Maria hat Angst

Natalia Wörner, Amanda da Gloria, Katharina Schüttler, Lars Becker. Layla & ihre Chorknaben

21.11.2025 10:00 Arte-Mediathek Streaming-Premiere
28.11.2025 20:15 Arte TV-Premiere
Foto: ZDF, Arte / Alexander Sachs
Foto Rainer Tittelbach

„Maria hat Angst“ (Arte, ZDF / Network Movie) ist der dritte Einsatz für Natalia Wörner als Annabelle Martinelli, jene Anwältin, die spezialisiert ist auf Sexualstrafrecht und vornehmlich das Mandat für Frauen übernimmt, die Opfer von sexueller, häuslicher oder rassistischer Gewalt geworden sind. Eine Polizistin wird von einem Kollegen massiv sexuell bedrängt, sie weist ihn nachdrücklich zurück, dann prügelt sie ihn brutal ins Koma. Zehn Polizisten sagen gegen sie aus – und es gibt noch eine Zeugin, die aussagen würde, doch die hat Angst. Lars Becker kombiniert in dem dramaturgisch extrem dichten Film die Stärken der bisherigen Martinelli-Justizdramen mit der Milieu-Zeichnung seiner „Nachtschicht“-Reihe und verbindet so noch deutlicher als im Vorgänger „Die Macht der Frauen“ das Anwalts- mit dem Polizeifilm-Genre. Geschlechterkampf und Metoo-Debatte werden nicht juristisch im luftleeren Raum verhandelt, sondern in den gesellschaftlichen Kontext von Korruption, Korpsgeist & Clan-Kriminalität gestellt.

Wer nimmt schon einen Schlagstock mit auf eine Feier? Und was ist das für eine Polizistin, die ihren Kollegen ins Koma prügelt? Annabelle Martinelli (Natalia Wörner) bekommt es mal wieder mit einem hoffnungslosen Fall zu tun. Die Klage gegen Layla Rekabi (Maral Keshavarz) lautet auf gefährliche Körperverletzung, wenn nicht gar versuchter Totschlag. Martinellis Mandantin sieht das völlig anders: Für sie war es Notwehr; Tommy Bockhorn (Merlin Rose) sei nicht das erste Mal bei ihr sexuell übergriffig geworden. Die junge Frau steht mit ihrer Aussage auf verlorenem Posten: Zehn Zeugen, alles Kollegen, unter ihnen Mike Kowalski (Stefan Rudolf) und Abdel Meckdache (Hassan Akkouch), haben gegen Layla ausgesagt. Sie habe während der Feier vor dem Lokal grundlos und brutal auf Tommy eingeschlagen. Auch die Frauenbeauftragte der Polizei (Carmela Bonomi), Abdel Meckdaches Frau, kann Martinelli nicht weiterhelfen. Es gibt allerdings zwei Zeuginnen des nächtlichen Vorfalls: Maria Morales (Amanda da Gloria) und Angela (Katharina Schüttler), die Frau von Mike Kowalski. Die beiden einigen sich jedoch darauf, nichts gesehen zu haben. Und so muss sich Martinelli anhören, was für eine schreckliche Person Layla ist, „eine Street-Fighterin“, gegen die ein Disziplinarverfahren wegen Gewalt im Dienst läuft. John Quante (Fritz Karl), der Anwalt der Gegenseite, erfährt indes, dass auch seine Mandanten keine Chorknaben sind.

Maria hat Angst
Oben: Layla (Maral Keshavarz) wird von ihren Kollegen Mike (Stefan Rudolf) und Abdel (Hassan Akkouch) zurückgehalten, als sie ihren übergriffigen Kollegen Tommy brutal niederschlägt. Es ist der Schlüsselmoment des Films. Unten: Dazu gehört auch, dass es zwei Zeuginnen gibt (Amanda da Gloria, Katharina Schüttler) gibt. Die einigen sich aber darauf, nichts gesehen zu haben.

„Maria hat Angst“ ist nach „Wahrheit oder Lüge“ (2020) und „Die Macht der Frauen“ (2022) der dritte Einsatz für Natalia Wörner als Annabelle Martinelli, jene Anwältin, die spezialisiert ist auf Sexualstrafrecht und vornehmlich das Mandat für Frauen übernimmt, die Opfer von sexueller, häuslicher oder rassistischer Gewalt geworden sind. Als Zuschauer weiß man zunächst mehr als die Anwältin. Man sieht, wie der Mann die Frau massiv sexuell bedrängt und wie sie ihn nachdrücklich zurückweist. Man sieht aber auch, mit welcher Wut und Brutalität die Frau anschließend zuschlägt, auch noch dann, als der Mann bereits auf dem Boden liegt. Auf den ersten Blick erscheint die Reaktion unverhältnismäßig. Man kann also gespannt sein, was sich Lars Becker hat einfallen lassen für die (Vor-)Geschichte. Um es vorwegzunehmen: Es ist einer der dramaturgisch überzeugendsten Plots, die sich der Autor und Regisseur in Personalunion in den letzten Jahren hat einfallen lassen. Während zuletzt seine „Nachtschicht“ (seit 2000) etwas schwächelte, kombiniert er in „Maria hat Angst“ die Stärken der bisherigen Martinelli-Justizdramen mit der Milieu-Zeichnung seiner KDD-Ausnahme-Reihe und verbindet so noch deutlicher als in „Die Macht der Frauen“ das Anwalts- mit dem Polizeifilm-Genre. Der Fall von Layla & Tommy wird im großen (narrativen) Rahmen von Beamten-Bestechung, Korpsgeist und Clan-Kriminalität verortet. Geschlechterkampf und Metoo-Debatte werden also nicht juristisch im luftleeren Raum verhandelt, sondern in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Das ist realistisch und gleichsam aufregender, auch, weil sich so Moral nicht auf eine wohlfeile Dichotomie reduzieren lässt.

Die komplexe Gemengelage webt Becker zu einem engmaschigen Interaktionsnetz. Es gibt sogenannte „Freundschaften“, gegenseitige Abhängigkeiten – und drei Ehepaare. Ein Motor der Dramaturgie ist ein doppeltes Dilemma. Offensichtlich hat die angeklagte Polizistin etwas gegen die Kollegen in der Hand. „Layla weiß mehr von Tommy als er von sich selbst“, sagt Zola Meckdache, die Frauenbeauftragte. Aber auch Tommy selbst, verschrien als süchtiger Kokser, könnte zum „Betriebsrisiko“ werden. Sollte es ihm an den Kragen gehen, würde er womöglich die Kollegen hinhängen. Zu dieser Doublebind-Bedrohung hinzukommt eine Information, die Martinellis Optimismus deutlich bremst: Layla und Tommy waren mal ein Paar; sie spricht sogar von Liebe. Durch diesen Umstand würde der Fall vor Gericht wahrscheinlich als Eifersuchtsdrama verhandelt werden. Ganz schlechte Karten für Martinellis Mandantin. Da ist zwar noch jene Maria, alleinerziehende Kolumbianerin, die sich mit fünf Jobs und wenig Schlaf über Wasser hält, aber die kann sich eine Aussage vor Gericht nicht leisten: Sie hat keine Arbeitserlaubnis, ihre Aufenthaltsgenehmigung läuft bald ab – und das Angebot, das ihre „Freundin“ und Arbeitskollegin Angela ihr im Auftrag der „bösen Jungs“ macht, ist einfach zu verlockend. Und weil offenbar dank Hossein Darwisch (Husam Chadat) sehr viel Geld im Deal zwischen Polizei und libanesischem Clan kursiert, bekommt sogar Layla ein unmoralisches Angebot. Dass ihr Heimatort – wie der der Darwischs – Beirut ist, wird für eine entscheidende Wendung der Geschichte sorgen.

Maria hat AngstFoto: ZDF, Arte / Alexander Sachs
Privat einst verbandelt, vor Gericht stets Gegner: die Anwälte John Quante (Fritz Karl) und Annabelle Martinelli (Natalia Wörner)

„Maria hat Angst“ ist kein Themenfilm, der einen typischen Fall von Gewalt zwischen den Geschlechtern beispielhaft verhandelt, sondern der 90-Minüter erzählt einen individuellen, komplexen Fall, der gleichermaßen mit Realität und Genremustern aufgeladen ist. Dazu gehört auch der B-Plot um die übernächtigte Kolumbianerin, deren Nicht-vor-Gericht-aussagen-können zwar clever mit ihrem spezifischen Alltagsleben kurzgeschlossen wird, der allerdings ein bisschen angeklatscht an die narrativ perfekt entwickelte Dynamik der Gruppe wirkt. Dramaturgisch gesehen. Doch Becker geht es mit diesem Nebenstrang, den er sogar durch den Titel noch besonders hervorhebt, nicht um die Funktion, die Maria für den Hauptkonflikt erfüllt, er schildert vielmehr eine andere Episode migrantischer Realität in Deutschland jenseits der Meckdaches, Rekabis oder Darwichs, erzählt von einer Einzelkämpferin ohne Gruppenzugehörigkeit, der es schwerfällt, in der deutschen Wirklichkeit Fuß zu fassen. Maria greift nicht direkt in den Fall ein – und ist doch der moralisch integerste Charakter des Films. Vielleicht hat Becker sie deshalb zur Titelfigur gemacht. Die anderen sind durchweg ambivalent gezeichnet. Die korrupten Bullen versuchen, sich mit Halbwahrheiten aus der Affäre zu ziehen, sind keine absolut „bösen Jungs“, doch in Zeiten finanzieller Engpässe sind sie falsch abgebogen und kommen jetzt nicht mehr raus aus dem Schlamassel. Und Kampfsportlerin Layla mit ihrer Riesenwut ist unter Alkoholeinfluss kaum berechenbarer als ihr drogenabhängiger Ex-Lover. Gewalt gehört zu beider Kommunikationsstil. Doch es gibt eine höhere Gewalt – und das muss nicht immer Justitia sein.

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Reihe

Arte, ZDF

Mit Natalia Wörner, Amanda da Gloria, Katharina Schüttler, Fritz Karl, Stefan Rudolf, Maral Keshavarz, Merlin Rose, Safira Robens, Hassan Akkouch, Carmela Bonomi, Husam Chadat

Kamera: Alexander Sachs

Szenenbild: Daniela Herzberg

Kostüm: Regina Tiedeken

Schnitt: Sanjeev Hathiramani

Musik: Hinrich Dageför, Stefan Wulff

Redaktion: Daniel Blum (ZDF), Julius Windhorst (Arte)

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Lars Becker

Regie: Lars Becker

EA: 21.11.2025 10:00 Uhr | Arte-Mediathek

weitere EA: 28.11.2025 20:15 Uhr | Arte

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