Heute nennt er sich „Ändy“, früher war er der „Andi“: Investmentbanker Andy Brettschneider aus dem mecklenburgischen Grievow hat es zu beruflichem Erfolg und Reichtum gebracht. Beim Essen in einem schicken Frankfurter Restaurant breitet er Kollegin Bea (Lisa Maria Potthoff) zuversichtlich seinen nächsten Karriereplan aus. Doch sein Chef (Stephan Schad) schneit nicht mit einer Beförderung herein, sondern mit der Nachricht, dass gegen Brettschneider eine anonyme Anschuldigung wegen einer Vergewaltigung vor 30 Jahren vorliege. Andy, der (seiner Geliebten?) Bea zuvor noch einen teuren Ring schenkte, wird ausgesprochen uncharmant und verdächtigt seine Kollegin, den Vergewaltigungsvorwurf lanciert zu haben. Seine Dienstreise nach Malmö will er am Montag unbedingt antreten, deshalb muss er über das Wochenende Klarheit schaffen. Mit einigen Flashbacks wird in der Inszenierung angedeutet, dass sich Andy an die Party nach dem Finale der Fußball-WM 1990 nur noch verschwommen erinnert. Dass es eine Vergewaltigung gegeben habe, streitet er ab.
Foto: Degeto / Sawhney
Bei dem Impro-Roadmovie „Für immer Sommer 90“ wird die Gegenwart des Corona-Virus wie selbstverständlich in die Handlung integriert: Man trägt Maske, begrüßt sich (meist) ohne Umarmung, hält Abstand. Vorbei sind vorerst die Improvisations-Spiele in größeren Gruppen wie zuletzt im „Tatort: Das Team“ oder in „Klassentreffen“. Jan Georg Schütte kehrt (notgedrungen?) zu seinen Anfängen zurück, denn ähnlich wie bei „Altersglühen – Speed-Dating für Senioren“ spielen zwei, höchstens drei Schauspielerinnen und Schauspieler die einzelnen Szenen. Und die Drehbedingungen unterschieden sich ohnehin „massiv“ von früheren Filmen, wie Schütte sagt: „Mit lächerlichen drei Kameras hatte ich ja noch nie gedreht. Das war alles so brutal überschaubar und ich konnte mich nicht hinter der üblichen Kreativlawine meiner Schauspieler*innen verstecken. Da musste ich manchmal richtig eingreifen. Regie nennt man das wohl.“ Zur Unterstützung war bei „Für immer Sommer 90“ erstmals der erfahrene Lars Jessen („Fraktus“, „Jürgen – Heute wird gelebt“, „Jennifer – Sehnsucht nach was Besseres“) als Regisseur, Produzent und Co-Autor mit dabei.
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Das reduzierte Konzept tut dem Vergnügen keinen Abbruch – im Gegenteil, die Handlung bleibt übersichtlicher, wird aber dank der Schauplatzwechsel durchaus nicht statisch. Denn mit Andy reisen wir nun durch Deutschland. Erst nach Fulda zu seiner Mutter Ingrid (Walfriede Schmitt), die ihn Mopsi nennt und im Gespräch den Verdacht nährt, dass da bei der WM-Party 1990 durchaus etwas vorgefallen sein könnte. Sie gibt ihm den Hinweis, wo Katrin (Deborah Kaufmann) lebt, eine von Andys früheren Freundinnen. Und so rauscht der wütende und verunsicherte Banker mit seinem teuren Elektro-Auto weiter nach Salzgitter, von da aus ins brandenburgische Neuruppin zu Sven (Roman Knižka), danach zu Annett (Christina Große) in Leipzig bis ins heimische Grievow, wo Marina (Stefanie Stappenbeck) hängen geblieben ist und wo Ronny (Peter Schneider) nach 18 Jahren „bei der Fahne“ und nach Auslandseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan ein eher frustriertes Dasein führt. Dagegen will Berit (Karoline Schuch), Ronnys kleine Schwester, in ihrer Heimat etwas Neues aufbauen. Allerdings verhindert die Pandemie, dass sie ihr Bistro am See eröffnen kann.
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Charly Hübner, der stets energiegeladene Fixpunkt des Films, spielt nicht gerade einen Sympathieträger. Andy Brettschneider ist ein ehrgeiziger, selbstverliebter, bisweilen ruppiger Banker – ein Wessi-Klischee aus dem Osten. Die anonyme Anschuldigung dient durchaus dazu, dass er sich seiner eigenen Geschichte erinnert. Und da der Vorwurf droht, seine Karriere zu zerstören, ist es glaubwürdig, dass ein Mann, der vor 30 Jahren wortlos verschwand und sich nie wieder bei seinen Freundinnen und Freunden meldete, plötzlich wieder bei allen vor der Tür steht. Aber ein Vergewaltigungsdrama wird aus dem Film gerade nicht. Die Idee zu dem Stoff hatte Schauspieler Hübner selbst, der 1972 in Neustrelitz geboren wurde und hier auch als Drehbuch-Autor fungierte. Detailliert geschriebene Dialog-Szenen gab es wohl nicht, die jeweiligen Darsteller*innen mussten entlang vorgegebener Rollen-Profile improvisieren. Hübner beschreibt die Arbeit so: „Das einzig Typische in all der Zeit ist die turmhohe Konzentration bei allen Spieler*innen und die gigantische Vorfreude auf den Spielmoment: du hast nur eine Chance! Wie Reispapier, fragil und stabil zugleich! Herrlich!“
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Das „Herrlich“-Wohlgefühl stellt sich beim Zuschauen nur bedingt ein, dennoch ist es eindrucksvoll zu sehen, wie das Ensemble die einzelnen Figuren in relativ kurzen Szenen zum Leben erweckt. Dieser (ost-)deutsche Heimat-Film handelt von Aufbruch und Stillstand, von Erfolg und Scheitern der in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen im wiedervereinigten, kapitalistischen Westen. Das Spektrum des Generationen-Querschnitts ist weit und pointiert konstruiert: Katrin träumte von Amerika, versuchte es als Film-Studentin und Stripperin in Kalifornien und sitzt nun als Arzthelferin am Empfang einer urologischen Praxis in Salzgitter. Sven entpuppt sich als leicht durchgeknallter Versicherungsmakler, dessen ganzer Stolz das voll digitalisierte Eigenheim ist. Auch seinen Super-Grill wirft er per Smartphone an, aber Corona hält er offenbar für eine jüdische Verschwörung. Roman Knižka hängt sich als Sven auch physisch voll rein, während Christina Große einen eher unterkühlten Auftritt als emanzipierte, kapitalismuskritische Bloggerin hat. Zu Andy sagt sie Sätze wie: „Du vergewaltigst in der Wirtschaft ständig andere Leute.“ Und Stefanie Stappenbeck wiederum sitzt vornehmlich als Häuflein Elend auf der Treppe.
Für das komödiantische Highlight sorgt ein makedonischer Schlachter (Bozidar Kocevski), der sich auf einem Rastplatz in ausführlichen Beschreibungen seines beruflichen Handwerks ergeht – während Andy ein Leberkäs-Brötchen verzehrt. Wenn Darsteller Kocevski diesen Redeschwall improvisiert hat – alle Achtung. Auch Schütte macht sich in einem humorvollen Cameo-Auftritt als Würstchen-Verkäufer um Andys Verpflegung verdient. Der Banker kehrt schließlich in seine Heimat zurück. Zwei Männer sitzen dann am See in Mecklenburg, wo auch die Party vor 30 Jahren stattfand, gemeinsam Bier trinkend wie in alten Zeiten. Doch die Zeit zurückzudrehen, das funktioniert nicht mehr. Peter Schneider spielt den desillusionierten Ex-Soldaten glänzend, zum Fürchten und Mitleid erregend zugleich. Ronny fühlt sich von Andy, aber eigentlich von der ganzen Welt im Stich gelassen. Andys Heimkehr mündet in ein starkes, dramatisches und doch leises, melancholisches Finale. Keine Larmoyanz, keine Ostalgie, aber ein gefühlvoller, kenntnisreicher Blick auf die letzte junge DDR-Generation.