In Filmen über Kinder mit Trisomie 21 wird gern betont, dass sie ein Geschenk seien: Vieles sei anders, aber Vieles sei auch viel schöner. Die Botschaft ist klar: „Sag Ja zum Leben“, wie der Slogan der organisierten Abtreibungsgegner lautet. Die Figuren werden allerdings zumeist über ihren Gen-Defekt definiert. Schon allein deshalb unterscheidet sich „Herzstolpern“ wohltuend von den sonstigen Produktionen dieser Art: Felix Häverkamp (Benjamin Raue) hat zwar das Down-Syndrom, doch sein eigentliches Problem ist ein Herzfehler, und Motor der Handlung ist ohnehin die Liebe. Darüber hinaus bietet der Zweiteiler noch einige andere Geschichten, die ihrerseits jeweils gleichfalls abendfüllend wären, sodass die 180 Minuten eher zu wenig als zu viel sind; es geht unter anderem um verdrängte Trauer, um eine alte Rechnung, um den Verlust einer einstigen Innigkeit sowie um den Beginn von etwas Neuem.
Foto: ZDF / Georges Pauli
Weil Anja Flade-Kruse und Koautorin Claudia Kaufmann all’ das als Road-Movie erzählen, ist ständig was los in „Herzstolpern“: Im Rahmen eines Theaterprojekts auf dem Inklusionsbauernhof von Elisa Jansen (Anna Maria Sturm) lernt Felix, Anfang zwanzig, die gleichaltrige Emma (Juliane Siebecke) kennen. „Liebe auf den ersten Blick“ beschreibt seine Gefühle nur annähernd: Er ist regelrecht schockverliebt. Demnächst bekommt er eine neue Herzklappe, bis dahin darf er sich nicht anstrengen, was zur Folge hat, dass Vater Alexander (Sebastian Ströbel) sämtliche Klischees eines Helikopter-Papas erfüllt. Die beiden geraten immer wieder aneinander, weil sich Felix nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen will. Auch Emma ärgert sich, allerdings über ihre Mutter: Lucia (Clelia Sarto) hat einen Brief ihres italienischen Vaters zerrissen, weigert sich jedoch, ihrer Tochter zu erklären, warum sie den Kontakt vor vielen Jahren abgebrochen hat. Als der alte Herr (Sandro Di Stefano) nach Norddeutschland kommt, weist sie ihn brüsk zurück. Emma will ihren Opa unbedingt näher kennenlernen, und nun beginnt für alle Beteiligten ein großes Abenteuer: Das Liebespaar nutzt eine Übernachtung auf dem Bauernhof, um sich auf den Weg nach Norditalien zu machen. Lucia fährt ihnen mit dem Zug hinterher, Alexander & Elisa folgen den beiden mit dem Auto.
Da Lucia mit einer Frau verheiratet ist, liegt nahe, was zum Bruch mit dem Vater geführt haben mag; die sehr viel später offenbarten Details des Zwists sind allerdings schockierend. Eine weitere Frage, die ebenfalls erst im zweiten Teil beantwortet wird, begleitet Elisa; ein leerer Nagel inmitten einer Fotogalerie lässt erahnen, warum sie sofort weiß, wovon Alexander spricht, als er sie über Felix’ Herzprobleme informiert. Der Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann (Tobias Licht) führt, ist hoch verschuldet, ein Förderantrag ist abgelehnt worden, es droht die Zwangsversteigerung. Alexander wiederum leidet darunter, dass er und seine Frau (Lena Reinhold) schon länger nicht mehr das Dreamteam sind, das sie mal waren. Die ruppige erste Begegnung mit Elisa entspricht dem üblichen Romanzenmuster, die Sorge um Emma und Felix sorgt ohnehin für Nähe; soviel „Herzkino“ muss und darf dann doch sein.
Foto: ZDF / Georges Pauli
Allein aufgrund der Qualität taugt „Herzstolpern“ (Arbeitstitel: „Liebe kennt keinen Unterschied“) aber auch als „Fernsehfilm der Woche“; es war daher eine gute Entscheidung des ZDF, die Fortsetzung gleich am nächsten Tag zu zeigen, zumal die beiden Teile nahtlos ineinander übergehen. Ein fieser Cliffhanger, der das Schlimmste befürchten lässt, dürfte ohnehin dafür sorgen, dass ein Großteil des Publikums gleich mal in der Mediathek nachschaut, wie’s weitergeht. Davon abgesehen setzt der Sender mit dem Zweiteiler seine Strategie fort, sonntags jenseits von „Rosamunde Pilcher“ und „Inga Lindström“ mit Reihen und Mehrteilern wie „Ella Schön“, „Freunde sind mehr“, „Unterm Apfelbaum“, „Malibu“, „Nächste Ausfahrt Glück“ oder zuletzt „Familie Anders“ und „Dr. Nice“ Geschichten zu erzählen, in denen Beziehungen, Freundschaften oder familiäre Strukturen auf alternative Weise dargestellt werden.
Qualitativ bewegen sich diese Dramen und Tragikomödien vielfach auf dem Niveau jener Freitagsfilme im „Ersten“, die maßgeblich dazu beigetragen haben, den Ruf dieses einst verpönten Sendeplatzes erheblich zu verbessern. Sollte das ZDF mit seinem „Herzkino“ ähnliches im Sinn haben, könnte „Herzstolpern“ dereinst als eine jener Produktionen genannt werden, die großen Anteil am neuen Image haben, zumal die Freude über das zentrale Paar über einige Mängel hinwegsehen lässt. Vor allem die stellenweise zu Tränen rührende Leistung von Juliane Siebecke ist preiswürdig; die unerfahrene Schauspielerin ist eine echte Entdeckung. Die gemeinsamen Szenen mit Benjamin Raue bieten gerade im zweiten Teil eine wunderbar gelungene Mischung aus heiteren und ernsten Momenten; bis Felix einen Tribut für seine körperlichen Anstrengungen zahlen muss. Auch die Momente von Vater und Sohn strahlen eine Innigkeit aus, die nicht gespielt wirkt.
Foto: ZDF / Georges Pauli
Soundtrack (1): One Republic („Run“), Peter Fox („Zukunft Pink“), Nico Santos („Safe”), Electrelane („To The East“), Sheryl Crow („Everyday Is A Winding Road”), Almost Fly („Almost Fly“), Florence and The Machine („Long And Lost”), Fettes Brot („Falsche Entscheidung“), Nouvelle Vague („Making Plans for Nigel”), Curtis Stigers & The Forest Rangers („This Life”), Astyria („Kingdom Come”)
Soundtrack (2): Astyria („Kingdom Come“, Petr Spaleny („Dáma Pri Tele“), Haftbefehl („Offen Geschlossen“), Missy Elliot („Work It“), The Weepies („Brand New Pair of Wings“), Paolo Conte („Via Con Me“), Oh Wonder („All We Do“), Daniel Delaney („Bas Boy“), Billie Eilish („Bad Guy“)
Angenehm unangestrengt, aber dennoch unübersehbar sind zudem die Signale des Drehbuchs. Emma wehrt sich mehrfach gegen typische Diskriminierungen, etwa das Duzen durch einen Schaffner, und der Diversitätsanspruch erschöpft sich nicht in Lucias gleichgeschlechtlicher Ehe. Bei der Umsetzung hätte es allerdings noch Luft nach oben gegeben. Peter Stauch hat in den letzten Jahren unter anderem die ersten vier Episoden der sehenswerten ARD-Freitagsfilmreihe „Die Inselärztin“ (2018/19) sowie zwei spannende „Amsterdam-Krimis“ (2020) gedreht. „Herzstolpern“ orientiert sich mit seinem Sonnenuntergangslicht und den Postkartenbildern aus dem kroatischen Istrien (wo die italienischen Szenen entstanden sind) jedoch allzu sehr am Schema des Sendeplatzes, und die muntere Musik passt nicht immer zur Dramatik der jeweiligen Szenen; vom emotionalisierenden Popsong-Überangebot ganz zu schweigen. So lange die Redaktion nicht auf diese Unart verzichten mag, muss sie mit Abzügen bei der B-Note leben. (Text-Stand: 16.4.2023)