Der weiße Kobold

Maya Unger, Frederick Lau, Thomas Mraz, Marvin Kren. Halb Wien ist auf Kokain

Foto Thomas Gehringer

Marvin Krens verrückter Nacht-Trip durch Wien: In „Der weiße Kobold“ (ORF, BR – Lotus-Film) erlebt ein deutscher Speditions-Disponent (Frederick Lau) ein surreales Abenteuer an der Seite einer furcht- und ruhelosen Künstleragentin (Maya Unger). Die Thriller-Komödie ist eine Wiener Reminiszenz an den New-York-Klassiker „Die Zeit nach Mitternacht“ (OT: „After Hours“) von Martin Scorsese – ein visuelles und musikalisches Vergnügen unter reger Beteiligung von Krens Freunden und Familie, gedacht auch als freimütige Promotion für den Wiener Künstler Martin Grandits. Der Humor ist speziell: selbstreferenziell, albern, absurd. Und die wienerischen Dialoge sind für deutsche Ohren bisweilen eine Herausforderung.

Freddy Sternthaler (Frederick Lau) nimmt es genau mit den gesetzlich erlaubten Fahrzeiten bei der Wiener Spedition, bei der er seit einem halben Jahr arbeitet. Wenn ihn sein Chef Zuko (Michael Thomas), dem deutsche Korrektheit wegen der eigenen Schmuggelgeschäfte gar nicht recht ist, mit grobem Schmäh zur Rede stellt, wirkt Freddy kleinlaut und mutlos. Als ihn Zuko abends Zigaretten kaufen schickt, läuft Freddy zufällig Ema Draganovic (Maya Unger) über den Weg. Die Agentin muss ihren Bruder Martin (Simon Steinhorst) auftreiben, um die erstmalige Ausstellung seiner Gemälde zu retten. Der Kurator fordert Martins persönliche Anwesenheit bei der Vernissage, doch Maya erreicht ihren Bruder nicht. Also schleppt sie Freddy kurzerhand ab und bittet ihn, sich als Martin auszugeben. Was er sagen solle, wenn er zur Bedeutung von Martins Kunst gefragt werde, will der kreuzbrave Angestellte wissen. Maya rät ihm zu einem leicht abgewandelten, berühmten Satz von Paul Klee: Kunst solle das Unsichtbare sichtbar machen. Das ist auch für Filmschaffende ein vortrefflicher Leitsatz, an den man sich spätestens bei der Schlusspointe von „Der weiße Kobold“ wieder erinnern sollte.

Der weiße KoboldFoto: BR / Lotus-Film / ORF
Ema Draganovic (Maya Unger, „Tatort – Unten“) versucht es mit den Waffen einer schönen Frau. Beim unbedarften Speditions-Disponent klappt das besser als bei ihren Gegenspielern Laurenz Brückner (Thomas Mraz) und Tara Abramovic (Zoe Straub).

Der Wiener Marvin Kren war mit der harten Berliner Clan-Ballade „4 Blocks“ ganz auf der Höhe der Zeit – „state of the art“ in der modernen Serien-Erzählkunst. Als Anerkennung gab es zahlreiche Preise, es folgten unter anderem die ORF/Netflix-Serie „Freud“ und nun mit „Der weiße Kobold“ aus dem ORF-Stadtkomödien-Label die komische Version einer urbanen Ballade, in der sich Kren, wie es scheint, in seiner Heimatstadt nach Lust und Laune austoben durfte. Der Autor-Regisseur weiß die Freiheit zu nutzen, denn einen ähnlich absurd-komischen, temporeichen, zum Teil auch albernen, dann wieder melancholischen Trip durch eine Großstadt-Nacht sieht man im Fernsehen nicht häufig. Wie in „4 Blocks“ und „Freud“ begleitet die vielseitige Musik von Stefan Will (hier außerdem mit Julian Muldoon) den irren Trip durch die Wiener Nacht. Die Geschichte hat, zugegeben, auch mal Durchhänger, und für deutsche Ohren sind manche Dialoge eine besondere Herausforderung. Dafür schickt Kren uns Zuschauer:innen auf eine stets überraschende Reise an der Seite von herzerfrischend derben und schrägen Charakteren – schließlich spielt die Handlung in Österreich.

Ein Fest des guten Geschmacks oder vorbildlicher Rollenbilder ist also nicht zu erwarten. Das macht auch die namenlose Oma gleich zu Beginn klar, als sie dem widerspenstigen kleinen Enkel im weißen Schnee-Anzug aus vollem Herzen ein „Oaschloch“ hinterher brüllt. Der widerliche Macho-Spediteur Zuko, der plakativ tätowierte Unterweltboss Heinzi X (Paul Basonga), aber vor allem der boshafte, gierige Kunstsammler Brückner (Thomas Mraz) sind die Gegenspieler von Freddy, Ema & Martin. Dazu spielt Zoe Straub Brückners aufgetakelte, untalentierte Gespielin Tara – das Klischee einer narzisstischen Sexbombe, die sich einbildet, Künstlerin zu sein. Auch die Selbstironie ist dick aufgetragen, das muss auch so sein.

Der weiße KoboldFoto: BR / Lotus-Film / ORF
„Wir kennen uns irgendwoher. Ich könnte schwören…“ Kurz und selbstreferenziell: klar, Kida Khodr Ramadan und Frederick Lau spielten in Marvin Krens „4 Blocks“.

Die Geschichte folgt keiner Logik, sondern dem Tempo und Rhythmus einer farbenfrohen, schrill ausgeleuchteten Nacht, in der nichts berechenbar und langweilig sein darf. Der stets etwas entrückte Martin hat das Kokain von Heinzi X leichtsinnigerweise zum Malen benutzt. Nun sitzt der Gangster seiner Schwester und Agentin Ema im Nacken, die nicht nur sich selbst und Martin, sondern auch seine Koks-Gemälde retten muss. Die Bilder hat sich allerdings Brückner unter den Nagel gerissen. Ab und zu sorgt der „Kobold“, also das Kleinkind im weißen Schnee-Anzug, für Verwirrung. Er steht als Metapher „für das wilde, schlimme, freie, ungezwungene Kind in uns“, wie Marven Kren sagt. Und in diesem wundersamen Chaos läuft der sanfte Freddy mit, weil er einfach nicht Nein sagen kann, schon mal gar nicht zu der attraktiven Ema. Frederick Lau spielt alles andere als ein Piefke-Klischee, sondern den liebenswerten Helden eines Großstadtmärchens, der sich anfangs achselzuckend in sein Schicksal fügt und am Ende über sich hinauswächst.

Das dramaturgische Muster ist natürlich keine originäre Leistung. Man könnte sich etwa an „Into the Night“ (dt.: „Kopfüber in die Nacht“) mit Jeff Goldblum erinnert fühlen. Aber das Vorbild ist nach Angaben von Marvin Kren der ebenfalls 1985 veröffentlichte Streifen „After Hours“ (dt.: „Die Zeit nach Mitternacht“), in dem Martin Scorsese seinen Helden nach einem langweiligen Büro-Arbeitstag eine wilde New Yorker Nacht erleben lässt und ebenfalls mit illustren Gestalten aus der Kunst-Szene in Berührung bringt. Um alle Referenzen und Zitate in „Der weiße Kobold“ zu erkennen, dafür muss man wohl ein intimer Kenner der Wiener Kunstszene sein. Aber auch ohne dieses Spezialwissen ist zumindest die Bedeutung einer Szene offenkundig: Freddy begegnet bei einem Treffen mit Heinzi X einem Gast des Gangsters, der „4 Blocks“-Hauptfigur Toni Hamady, gespielt von Kida Khodr Ramadan. „Wir kennen uns irgendwoher“, sagt Toni zu Freddy in seiner einzigen Filmszene – eine Anspielung auf die erste „4 Blocks“-Staffel, in der er mit Lau gemeinsam vor der Kamera stand.

Der weiße KoboldFoto: BR / Lotus-Film / ORF
Ein grantiger Wiener Taxifahrer darf nicht fehlen. Zuko (Michael Thomas), Ema (Maya Unger), Freddy (Frederick Lau) und der Taxla (Christoph Krutzler). Der fährt schon mal gratis, weil er den Kunstmäzen Brückner, den Antagonisten, nicht leiden kann. „Ein Lump, eine Grenzsau“, klärt er mit Blick in die Kamera den Zuschauer auf.

„Der weiße Kobold“ ist auch sonst eine ziemlich selbstreferenzielle Angelegenheit. Wie Kren in mehreren Interviews über seinen „persönlichsten Film“ erzählte, spielen nicht nur einige Freunde und Familien-Mitglieder. Kren betreibt auch freimütig Promotion für die Galeristin Ema Kaiser Brandstätter und den Künstler Martin Grandits. „Ema und Martin sind gute Freunde von mir und wirbeln derzeit den Wiener Kunstmarkt ordentlich auf. Wobei hier ganz klar zu erwähnen ist, dass die strafrechtlichen Elemente rein fiktional sind, mit der echten Ema und und dem echten Martin nichts zu tun haben, sondern der Geschichte und Dramaturgie den nötigen Pfeffer geben“, sagt Kren laut Presse-Material des BR. Und dem österreichischen Standard sagte er: „Ich würde mich freuen, wenn Martin noch mehr ins Zentrum des Interesses gelangt. Er war für mich die Quelle meiner Inspiration und soll es für andere sein.“

Im Film spielen jedenfalls einige Grandits-Kunstwerke eine Rolle: die Leberkässemmel zum Beispiel, die Brückner in seinem luxuriösen Anwesen in einer gläsernen Vitrine wie seine edelsten Schätze aufbewahrt. Freundin Ema Kaiser Brandstätter darf vor der Kamera als „Große Blondine“ mitwirken, wie es in der Besetzungsliste heißt, und hat ein paar stumme Szenen als dekorative Begleitung von Heinzi X. Auch Martin Grandits taucht kurz im Bild auf. Am schönsten ist aber die melancholische Szene mit Marvin Krens Mutter: Brigitte Kren spielt die einsame „Dame im Pelz“ (und mit Hund), die Freddy in einer schummrigen Bar in ein Gespräch verwickelt und um einen Tanz bittet – zu Dean Martins Mambo-Klassiker „Sway“. Was sie ihm am Ende ins Ohr flüstert, bleibt ein Geheimnis. (Text-Stand: 8.4.2023)

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Fernsehfilm

BR, ORF

Mit Maya Unger, Frederick Lau, Thomas Mraz, Simon Steinhorst, Michael Thomas, Zoe Straub, Paul Basonga, Christoph Krutzler, Brigitte Kren, Ema Kaiser Brandstätter, Martin Grandits, Kida Khodr Ramadan

Kamera: Martin Gschlacht

Szenenbild: Verena Wagner

Kostüm: Leonie Zykan

Schnitt: Alarich Lenz

Musik: Stefan Will, Julian Muldoon

Redaktion: Klaus Lintschinger, Amke Ferlemann

Produktionsfirma: Lotus Film

Produktion: Tommy Pridnig, Peter Wirthensohn

Drehbuch: Marvin Kren

Regie: Marvin Kren

Quote: 3,06 Mio. Zuschauer (12% MA)

EA: 26.04.2023 20:15 Uhr | ARD

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