Hanne

Iris Berben, Beate Langmaack, Dominik Graf. Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Foto: NDR / Julia von Vietinghoff
Foto Rainer Tittelbach

Zweieinhalb Tage bleibt die Titelfigur in dem Fernsehfilm „Hanne“ (NDR / Provobis) im Ungewissen. Wird die gerade pensionierte Frau, die immer alles im Griff hat, bald zu einer noch radikaleren Lebensumstellung gezwungen sein? Wie viel Zeit wird ihr im noch bleiben? Erst mal muss sie die Zeit bis zum endgültigen Befund (Leukämie?) rumkriegen. Der Film von Dominik Graf erzählt eine kleine, wahrhaftige Geschichte. Was einem Menschen vor lauter Todesangst nicht so alles einfallen kann! Autorin Beate Langmaack entwickelt aus einer hoch tragischen Ausgangssituation eine Sammlung von Momentaufnahmen. Hanne ist höflich, sympathisch, hält aber gern Distanz zu den Menschen: eine Figur wie geschrieben für Iris Berben und wie gemalt für Dominik Graf. „Hanne“ ist ein Drama ohne übermäßig gespielte & inszenierte Emotionen. Es ist ein Road-Movie ohne Auto, sorgfältig erzählt, mehr Reflexion über das Leben als übers Sterben. Und ein Hauch Nouvelle Vague weht durch die Bilder.

Hanne (Iris Berben) war jahrelang die rechte Hand der Geschäftsleitung. Am Tag ihrer Verabschiedung in den Ruhestand kommt ihr Chef bei einem Unfall ums Leben, also muss die Vorstandssekretärin mit ihrer letzten Amtshandlung die Situation retten – und vor der Belegschaft ihre Abschiedsrede gleich selber halten. Wie sie ihren Ruhestand gestalten wird, weiß sie noch nicht. Das „Ich bin pensioniert“ kommt ihr noch nicht sonderlich glaubhaft über die Lippen. Erst mal die Wohnung renovieren. Der Maler ist bestellt. Und auch für die eigene „Renovierung“ ist nun endlich Zeit. Noch vor dem Wochenende will sie sich in einer Klinik die Krampfadern beseitigen lassen. Doch daraus wird erst mal nichts. Der Arzt (Mohamed Achour) druckst herum, spricht von „Auffälligkeiten“ im Blutbild und versteckt sich hinter Medizinerlatein. „Wovon sprechen Sie?“, will Hanne wissen. „Von Blutkrebs“. Da muss die Frau, die bisher immer alles im Griff hatte, erst mal schlucken. Es sei ein erster Verdacht, der endgültige Befund liege erst am Montag vor. Vier Minuten Zeit nimmt sich der Arzt für das Gespräch. „Recherchieren Sie auf gar keinen Fall im Internet“, bittet er Hanne inständig. Seiner Berührung weicht sie aus. „So schnell wird nicht gestorben.“ Wie tröstlich.

HanneFoto: NDR / Julia von Vietinghoff
Zufällig lernt Hanne (Iris Berben) die lebenslustige Uli (Petra Kleinert) kennen. Sie trinken, sie lachen, sie tanzen – und am nächsten Morgen wartet ein Kater auf Hanne.

Zweieinhalb Tage bleibt die Titelfigur in dem Fernsehfilm „Hanne“ im Ungewissen. Wird die gerade pensionierte Frau künftig vielleicht noch zu einer radikaleren Lebensumstellung gezwungen sein? Wie viel Zeit wird ihr im schlimmsten Fall noch bleiben? Jetzt aber steht erst mal eine andere Frage an: Wie soll sie die Zeit bis Montag herumkriegen? Kein Partner wartet, ihr Sohn hat nie Zeit, und eine Freundin, der sie sich offenbaren würde, fällt ihr auch nicht ein. Diese Frau hat ein Leben lang alles mit sich selbst ausgemacht. „Sie sollten versuchen, sich abzulenken“, hat ihr der Arzt geraten. Als erstes nimmt sie sich ein Hotel, dann geht sie in ein Restaurant, freundet sich mit einer unkomplizierten Dessous-Verkäuferin (Petra Kleinert) an, der sie mehr von sich anvertraut als wahrscheinlich jedem anderen Menschen in den letzten Jahren. Hanne lässt sich treiben. Sie trinkt, sie tanzt, sie lacht, sie verscheucht ihren Kater, sie geht in ein Schwimmbad und versucht sich seit Jahren mal wieder am Kraulen. Es klappt nicht schlecht. Und wie ist es mit Sex? Der Nachmittag, der Abend und die Nacht zum Sonntag gehören einer Liebe aus der Studentenzeit (Herbert Knaup). Am Morgen danach taucht ihr Sohn (Trystan Pütter) auf, teilt ihr freudestrahlend mit, dass er Vater wird. Da erübrigt sich der Gedanke an ein Gespräch mit ihm über ihre Probleme. Der Rest des Sonntags zerfließt zunächst in Tränen. Der Himmel weint – und die Heldin stapft tapfer durch die ländliche Einöde, bevor sie wieder etwas Mut fasst und in der Küche des Hotels zum ersten Mal in ihrem Leben mithilfe der Rezeptionistin (Sophie Lutz) ein Huhn rupft. Eine Kindbettsuppe hat sich ihr Sohn gewünscht. Bis zur Geburt ist es noch ein halbes Jahr, aber die verantwortungsbewusste Ex-Sekretärin fängt aus gutem Grund lieber schon mal damit an.

HanneFoto: NDR / Volker Roloff
Trübsal blasen ist nicht alles für die Hauptfigur. In Kapitel 7 „Einen Verflossenen wiedertreffen“ und Kapitel 8 „Eine Liebesnacht souverän absolvieren“ besucht sie ihre Liebe aus Studentenzeiten. Und dieser Heiner (Herbert Knaup) verwechselt Hanne (Iris Berben) mit Johanne: „Du warst wie ein Vulkan, man wusste nie, wann es kracht.“

„Hanne“ erzählt eine kleine, sehr wahrhaftige Geschichte. Was einem Menschen vor lauter Todesangst nicht so alles einfallen kann. In einer Kantine mit einem Verflossenen flirten, hinter dem Steuerrad eines Lasters sitzen, warmes Bier trinken, ein kopfloses Huhn durch die Gegend tragen oder sich auf eine äußerst merkwürdige Familie einlassen. Drehbuchautorin Beate Langmaack („Blaubeerblau“) entwickelt aus einer hoch tragischen Ausgangssituation eine Sammlung von Momentaufnahmen, in denen sich für den Zuschauer das Leben dieser Hanne verdichtet. Wir sehen einer Frau bei ihrem nicht ganz gewöhnlichen Alltag zu. Wir sehen sie in der Gegenwart und erfahren einiges aus ihrer Vergangenheit. Dabei wird in diesem Film von Dominik Graf gar nicht so viel geredet, wie man bei einer solchen Geschichte annehmen könnte. Als Zuschauer werden wir vertraut mit Hanne, ohne ihr zu nahe zu kommen. Das liegt auch an ihr: Diese Frau ist höflich, immer hilfsbereit, aber sie hält auch Distanz. Eine Figur wie geschrieben für Iris Berben, die im Zuge ihrer Filme mit Matti Geschonneck in den letzten Jahren immer besser geworden ist und in dieser Arte/NDR-Koproduktion eine echte Glanzleistung abliefert. Eine Figur auch wie gemalt für Dominik Graf. „Hanne“ ist ein Drama ohne übermäßig gespielte und inszenierte Emotionen. Es ist ein Road-Movie ohne Auto. Ein sorgfältig erzählter Film, mehr Reflexion über das Leben als über das Sterben. Todesboten werden hingegen ästhetisch assoziativ in die filmische Erzählung eingebunden: an Amy Winehouse wird erinnert, von „Sterbebett“ spricht eine alte Frau, die Hanne ein totes Huhn schenkt, der Mann der Dessous-Verkäuferin beginnt mit einem Witz über ein Skelett, das auf einem Grabstein sitzt, und sogar Hanne zitiert in ihrer Abschiedsrede einen Spruch, der auf keiner Trauerfeier fehlen darf: „Man geht niemals so ganz.“

Dominik Graf betont stets, dass er keinen Unterschied zwischen Kino- und Fernsehfilmen mache. Wie erzählt werde, das entscheide vor allem der Stoff, die Geschichte. „Hanne“ ist kein Genrefilm, sondern gehört zu der anderen großen Gattung von Filmen, denen sich Polizeifilm-Fan Graf immer mal wieder gern zuwendet: intellektuelle verspielte Beziehungsdramen („Die Freunde der Freunde“, „Dreileben – Komm mir nicht nach“), sensible Frauenporträts wie in seiner Melodram-Trilogie („Deine besten Jahre“, „Bittere Unschuld“, „Kalter Frühling“) oder auch schon mal vermeintlich historisch wie in „Die geliebten Schwestern“. Einen so situativ hingetuschten, wenig ausformulierten Film, der zwar etwas Schweres mit sich trägt, doch eine gewisse Leichtigkeit nur selten aufgibt, hat man von dem neunfachen Grimme-Preisträger bisher noch nicht gesehen. Der Film erinnert ein wenig an die Anfänge der Nouvelle Vague und auch an andere Realismus-Konzepte aus der Filmgeschichte. Menschen, die sich gehen lassen, die sich im Rhythmus der Großstadt oder den Grenzen der Landschaft bewegen. Bei aller formaler Strenge wirkt der Film weniger „verkopft“ als andere Graf-Filme. Es gibt aber auch keine falsche Gefühligkeit. Es hat sich also durchaus gelohnt, dass Graf einmal einen Film gemacht hat ohne einen seiner Hausautoren (Basedow, Schütter, Schwamm, Busch). Und dass es ausnahmsweise mal eine Frau ist, war ohnehin bei diesem Stoff die richtige Wahl.

HanneFoto: NDR / Volker Roloff
Ein Bild, das sich einschreiben wird in die Erinnerung des Zuschauers. Es ist mehr zu sehen als eine verzweifelte Frau in trostloser Landschaft. Das Spiel mit subjektiven Assoziationen ist frei: völlig absurd, aber mir kam der rote Zwerg (?) aus „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ in den Sinn. Weniger absurd: Michelangelo Antonionis „Die rote Wüste“

Regisseur Dominik Graf über die Ursituation, die „Hanne“ erzählt
„Wir kennen ja alle solche Phasen im Leben, in denen sich plötzlich, innerhalb von zwei, drei Tagen etwas zusammenballt, auch Zufälle eine Rolle spielen. Das hat auch oft mit Personen zu tun, die plötzlich anrufen, auf die man nun gar nicht gefasst war. Wie man dann auf einer Strecke von zwei, drei Tagen auf einmal das Gefühl hat, man kann jetzt eine Summe ziehen unter seinem Leben. Das Ganze ist wie eine Reise. So habe ich das zumindest versucht zu inszenieren.“

Ganz besonders dürfte für „Hanne“ Agnès Vardas‘ „Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ Pate gestanden haben. Der Film der unlängst verstorbenen Regisseurin erzählt einen fast identischen Plot auf filmästhetisch ähnliche Weise. Bei dem französischen Kinofilm aus dem Jahre 1961 muss die möglicherweise dem Tod geweihte Frau allerdings nur zwei Stunden auf die endgültige Diagnose warten. Außerdem ist Cléo jung, sprunghaft, und ihr Pflaster ist Paris. Hanne hingegen hat ihr Leben gelebt, sie zieht in den Stunden Bilanz, in der Hoffnung, dass es nur eine Zwischenbilanz sein mag. Beide Filme verwenden Kapitel: Bei Varda erscheinen sie als Inserts, bei Graf/Langmaack werden sie eingesprochen, vorzugsweise vom Regisseur selbst. Das unterstreicht von vornherein den episodischen Charakter beider Filme und verleiht vor allem „Hanne“ durch die Kapitelüberschriften (u.a. „einem Arzt zuhören“, „Freundinnen werden“, „einen Verflossenen wiedertreffen“, „richtig alt werden“, „eine Suppe auslöffeln“) eine verbindliche Strukturierung, die die fürs deutsche Fernsehen ungewöhnliche Narration des Films nicht besitzt. Eine gewisse Spannung auf den Ausgang gibt es natürlich. Aber der ist wie schon bei „Cléo“ auch bei „Hanne“ eher zweitrangig. Nach einer wunderbaren Montage bleibt dem Zuschauer am Ende ein Bild – ein zaghaftes Lächeln. (Text-Stand: 9.5.2019)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

Arte, NDR

Mit Iris Berben, Petra Kleinert, Herbert Knaup, Mohamed Achour, Sophie Lutz, Trystan Pütter, Luise Aschenbrenner, Sönke Möhring, Jörg Gudzuhn, Oliver Reinhard, Brian Völkner, Jutta Wachowiak, Eva Kryll

Kamera: Michael Wiesweg; Hendrik A. Kley

Szenenbild: Claus Jürgen Pfeiffer

Kostüm: Barbara Grupp

Schnitt: Claudia Wolscht

Redaktion: Sabine Holtgreve, Christian Granderath (beide NDR), Andreas Schreitmüller (Arte)

Produktionsfirma: Provobis

Produktion: Jens C. Susa

Drehbuch: Beate Langmaack

Regie: Dominik Graf

Quote: ARD: 3,64 Mio. Zuschauer (12,6% MA)

EA: 07.06.2019 20:15 Uhr | Arte

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach