Film ist keine Kopfgeburt. Alles wird visuell oder emotional vermittelt, sogar die Dialogpassagen sind sinnlich. Der Plot klingt komplizierter als er ist: „Meta“ lässt sich spielend „weggucken“.
Judith ist Berufsanfängerin, sie ist Psychotherapeutin für Kinder, sie ist idealistisch, will neue Wege gehen, doch ihren eigenen hat sie noch nicht gefunden. Behutsam wie die Hauptfigur nähern sich in dem ARD-Fernsehfilm „Weiter als der Ozean“ auch Autorin Beate Langmaack und Regisseurin Isabel Kleefeld den Charakteren, den Konflikten und der therapeutischen Praxis. Offenheit ist das Grundprinzip dieses alltagsnahen Ausnahme-Dramas, das die Grenzen zum ausschnitthaften Realismus des Arthaus-Kinos intelligent auslotet. Der gefühlt dramaturgiefreie Blick auf Kommunikation findet in Rosalie Thomass ihre Meisterin!
Ein Mann fährt ein Kind tot, begeht Fahrerflucht und sucht – weil er die Schuld nicht aushält – Kontakt zur Mutter des Opfers. Es sind die kleinen Dinge, kaum wahrnehmbare Zeichen, oft Auslassungen, über die sich Christian Petzolds Film “Wolfsburg” erzählt. Geredet wird wenig. Man schweigt sich beredt an und über Probleme aus. Petzold: “Die Figuren funktionieren nur, sie sind kalt und leben in sich selbst.“ Nina Hoss und Benno Fürmann sind ideal für diesen Stil. Unsichere Blicke, ein Zögern im Handeln, zwei Fremdkörper in der so übersichtlichen Welt aus Straßen, Feldern und Fabriken. Ein kleines Meisterwerk.
„Alle Anderen“ war 2009 das Kinoereignis für Cinéasten und alle die Eric Rohmer lieben und die Anderen gern beim Liebesspiel zuschauen. Ein Paar um die 30 macht Urlaub auf Sardinien. Maren Ade schaut in alltagsnahen Szenen einer Beziehung bei ihrem Sosein zu. In seiner grausamen Genauigkeit schmerzt der Film beim Zuschauen mitunter regelrecht. Es ist ein faszinierender Schmerz, den zwei großartige Schauspieler zu einem Erlebnis in Sachen Machtverschiebung machen. Eine orientierungslose Generation auf Gefühlssuche.
Ein junger Kunstgutachter wird zum Detektiv; er soll ein verschollenes Gemälde aufspüren. „Am Abend aller Tage“ erzählt von Geldmenschen und Kunstbewahrern, von einem unmoralischen Verführer und einer unschuldigen Geliebten, von Kunst, Liebe und von Leidenschaft: der des Kunstsammlers und der des amourös Liebenden. Als beider Gegner wird der schnöde Mammon ausgemacht. Denn wo die Gesetze des Tauschhandels walten, kann eine idealistische Haltung zur Kunst nur in Bürokratie enden und eine Liebesgeschichte wohl nur im Melodram… Man muss dem Augen-Blick genauso viel Aufmerksamkeit entgegenbringen wie dem in der Erzählung ausgegebenen Ziel – das ist immer so bei Dominik Graf, in dieser feinsinnigen, anspruchsvollen Betrachtung über Liebe und Kunst aber besonders augenfällig. Ein Film gegen Sehgewohnheiten. Ein Film für Auge, Kopf und Seele.
„Das Schweigen der Esel“ (Arte / Superfilm) ist mehr als ein „Landkrimi“. Die Fortsetzung von „Das letzte Problem“ (2019) spielt zwar auf dem Land, im österreichischen Vorarlberg, und es geht um Mord, doch auf den zweiten Blick ist der Film ein im doppelten Sinne fantastisches Werk, weil es mit doppeltem Boden arbeitet, vor Ideen nur so sprudelt und einen mit Lust und Wucht in die Irre führt. Beim Fernsehkrimi-Festival 2023 war dieses raffinierte und kluge Spiel mit dem Zuschauer der große Abräumer: Hauptpreis für Karl Markovics und Sonderpreis als beste Darstellerin an Julia Koch. Markovics hat nicht nur dieses wunderbare Drehbuch geschrieben, er führt eigenwillig und einfallsreich Regie und ist als bärtiger Griesgram Horak auch das Gesicht dieses Films um mysteriöse Morde, die stets in magischer Verbindung stehen mit den Tieren aus dem Märchen der Bremer Stadtmusikanten.
Johann Rettenberger ist Marathonläufer und Bankräuber – beides sehr erfolgreich. Alles muss dieser Mann unter Kontrolle haben. Er ist ein Getriebener und bald ein Gejagter. Kann es für einen solchen Endorphin-Junkie Erlösung geben? „Der Räuber“, ein Kinofilm „nach einer wahren Begebenheit“, wirkt wie eine deutsche Arthaus-Variante des US-Independent-Hits „Drive“, wie ein Ausflug der „Berliner Schule“ ins Genrefach der Melvilleschen Gangster-Ballade. Stimmig die Komposition aus Geschichte und formaler Gestaltung. Fulminant die Montage, agil die Kamera, wuchtig das Sounddesign. Nicht nur ästhetisch meisterlich!
Eine Polizeipsychologin verschlägt es in die thüringische Pampa. Hier herrscht Reizklima. Als Ausgleich philosophiert sie nächtelang mit einer alten Freundin und ihrem neuen Partner bei viel Rotwein über das Leben und die Liebe. Es geht um Verschwinden und Gesuchtwerden in Dominik Grafs „Dreileben“-Episode. Der Film liefert nicht nur ein hoch präzises, spannendes Frauen-Porträt, sondern zeichnet zugleich auch ganz beiläufig ein realistisches Sittenbild einer ostdeutschen Kleinstadt. Da stimmt jedes Motiv, jedes Detail, jeder (Kamera-)Blick.
In „Fremder Feind“ (ARD/WDR / Schiwago Film), der Verfilmung des Romans „Krieg“ von Jochen Rausch, brilliert Ulrich Matthes als Einzelgänger in den winterlichen Alpen. Als ehemaliger Lehrer und Pazifist Arnold Stein wehrt er sich mit zunehmend rabiaten Mitteln gegen einen unbekannten Fremden, während parallel die Vorgeschichte seiner Familie erzählt wird. Sein Sohn Chris zog einst als Soldat in den Krieg in Afghanistan. Die Verzahnung der beiden Zeitebenen sorgt für eine besondere Dynamik und Spannung. Natur und Winter-Landschaft sind Mitspieler in dem visuell herausragenden und (meist) leisen Film, der ganz seinen Bildern und Darstellern vertraut. Rick Ostermann hat das kluge Drehbuch von Hannah Hollinger über den Krieg und seine tragischen Folgen bestechend inszeniert.
Zweieinhalb Tage bleibt die Titelfigur in dem Fernsehfilm „Hanne“ (NDR / Provobis) im Ungewissen. Wird die gerade pensionierte Frau, die immer alles im Griff hat, bald zu einer noch radikaleren Lebensumstellung gezwungen sein? Wie viel Zeit wird ihr im noch bleiben? Erst mal muss sie die Zeit bis zum endgültigen Befund (Leukämie?) rumkriegen. Der Film von Dominik Graf erzählt eine kleine, wahrhaftige Geschichte. Was einem Menschen vor lauter Todesangst nicht so alles einfallen kann! Autorin Beate Langmaack entwickelt aus einer hoch tragischen Ausgangssituation eine Sammlung von Momentaufnahmen. Hanne ist höflich, sympathisch, hält aber gern Distanz zu den Menschen: eine Figur wie geschrieben für Iris Berben und wie gemalt für Dominik Graf. „Hanne“ ist ein Drama ohne übermäßig gespielte & inszenierte Emotionen. Es ist ein Road-Movie ohne Auto, sorgfältig erzählt, mehr Reflexion über das Leben als übers Sterben. Und ein Hauch Nouvelle Vague weht durch die Bilder.
Gelungene Symbiose aus Literatur und Fernsehen: Die Serie „Kafka“ (NDR, WDR, SWR, BR, MDR, RBB, HR, SR, RB, ORF / Superfilm) ist ein herausragendes Beispiel für biografisches Erzählen über eine historische Figur. Eine kenntnis- und lehrreiche, zugleich unterhaltsame und fantasievoll inszenierte Reise durch Leben und Literatur des deutsch-tschechischen Schriftstellers Franz Kafka, der am 3. Juni 1924 im Alter von 40 Jahren starb. Daniel Kehlmann (Drehbuch) und David Schalko (Regie) nähern sich seinem Charakter aus unterschiedlichen Perspektiven in sechs, jeweils unterschiedlich akzentuierten Episoden an. Wunderbar kauzig und verletzlich: Joel Basman in der Titelrolle. Kafkas Biografie und seine eigentümlichen Geschichten werden auch dank der eindrucksvollen Szenenbilder und der Bildgestaltung lebendig. „Kafka“ ist ein erstklassig besetztes (Kross, Ofczarek, Fries, Friedel – oder Altenberger, Eidinger, Hübner in Kleinstrollen), öffentlich-rechtliches Vorzeigeprojekt zur Zeitgeschichte – und weit mehr als ein Vergnügen nur für Literaturkenner.
Mit dem Holocaust-Kammerspiel „Phoenix“ begibt sich Gegenwartserzähler Christian Petzold tief in die Abgründe der deutschen Geschichte. Er erzählt von einer jüdischen Frau, die das Konzentrationslager schwer verletzt und entstellt überlebt hat und sich im Sommer 1945 ins Leben zurückarbeiten muss. Petzold verzichtet auf die gewohnten Authentifizierungsbilder, setzt dafür mit coolen „Vertigo“- und „Dark Passage“-Variationen auf einen Raum, den das Kino geschaffen hat, und auf Nina Hoss, die dem zerstörten Selbst eine Größe verleiht, die über das Einzelschicksal hinausweist. Ein klassisches Film-Noir-Melodram, das dem geistigen Klima der Stunde Null näher kommt als viele sogenannte „Aufarbeitungsfilme“, indem es die gesellschaftlichen Widersprüche jener Jahre auf eine Dreier-Konstellation klug herunterbricht. (Da es gute Kino-Kritiken gibt, verzichtet ttv auf einen eigenen Text.)
Von Meuffels entkommt nur knapp dem Tod und ermittelt bald schon wieder – im Pyjama, den Infusionsständer in der Hand und mit 40° Fieber – in einer Voralpenklinik, die sich als Vorhof zur Hölle entpuppt. Hendrik Handloegtens „Fieber“ ist ein „Polizeiruf 110“, der mit den Konventionen des TV-Krimis bricht wie kaum ein anderer und zugleich hoch spannend ist. Der Zuschauer dringt ins Unterbewusstsein des Helden ein, wird Augenzeuge absurder Halluzinationsszenen, die getragen werden vom furiosen Georg Friedrich. TV-Ereignis!
Autorenfilmer Christian Petzold hat sich mal wieder aufs Fernsehen eingelassen. Nun müssen sich die Zuschauer auf ihn einlassen. Im „Polizeiruf 110 – Kreise“ nimmt sich der Experte für deutsche Landschaften ausnahmsweise mal die Krimilandschaft vor, dieses in Konventionen und Klischees erstarrte Regelwerk, und treibt es in Richtung Beziehungsfilm. Zu den drei G’s, Geld, Glück, Gefühl und deren Unvereinbarkeit, gesellt sich nun in letzter Konsequenz die Gewalt. Von Meuffels hat nach wie vor Sehnsüchte, aber Petzold interpretiert ihn als einen „Umherziehenden im Exil“, der allenfalls eintaucht ins Leben der Anderen. Ein menschlich & ästhetisch spannender Film, der auch als Krimidrama zu faszinieren versteht.
Der „Polizeiruf 110 – Tatorte“ ist der 15. und letzte Film des Münchner Reihenablegers, der dank Matthias Brandt acht Jahre lang ein reflektiertes, fast philosophisches Ermitteln zwischen Crime & Drama kultivierte. Zum dritten Mal hat Christian Petzold TV-Krimi & Arthaus-Drama miteinander versöhnt. Sein auf Distanz bedachtes Erzählen und seine Sicht auf die Realität ist sehr ähnlich jenem phänomenologischen Blick, mit dem Hanns von Meuffels stets kritisch die Wirklichkeit abtastet und eine Haltung zu den Menschen und den Dingen sucht, anstatt vorgefertigte Meinungen zu reproduzieren. Vor lauter Liebesleid kann sich der Kommissar nur schwer auf diesen letzten Fall konzentrieren. Und so schleicht sich Melancholie in Bilder und Töne dieses mehr als würdigen Finales für Brandt und seinen blaublütigen Kommissar. Tonlagenstark – zwischen Helden-Tristesse, selbstreferentiellem Augenzwinkern, Schock & tiefer Tragik – gerät nicht nur das unkonventionelle Finale.
„Seit du da bist“ gelingt etwas, was es im deutschen Fernsehfilm gar nicht und im Kino immer seltener gibt: ein Film, der wie seine Hauptfigur liebevoll vor sich hin mäandert, trotzdem ganz bei sich ist & eine seltsame Magie entwickelt. Als ob sich der Alltagskomik-Strukturalist Jacques Tati und der Beziehungsrealist Eric Rohmer in Wien verabredet hätten… Der Film erzählt von Spielarten der Liebe, von den Spielarten der Kunst, von Musik und Malerei und ihrer Beziehung zum Geld. Er erzählt – wenn man so will – auch von Spielarten des Zusammenseins, der Freundschaft zwischen Erwachsenen und Kindern, von einem guten „Vater“ und einem weniger guten. Michael Hofmann zeigt, lässt reden, die Bilder laufen, er erzählt im besten Kino-Sinne. Das ist mal ironisch, unheimlich komisch, mal melancholisch, traurig, aber stets lebensbejahend – und die Schauspieler sind allesamt zum Niederknien.
„Borowski und das Fest des Nordens“ bietet keine klassische Tätersuche, sondern die Tragödie eines unbeherrschten Mannes, den die Trennung von seinen Kindern aus der Bahn geworfen hat und der sich in eine immer aussichtslosere Lage bringt. Misel Maticevic gibt hier eine absolut preiswürdige Vorstellung, in seiner enormen physischen Präsenz ebenso wie in seinem präzisen Spiel. Kommissar Borowski scheint auf eine metaphysische Art mit der Täterfigur verbunden zu sein. Regisseur Jan Bonny inszeniert rau, sprunghaft, ungeheuer intensiv. Und bezieht die triste soziale Realität Kiels ebenso mit ein wie den rauschhaften Ausnahmezustand während der Kieler Woche. In dieser herausragenden, ungeschönten „Tatort“-Folge erfasst der Gender-Krieg auch das Ermittler-Gespann. Es kracht im letzten Film mit Sibel Kekilli gewaltig, der allerdings gar nicht als Abschieds-Folge geplant war.