Nadine muss ihren Liebsten retten. Paul hat mitten in einem Bewerbungsgespräch eine Panikattacke erlitten und sich in einem Raum eingesperrt. Gleich zum Einstieg macht Autor und Regisseur Michael Fetter Nathansky mit einem zauberhaften Einfall auf seinen Film neugierig: Paul tritt in unterschiedlichen Gestalten in Erscheinung. Er ist Mensch oder Tier, jung oder alt, Mann oder Frau. Das Publikum sieht also Nadines Projektionen, die gleichsam ihre eigenen Rollen in der Liebesbeziehung spiegeln. Nadine besänftigt, tröstet, ermutigt. Sie ist die Aktive, die Starke, die sich nicht aufhalten lässt, aber manchmal sucht sie auch in Paul eine Person, an die sie sich anlehnen kann. Der Titel „Alle die du bist“ mag vor allem auf das magische Stilelement und den vielgestaltigen Paul anspielen, aber man kann ihn auch auf die Hauptfigur münzen. Denn Nathansky gelingt ein facettenreiches Frauen-Porträt.
Foto: ZDF / Jan Mayntz
Die Bildgestaltung von Jan Mayntz rückt Nadine konsequent in den Mittelpunkt, zeigt ihr Gesicht häufig in Nahaufnahme, nimmt ihren Blickwinkel ein. Die Kamera erzeugt eine intime Atmosphäre, die die irritierende Idee der wechselhaften Gestalt Pauls überzeugend ergänzt. Die wesentliche Last ruht also auf Hauptdarstellerin Aenne Schwarz, deren berührendes und intensives Spiel keine Langeweile aufkommen lässt. Dies ist aber auch ein Verdienst des Autors und Regisseurs: Nathansky arbeitet mit moderaten Zeitsprüngen, lässt biographische Lücken und Raum für Interpretationen. In Rückblenden sieht man Nadines schwierigen Start als alleinerziehende Mutter im Rheinland, das Kennenlernen von Paul, das Zusammenleben mit den beiden Töchtern, von denen die ältere von einem anderen Mann stammen muss. Aus der anfangs verschlossenen, einsilbigen Nadine, die kaum jemanden anzuschauen wagt, ist in wenigen Jahren die allseits geachtete Sprecherin ihrer Abteilung geworden.
Es gibt jedoch keine erkennbaren Entwicklungsschritte, der Wandel geschieht sprunghaft, bleibt unerklärt. Es gibt keinen allwissenden (Drehbuch-)Schöpfer, der auf alle Fragen eine Antwort wüsste. Nadine ist in der Gegenwart diejenige, die immer die Ruhe bewahrt und die alle um Rat fragen. Auch die Zweifel an ihrer Liebe zu Paul kommen eher unverhofft, weil sich eben die eigenen Gefühle nicht immer erklären lassen: „Kennst du das, dass du manchmal einen fremden Mann anguckst und es komisch findest, wie der redet oder was er sagt und nach einer Weile fällt dir auf, dass er dein Mann ist?“, fragt Nadine ihre Arbeitskollegin und Freundin Ajda. Das Stilmittel, Paul in verschiedenen Gestalten auftreten zu lassen, bleibt gleichzeitig keine Kunst um ihrer selbst willen, sondern veranschaulicht immer wieder Nadines wechselnden Blick auf den Partner, ihre Gefühle und Erwartungen in den jeweiligen Situationen. So entwickelt sich im Grau der Industrielandschaft eine herzergreifende und ganz und gar wahrhaftig anmutende Liebesgeschichte. Und mit Carlo Ljubek und Youness Aabbaz als Paul sowie Sara Fazilat als Ajda hat Aenne Schwarz erstklassige Spielpartner:innen.
Foto: ZDF / Jan Mayntz
Rundum überzeugend wird Nathanskys Film aber erst, weil auch das rheinische Braunkohlerevier mehr als nur irgendeine beliebig imposante Kulisse ist und das Arbeitermilieu stimmig und respektvoll erzählt wird. Über allem schwebt nach dem Kohleausstieg die Sorge um die Zukunft. Das Revier wird hier ohne die gewaltigen Bagger in Szene gesetzt, und der Kraftwerksblock ragt zwar mal mächtig in den Himmel. Aber Autorenfilmer Nathansky schildert lieber präzise die Stimmung im Mikrokosmos einer Abteilung, in der sich Nadine, Paul, Ajda und weitere Arbeiterinnen und Arbeiter um die Instandhaltung von Maschinen kümmern. Es geht rau und physisch zu, dennoch gelingt eine nahezu klischeefreie Inszenierung der Arbeit und der Konflikte zwischen Resignation und Solidarität. Klasse Typen und zupackende Dialoge in einer ungekünstelten Sprache, in denen das rheinische Idiom nicht überstrapaziert wird, lassen die Arbeitswelt im Kraftwerk „echt“ erscheinen.
Im Kino haben diesen eindrucksvollen Film, der immerhin vom Publikum beim Festival des deutschen Kinos 2024 in Mainz als bester Langfilm ausgezeichnet wurde, laut Angabe der Filmförderungsanstalt (FFA) lediglich 11.620 Zuschauer:innen gesehen. „Alle die du bist“ hat zweifellos ein größeres Publikum verdient. Das ZDF zeigt die vom Kleinen Fernsehspiel betreute Produktion nun im Rahmen seiner Reihe „Shooting Stars“ und stellt den Film (leider nur 90 Tage) in der Mediathek zur Verfügung.