Zweieinhalb Tage bleibt die Titelfigur in dem Fernsehfilm „Hanne“ (NDR / Provobis) im Ungewissen. Wird die gerade pensionierte Frau, die immer alles im Griff hat, bald zu einer noch radikaleren Lebensumstellung gezwungen sein? Wie viel Zeit wird ihr im noch bleiben? Erst mal muss sie die Zeit bis zum endgültigen Befund (Leukämie?) rumkriegen. Der Film von Dominik Graf erzählt eine kleine, wahrhaftige Geschichte. Was einem Menschen vor lauter Todesangst nicht so alles einfallen kann! Autorin Beate Langmaack entwickelt aus einer hoch tragischen Ausgangssituation eine Sammlung von Momentaufnahmen. Hanne ist höflich, sympathisch, hält aber gern Distanz zu den Menschen: eine Figur wie geschrieben für Iris Berben und wie gemalt für Dominik Graf. „Hanne“ ist ein Drama ohne übermäßig gespielte & inszenierte Emotionen. Es ist ein Road-Movie ohne Auto, sorgfältig erzählt, mehr Reflexion über das Leben als übers Sterben. Und ein Hauch Nouvelle Vague weht durch die Bilder.
Mit hohem Erzähltempo macht der neue Berliner „Tatort“ mit Meret Becker und Mark Waschke seine künstlerische Aufwartung. 13 Minuten, 14 Spielorte, 12 Figuren – ein fulminanter Einstieg, der ganz auf die Wirkmacht seiner spektakulären Bilder vertraut. Auch über die gesamten 90 Minuten ist „Das Muli“ von den Grimme-Preisträgern Stefan Kolditz und Stephan Wagner fulminant. Und dieses „Roadmovie durch die Abgründe der nächtlichen Stadt“ lockt neben dem Hauptfall mit einem horizontalen Polizeifilm-Versprechen, das sich erst nach vier Episoden einlösen wird. Hauptstadt-„Tatort“ auf sensationellem Niveau!
Wandern als Vater-Sohn-Kur: „12 Tage Sommer“ (BR / Hager Moss) ist ein feines, warmherziges Drama und ein beinahe märchenhaftes Roadmovie, das allerdings nicht über Straßen, sondern durch die schöne oberbayerische Landschaft führt. Marcel (Mehdi Nebbou) und sein 15-jähriger Sohn Felix (Yoran Leicher) laufen von München zu Fuß bis zum Gipfel der Zugspitze – in Begleitung eines eigenwilligen Packesels. Unterwegs begegnen ihnen prägnante Typen, die Vater und Sohn dabei helfen, zu sich selbst und wieder zueinander zu finden. Das charmante Drehbuch von Jacob Fuhry hat Grimme-Preisträger Dirk Kummer („Zuckersand“) ohne volkstümelnde Klischees und rührseligen Kitsch inszeniert.
„Die letzte Sau“ (ZDF / a little. film production) ist eine sehenswerte Tragikomödie mit Golo Euler als Kleinbauer, der sein Dorf verlässt, mit Moped und Schwein im Beiwagen durchs Land reist und durch seine Befreiungsaktionen von Masttieren ungewollt eine Revolution auslöst. Das ZDF zeigt das Road-Movie im Rahmen seiner Reihe „Shooting Stars“. Trotz einer Freigabe ab 12 wäre eine Ausstrahlung um 20.15 Uhr angesichts einiger drastischer Tierszenen und des ausgeprägten Dialekts der Mitwirkenden wohl nicht in Frage gekommen, aber den Sendetermin 23.45 Uhr hat der Film nicht verdient; selbst wenn schwarzer Humor nicht jedermanns Sache ist. Allein die groteske Verkettung von Missgeschicken zu Beginn ist äußerst amüsant, und außerdem erzählt Aron Lehmann in seiner dritten Regiearbeit nebenbei eine waschechte Romanze. Und gespielt ist das alles ohnehin vorzüglich.
Sie sind jung, klauen Autos, schnupfen Koks und wissen nicht, was morgen sein wird. Als nach dem Tod eines Gruppenmitglieds der Neue die Gruppe aufmischt und auch noch in die Freundin vom Boss verguckt, eskaliert das vermeintliche Nur-Spaßhaben und endet in Gewalt. Mark Schlichters preisgekrönter Debütfilm, produziert vom „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF, kostete schlappe 900.000 Mark und schaffte sogar den Weg ins Kino. Für Christiane Paul war der Film, der wie eine Hommage an Scorseses „Hexenkessel“ oder auch an die Asphaltwestern von Abel Ferrara aussieht, der Beginn einer einzigartigen Karriere.
„Fleisch“ war 1979 ein echter Fernseh-Aufreger. Die Ärzteschafft wetterte, die Zuschauer waren geschockt von Rainer Erlers Organhandel-Thriller. Die Horrorvision ausgeschlachteter Menschen wurde wenig später von der Realität eingeholt. Was Story & Plot angeht, war Erler, ein Visionär, auch als Pionier des sozialkritischen Fernsehfilms hatte der Autor-Regisseur, der am 26. August 2013 seinen 80. Geburtstag feiert, große Verdienste. Dramaturgisch und ästhetisch bewegte sich Erler indes zumeist auf allzu mainstreamig ausgetretenen Pfaden. „Konsalik + Simmel + Wissenschaft = Erler“, schrieb ein Kritiker.
Zurück zu den ostdeutschen Wurzeln: Im ARD-Impro-Roadmovie „Für immer Sommer 90“ (Florida Film) wird ein Frankfurter Investmentbanker anonym einer Vergewaltigung vor 30 Jahren bezichtigt. Um den Vorwürfen auf den Grund zu gehen, reist er zurück in die mecklenburgische Heimat und trifft unterwegs die verstreut lebenden Freundinnen und Freunde seiner Jugend. Vordergründig geht es um die Frage, was auf der Party nach dem Finale der Fußball-WM 1990 geschah. Im Kern erzählt der Film von den Brüchen im Leben der jungen Generation, die noch in der DDR aufwuchs und sich als Erwachsene im wiedervereinigten, kapitalistischen Deutschland zurecht finden musste. Prägnante Figuren, starke Besetzung & ein reduziertes Konzept, welches – vielleicht auch Corona-notgedrungen – zu den Anfängen von Jan Georg Schüttes Improvisations-Filmen zurückführt.
1984, drei Freunde auf dem Sprung von der DDR in den Westen. Sie haben nur eine Chance: über Prag und Budapest nach Belgrad und dort in die Botschaft der Bundesrepublik. Der Film hält sich nicht lange mit dem Zustand der DDR auf. „Go West“ erzählt die Geschichte einer Flucht, ist Abenteuerfilm, Road-Movie, Familien-Freundschafts-Drama und Action-Film zugleich – alles wohldosiert und amerikanisch perfekt zu einem packenden TV-Movie verschmolzen, dessen 180 Minuten so gut wie keine dramaturgischen Hänger kennen. Ein Weg voller Kinomythen. Straffes Buch, tolle Schauspieler, wirkungsvolle Inszenierung.
Sie hatten dieselben Träume. Die drei Helden in Horst Sczerbas “Halt mich fest!” kommen mit Mitte 30 noch einmal auf ihre Visionen vom Glück zurück. Einst waren sie “Lovely Rita and her Johnny Guitars”, heute leben sie angepasst ihren kleinbürgerlichen Alltag. Der Selbst- mord ihres Trompeters bringt das Trio wieder zusammen. In einer feuchtfröhlichen Nacht entflammt alte Liebe, aber auch alte Lebensgeister erwachen… Liefers, Kremp und Loos spielen die Hauptrollen in diesem von Musik und Lebensgefühl getragenen Road-Movie, das angenehm unspektakulär daher kommt, sich nicht ergeht in postpubertären Rock’n’Roller-Posen oder wohlfeilen Nostalgie-Effekten – und bisher noch nie wiederholt wurde!
Erneut zeigt das ZDF, welches Potenzial der Sonntagssendeplatz jenseits der Herzschmerz-Welten Rosamunde Pilchers zu bieten hat: „Herzstolpern“ (ndF) bettet die Romanze eines jungen Paars mit Down-Syndrom in ein Roadmovie voller Abenteuer. Darüber hinaus erzählt der Zweiteiler noch einige andere Geschichten (Buch: Anja Flade-Kruse, Claudia Kaufmann), die ihrerseits jeweils gleichfalls abendfüllend wären, sodass die 180 Minuten eher zu wenig als zu viel sind; es geht unter anderem um verdrängte Trauer, eine alte Rechnung, den Verlust einer einstigen Innigkeit sowie um den Beginn von etwas Neuem. Abzüge gibt es in der B-Note, weil sich die Umsetzung mit ihren Postkartenbildern und den vielen emotionalen Popsongs allzu sehr am „Herzkino“-Schema orientiert, aber angesichts der Leistung von Juliane Siebecke und Benjamin Raue lässt sich darüber hinwegsehen.
Ein Headhunter bekommt seine letzte Chance. Erwartungsgemäß wird er sie nicht nutzen (können). Denn dieser von Ulrich Tukur in Bastian Günthers „Houston“ glänzend verkörperte Anzugträger, der sich mit Mantras eigene Stärke suggerieren muss, spielt nicht in derselben Liga, wie der CEO, den er abwerben soll. Oder ist dieser vielleicht sogar nur ein Phantom, das Alter Ego des Helden, der sich – geradezu süchtig nach gesellschaftlicher Anerkennung – dem System verschreibt? Ein Autorenfilm im besten Sinne – real und surreal, analytisch und melancholisch, (bild)gewaltig und lakonisch, konzentriert, sinnlich und wenig verkopft!
Eine Sterbehilfe-Komödie? Kann das gut gehen? Und ob! „Now or Never“ (SWR – Zum Goldenen Lamm) ist ein schräges Roadmovie voller liebenswerter Figuren und ein Festival des schwarzen Humors. Auch wenn nicht jeder Spruch super-originell ist, ist Belo Schwarz (Drehbuch) und Gerd Schneider (Regie) eine temporeiche, unterhaltsame Tragikomödie um existenzielle Fragen gelungen. Die junge Rebecca (Tinka Fürst), die an einem unheilbaren Hirntumor leidet, überredet ihren übellaunigen Sterbehelfer Henry (Michael Pink) zu einer letzten Fahrt zu einem Wunderheiler in den Schweizer Alpen. Verfolgt werden sie von Henrys Kollege Benno und Rebeccas Ehemann Daniel, der verhindern will, dass seine Frau freiwillig aus dem Leben scheidet. Als Sidekicks kreuzen zahlreiche Elvis-Doubles den Weg des Quartetts. Logisch, dass seine Musik hier ebenfalls eine Rolle spielt.
Drei Außenseiter und ein ungewöhnliches Fortbewegungsmittel: Manchmal braucht es tatsächlich nicht mehr, um eine kinotaugliche Sommerkomödie zu erzählen, die enorm viel gute Laune verbreitet. Marc Schlegels Roadmovie „Sommer auf drei Rädern“ (SWR, Arte, ORF / Giganten) ist eine ungemein sympathische Komödie über ein Trio, das auf wundersame Weise das Glück findet, als es aus völlig unterschiedlichen Gründen gemeinsam von Stuttgart in einem Mopedauto Richtung Bodensee fährt. Die Dialoge, die skurrilen Begegnungen, die feine Ironie, die Zuneigung selbst zu den weniger sympathischen Figuren, die vielen originellen Einfälle, die verblüffenden Inszenierungsideen, das tolle Trio im Zentrum, die namhaften Gäste, die rockige Musik: Besser geht’s kaum. Und weil der Motor von allem letztlich die Liebe ist, entpuppt sich der Film am Ende als Liebesgeschichte.
Ein junges Mädchen stirbt mutmaßlich bei einem Verkehrsunfall, doch die Fahrerflucht endet im Stau. Kommissar Lannert (die Ruhe selbst: Richy Müller) ermittelt in einer langen Blechschlange mitten in Stuttgart. Dietrich Brüggemanns („Kreuzweg“) „Tatort“-Debüt „Stau“ ist eine originelle Idee mit großen cineastischen Vorbildern (Godard, Tati etc.). Aber auch im „kleinen“ Fernsehen funktioniert das wunderbar: Dank eines Panoptikums aus komischen & garstigen Figuren und einer beweglichen Inszenierung trotz des Stillstands auf der Straße. Die Spannung bleibt in diesem Ensemble-Film auch ohne Nervenkitzel hoch.
„Zwei Weihnachtsmänner“ bietet Christoph Maria Herbst und Bastian Pastewka wunderbare Voraussetzungen für ein komödiantisches Feuerwerk. Der spielt einen Experten für Unternehmensrationalisierungen („Sie feuern, wir feiern“), der andere einen völlig unbegabten Handelsvertreter, einen Verkäufer für Badezubehör. Tobi Baumanns Comedy-Road-Movie der Extraklasse nach dem Drehbuch von Tommy Jaud („Vollidiot“) ist alle Jahre wieder ein weihnachtlicher Lachschlager. 180 Minuten Wortwitz & Slapstick: „physical comedy“!
Markige Männerworte, zwei kernige Kerle, viel Staub und der kräftige Sound der Motoren – so buhlte zwischen 1980 und 1997 die Serie „Auf Achse“ um die Aufmerksamkeit der vornehmlich männlichen Zielgruppe. Zwei deutsche Fernfahrer auf ihren holprigen Wegen in die weite Welt. Im Zentrum der Serie stand der Alltag der Trucker. Die Authentizität der kleinen Gesten war den Machern wichtiger als ausgefeilte Krimigeschichten. Die Plots waren wenig komplex, die Bücher häufig unfertig, dafür war „Auf Achse“ offen für Improvisation. Manfred Krug schenkte der Kultserie lange Zeit Gesicht und Statur. Noch heute imponiert der Realismus dieser Road-Movie-Serie, die das Phänomen „Fern-Sehen“ wörtlich nimmt.
Robert Stadlober ist „Der Mann der über Autos sprang“, ein abgängiger Psychiatriepatient, der zu Fuß von Berlin auf die schwäbische Alb pilgert, um mit dieser Energie, den Vater seines besten Freundes zu heilen. Zwei weibliche Jünger und ein frustrierter Polizist folgen jenem charismatischen Blondschopf mit hellseherischen Fähigkeiten. Der Weg ist das Ziel in diesem metaphorisch aufgeladenen Märchen – auch dramaturgisch. Entschleunigte Miniaturen über die romantische Suche nach Herz, Mut & Verstand bestimmen die reduzierte Handlung.
Marvin Krens verrückter Nacht-Trip durch Wien: In „Der weiße Kobold“ (ORF, BR – Lotus-Film) erlebt ein deutscher Speditions-Disponent (Frederick Lau) ein surreales Abenteuer an der Seite einer furcht- und ruhelosen Künstleragentin (Maya Unger). Die Thriller-Komödie ist eine Wiener Reminiszenz an den New-York-Klassiker „Die Zeit nach Mitternacht“ (OT: „After Hours“) von Martin Scorsese – ein visuelles und musikalisches Vergnügen unter reger Beteiligung von Krens Freunden und Familie, gedacht auch als freimütige Promotion für den Wiener Künstler Martin Grandits. Der Humor ist speziell: selbstreferenziell, albern, absurd. Und die wienerischen Dialoge sind für deutsche Ohren bisweilen eine Herausforderung.
Von der fatalen Begegnung zweier einsamer Seelen erzählt Nina Vukovic‘ Debütfilm „Detour“ (ZDF). Eine junge Frau und der siebenjährige Sohn ihres Geliebten geraten auf ihrem Weg nach Berlin an einen Einzelgänger, der von der Liebe nur etwas aus Schlagern weiß. Das etwas vorhersehbare Vier-Personen-Stück lebt von einer Art fiebrigen Spannung und einer Bildsprache voller Metaphern und Andeutungen. Ein Krimi-Drama, das Thriller, Roadmovie und Kammerspiel zugleich ist, Vukovic mischt auch ein wenig Horror hinein.
Familie, Liebe, Beruf, Selbstfindung, individuelle Freiheit – zwischen diesen Themen versuchen die weiblichen Hauptfiguren der ARD-Komödie „Familie ist kein Wunschkonzert“, ihre Balance zu finden. Das Genre Road-Movie sorgt dafür, dass die Frauen physisch vom Fleck kommen, aber auch „innere“ Fortschritte machen. Herzstück des Films ist Philomena, die jüngste von drei Schwestern, die durch Zufall erfährt, dass sie ein Kuckuckskind ist. Gro Swantje Kohlhof spielt diese junge Frau mit Problemen bei der Identitätsfindung nuanciert & äußerst berührend. Auf der Zeitachse stimmt die Dramaturgie, die mit Eisinger & Hanczewski ebenfalls passend besetzten Schwestern sind dagegen etwas überdeutlich vom Buch gesetzt und es gibt auch ein paar kleine Patzer. Für einen Erstling ist dieser Freitagsfilm insgesamt aber sehr gelungen. Bildgestaltung und Erzählfluss sind sogar außergewöhnlich gut.