Tatort – Stau

Richy Müller, Klare, Kiefer, Nocke, Brüggemann. Nur im Stau steckengeblieben?

Foto: SWR / Alexander Kluge
Foto Thomas Gehringer

Ein junges Mädchen stirbt mutmaßlich bei einem Verkehrsunfall, doch die Fahrerflucht endet im Stau. Kommissar Lannert (die Ruhe selbst: Richy Müller) ermittelt in einer langen Blechschlange mitten in Stuttgart. Dietrich Brüggemanns („Kreuzweg“) „Tatort“-Debüt „Stau“ ist eine originelle Idee mit großen cineastischen Vorbildern (Godard, Tati etc.). Aber auch im „kleinen“ Fernsehen funktioniert das wunderbar: Dank eines Panoptikums aus komischen & garstigen Figuren und einer beweglichen Inszenierung trotz des Stillstands auf der Straße. Die Spannung bleibt in diesem Ensemble-Film auch ohne Nervenkitzel hoch.

Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen geladen & angespannt sind
Feierabend in Stuttgart. Viele Menschen sind unterwegs, gestresst und in Zeitnot: Ein Anwalt holt seinen Sohn nach der Arbeit vom Kindergarten ab und erduldet den atemlosen Vortrag einer Pädagogin im Ringelpulli. Ein pensionierter Herr erfährt bei der Mieterberatung, dass er gegen die Kündigung seiner Wohnung wegen Eigenbedarfs nichts machen kann. Ein Ehepaar streitet nach dem Einkauf auf dem Parkplatz, eine Mutter wird von ihrer Teenager-Tochter von der Rückbank aus terrorisiert, und der Fahrer eines Krankentransporters kann den Zeitplan seiner Touren unmöglich einhalten. Denn Stuttgart versinkt im Verkehrschaos. Und die meisten Menschen, die sich dort nun hineinstürzen, sind bereits aus unterschiedlichen Gründen geladen und angespannt. Auch Matthias Treml (gespielt von dem gelegentlich schauspielernden Drehbuchautor Daniel Nocke). Tremls Chef (gespielt vom Journalisten und Medienkritiker Oliver Gehrs) gibt ihm am Ende des Arbeitstages ein kritisches „Feedback“ – aber nur, um Treml anschließend als Paketboten zu missbrauchen. Und wie all die anderen steht auch Treml, der sich von seinem Chef zu viel gefallen lässt, bald auf der Weinsteige im Stau. Unten verheißen die glitzernden Abendlichter pulsierendes Großstadt-Leben, oben rührt sich gar nichts mehr. Nach einem Wasserrohrbruch musste die Polizei die Straße sperren.

Tatort – StauFoto: SWR / Alexander Kluge
Der Abend legt sich über Stuttgart und Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) ermitteln im Stau. Das ist ein Krimi, aber natürlich auch ein bisschen mehr.

Stau auf der Stuttgarter Weinsteige – das kennt Brüggemann auch
„So ein Stau ist eine Art dramaturgischer Dampfkochtopf – man macht den Deckel drauf und stellt ihn aufs Feuer, der Rest passiert von selbst“, sagt Dietrich Brüggemann. Der Autor und Regisseur, der 2014 bei der Berlinale für das Drehbuch von „Kreuzweg“ mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, feiert mit „Stau“ sein „Tatort“-Debüt. Die Idee beruht auf eigenen Erfahrungen: Bei den Dreharbeiten zu „Kreuzweg“ stand Brüggemann selbst mal auf der Weinsteige im Stau. Und auch sonst ist Stuttgart, die verkehrs- und abgasgeplagte Heimat von Daimler und Mercedes-Benz, eine naheliegende Wahl, um einen solchen Film zu drehen, der im übrigen zahlreiche cineastische Vorläufer hat: „Weekend“ von Jean-Luc Godard zum Beispiel oder „Trafic“ von Jacques Tati. „Von einem Stau kann man viel Schlechtes sagen. Aber wenn man ihn durch das Auge einer Kamera ansieht, muss man zugeben, dass er verdammt schön ist. Nie begegnen sich Chaos und Ordnung in einem so konkreten Geschehen“, schrieb der geschätzte Kritiker Georg Seeßlen im Juni 2003 in einer „kleinen Phänomenologie des Steckenbleibens“ für die „Zeit“. Sie endet mit dem schönen Satz: „Und nichts ist trauriger als der Moment, an dem es, wie man so sagt, endlich wieder weitergeht.“ Als hätte Brüggemann Seeßlen beim Wort nehmen wollen, endet dieser originelle „Tatort“ aus Stuttgart damit, dass sich die Schuld am Tod eines 14 Jahre alten Mädchens genau in dem Moment offenbart, in dem der Verkehr auf der Weinsteige wieder zu fließen beginnt.

Tatort – StauFoto: SWR / Alexander Kluge
Es gibt einen Tatzeugen. Der ist allerdings erst drei Jahre alt und hat offensichtlich eine blühende Phantasie. Lias Funck, Felix Klare, Amelie Kiefer und Richy Müller

Seltsamerweise steht ganz Stuttgart im Stau – nur die Kommissare nicht
Aber der Reihe nach: Kommissar Bootz (Felix Klare) wird in die Siedlung oberhalb der Weinsteige zu einem möglichen Unfall mit Fahrerflucht gerufen. Das Mädchen liegt tot am Rande der Straße. Einziger Zeuge ist ein drei Jahre alter Junge, der das Geschehen vom Fenster aus beobachtet hat, dessen Angaben aber nur bedingt etwas taugen. Und dann ist da noch eine rüstige 80-Jährige, ein typisch schwäbischer Kehrwoche-Drachen, der die Nachbarschaft gerne im Blick behält. Seltsamer Weise steht ganz Stuttgart außer den Rettungssanitätern und den Kommissaren im Stau. Auch Kollege Lannert (Richy Müller) sowie Spurensicherung und Rechtsmediziner schaffen es mit Autos an den Tatort, während es angeblich nur einen Weg aus der Siedlung gibt: die gesperrte Weinsteige. Dort, im Stau, muss sich das Unfallauto also noch befinden. Eine etwas wacklige Logik vielleicht, aber wer das Einbahnstraßen-Wirrwarr in Großstädten kennt, wird sich darüber nur kurz wundern.

Ein unaufdringlich erzählter Flirt und sorgfältig geschilderte Polizeiarbeit
Die eingangs, auch musikalisch durch verschiedene Songs aus dem Radio skizzierten Personen finden sich nun alle in der langen Blechschlange wieder. Lannert ermittelt im Stau, während Bootz am Tatort bleibt, wo er und die sympathische, alleinstehende Mutter (Amelie Kiefer) des Dreijährigen offenbar ein wenig Gefallen aneinander finden – was hier nebenbei ganz unaufdringlich erzählt wird. Auch wird die Polizeiarbeit in manchen Details genauer geschildert als üblich. Während es Film-Kommissare doch meist nur mit einem Fall zu tun bekommen, muss Bootz noch in anderen Angelegenheiten herumtelefonieren, einen vermissten Zeugen und eine verloren gegangene Tatwaffe auftreiben. Ungewöhnlich für einen Krimi auch, wie häufig Lannert seine Rechtsbelehrung herunter leiert. Das macht hier auch Sinn: Dass ein „Anfangsverdacht“ bestehe, sorgt regelmäßig für Unverständnis bei den Autofahrern, die sich doch eigentlich als Opfer sehen.

Tatort – StauFoto: SWR / Alexander Kluge
Sebastian Bootz (Felix Klare) und Sophie Kauert (Amelie Kiefer), die Mutter des kleinen Zeugen, beobachten voll Anteilnahme die Ankunft der Eltern des toten Mädchens. Würde der „Tatort“ Stuttgart seriell(er) erzählen, dann wüsste man, wer in der nächsten Episode auf jeden Fall wieder auftauchen würde – besser: müsste!

Der Stau gibt dem Film Struktur und ist zugleich Metapher
Die Ermittlungen gehen schleppend voran, der Druck im Stau-Kessel steigt, aber Lannert ist der ruhende Pol in der zunehmend aggressiven Stimmung. Er besänftigt den schlecht gelaunten Schutzpolizisten (Bernd Gnann) und lässt sich weder von angetrunkenen Männern auf dem Weg zum Junggesellenabschied noch von zornigen, zur Bewegungslosigkeit verdonnerten Autofahrern aus der Ruhe bringen. Brüggemann entwirft in „Stau“ vor allem ein kurzweiliges Panoptikum aus Großstadtfiguren. Eine komische Revue ist das und manchmal auch ein garstiges Sittenbild. Da ist der ältere Mercedes-Fahrer (Rüdiger Vogler), den die entnervte Teenager-Mutter (Susanne Wuest) an die Stoßstange stupst und der gleich mal zu einem besserwisserischen Vortrag über Lackier-Techniken anhebt. Da ist die stets telefonierende Geschäftsfrau (Sanam Afrashteh) in der Vorstandslimousine, die ihren Chauffeur (Jacob Matschenz) persönlich für den Stau verantwortlich macht. Der will kündigen, begnügt sich aber mit einer Zigarettenpause, als seine Chefin die Kündigung nicht annimmt. Der Fahrer des Krankentransporters (Deniz Ekinci) spendiert ihm einen Joint, und auch die frustrierte Ehefrau (Julia Heinemann), die vorgibt froh zu sein, dass sie mit ihrem Mann (Eckhard Greiner) keine Kinder hat, flüchtet in den Transporter. Im Stau sind sie alle zum Innehalten gezwungen. Er gibt dem Film eine fest umrissene räumliche Struktur und ist zugleich Metapher dafür, dass hier mancher auch sonst im Leben stecken geblieben ist.

Im Stau wird aus einzelnen Autofahrern wieder eine Gemeinschaft
Das Prinzip des Ensemble-Films stößt zwar am Ende an seine Grenzen, weil die Wutbürger wie aus dem Nichts kommen und ziemlich klischeehaft wirken. Aber die vielen Einzelgeschichten machen diesen „Tatort“ abwechslungsreich, ohne dass es unübersichtlich wird. Brüggemanns Inszenierung – die Weinsteige-Szenen wurden in einer nachgebauten Straße in einer Halle in Freiburg gedreht – bleibt trotz Stau beweglich. Es gibt eine innere Dynamik, denn innerhalb der Stau-Gemeinschaft kommen Figuren miteinander in Berührung, entwickeln sich weiter. Und es gibt eine äußere Dynamik, weil Drehbuch und Inszenierung immer wieder zwischen den Schauplätzen Stau und Tatort hin und her schalten. So bleibt die Spannung hoch, auch wenn der „Tatort“ schon Fälle mit größerem Nervenkitzel-Faktor und anspruchsvollerer Krimi-Konstruktion erlebt hat. Das Auto, angeblich der Deutschen liebstes Kind, ist hier jedenfalls für lange Zeit einmal lahm gelegt. Selbst Lannerts Porsche streikt. Nur eine kommt noch voran: Kriminaltechnikerin Nika Banovic (Mimi Fiedler) folgt Lannert zur Unterstützung auf die Weinsteige – mit dem Fahrrad. (Text-Stand: 17.8.2017)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

SWR

Mit Richy Müller, Felix Klare, Amelie Kiefer, Daniel Nocke, Bernd Gnann, Susanne Wuest, Julia Heinemann, Eckhard Greiner, Deniz Ekinci, Jacob Matschenz, Sanam Afrashteh, Roland Bonjour, Anastasia C. Zander, Oliver Gehrs, Mimi Fiedler, Odine Johne, Sabine Hahn

Kamera: Andreas Schäfauer

Szenenbild: Klaus-Peter Platten

Schnitt: Sabine Garscha

Musik: Dietrich Brüggemann

Casting: Birgit Geier

Produktionsfirma: Südwestrundfunk

Drehbuch: Dietrich Brüggemann, Daniel Bickermann

Regie: Dietrich Brüggemann

Quote: 9,32 Mio. Zuschauer (27,2% MA); Wh. (2019): 4,45 Mio. (15,5% MA)

EA: 10.09.2017 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach