Arnold Stein (Ulrich Matthes) kehrt mit seinem Hund durch eine tief verschneite Winterlandschaft zur Berghütte zurück, entdeckt Einbruchsspuren und ein großes Durcheinander. Nach einem unvermittelten Zeitsprung sieht man den Lehrer – noch ohne Vollbart – in seinem früheren Leben: Sohn Chris (Samuel Schneider), ein Zeitsoldat, tritt in zwei Tagen seinen Auslandseinsatz an. „Red‘ ihm das aus“, fordert Arnolds Frau Karen (Barbara Auer), die ebenfalls Lehrerin ist. Arnold selbst ist Pazifist, hat den Kriegsdienst verweigert, kann Chris („Ohne Soldaten gibt es nicht weniger, sondern mehr Krieg“) aber nicht überzeugen. Ihre Mittelschichts-Welt ist bis dahin intakt, und das Verhältnis zwischen den Eltern und dem einzigen Sohn sowie dessen Freundin Sandra (Lily Epply) ist keineswegs angespannt, wie man es vielleicht in einem Familiendrama erwarten würde, sondern vertrauensvoll. Chris nimmt seinen Vater in den Arm, versucht ihm die Sorgen zu nehmen: „Ist doch halb so wild.“ Man ahnt als Zuschauer, was kommt, aber dieses Quäntchen Vorhersehbarkeit nimmt dem Film nichts von seiner Spannung und Kraft.
Gewaltige Schneemassen und klirrende Kälte
Von besonderer Wucht sind die Winterbilder, doch die Berglandschaft in den österreichischen Alpen – gedreht wurde im Januar im Tiroler Navis-Tal – sind nicht nur schöne Kulisse. Die Schneemassen sind gewaltig, die Anstrengung eines zurückgezogenen Lebens ist sichtbar groß. Was muss alles geschehen sein, damit sich ein Mann für ein solches Dasein entscheidet? Die klirrende Kälte ist auch Metapher für den inneren Zustand des Protagonisten und kontrastiert extrem mit den im April in Berlin gedrehten, weitgehend in der behaglichen Wohnung der Familie Stein spielenden Rückblenden. Zeitlich gesplittete Dreharbeiten, „das ist produktionstechnisch nicht einfach, weil man zweimal den ganzen Apparat des Drehs anwerfen muss. Aber es war mir sehr wichtig, dass sich die zwei Ebenen visuell voneinander unterscheiden“, sagt Regisseur Rick Ostermann. „Fremder Feind“, Ostermanns zweiter Langfilm nach „Wolfskinder“, hatte seine Uraufführung beim Filmfestival Venedig und wurde außerdem noch bei den Festivals in Zürich und Köln auf der großen Leinwand gezeigt – für einen Fernsehfilm eine ungewöhnliche Karriere, die angesichts der „großen“ Bilder aber nicht von ungefähr kommt. Auch nicht alltäglich: „Fremder Feind“ ist die Verfilmung des Romans „Krieg“ von Jochen Rausch, der im Hauptberuf beim WDR stellvertretender Hörfunkdirektor ist. Der vielseitige Rausch – ein Radiomacher, Musiker und Schriftsteller – hat in dem Film übrigens einen kleinen Cameo-Auftritt, wenn auch nur als Foto auf einem Smartphone.
Zwei Zeitebenen als beständiges Wechselspiel
Bereits im Roman wird die Vorgeschichte des Aussteigers Arnold in Rückblenden erzählt, aber in der Verfilmung funktioniert die fließende Verschränkung der Zeitebenen geradezu auf bestechende Weise. So wie der eigentlich ferne Krieg für Chris‘ Eltern plötzlich nahe rückt und immer bedrohlicher wird, so steigert sich Arnolds Duell mit dem unbekannten Fremden, der erneut in seine Hütte einbricht und später sogar auf seinen Hund schießt. „Ich habe mich bewusst für zwei Ebenen aus dem Roman entschieden, um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, die Geschichte in einer komprimierten Form wahrzunehmen, aber auch um zu erzählen, wie sich der Krieg vom Inneren ins Außen und umgekehrt vom Außen ins Innere widerspiegelt“, sagt Drehbuchautorin Hannah Hollinger („Über Barbarossaplatz“ / „Grenzgang“). Das Hin & Her zwischen den Zeitebenen, anfangs noch gewöhnungsbedürftig, entwickelt eine eigene Dynamik und Spannung; die Wechsel können schließlich auch in kürzeren Abständen erfolgen, ohne dass dies die Zuschauer überfordern würde.
Die zerstörerische Kraft des fernen Kriegs
Arnold wird von seinem Sohn mit Mails und Fotos aus dem Krieg (augenscheinlich in Afghanistan) versorgt. Botschaften, die immer besorgniserregender werden und die Karen gar nicht lesen möchte. Erst beklagt Chris nur die Langeweile, dann berichtet er vom Selbstmord eines Kameraden, später davon, wie er selbst einen von den „Männern mit den Bärten“ erschossen hat. Arnold versucht, seine Frau vor der Wirklichkeit zu beschützen, verheimlicht auch in Chris‘ Auftrag Details und dreht das Radio ab, wenn von einem Anschlag die Rede ist („Das betrifft uns nicht“). Natürlich durchschaut Karen diese Strategie. Sie verliert den Halt, kann nicht mehr arbeiten, trinkt. Der ferne Krieg bestimmt das Familienleben, offenbart immer deutlicher seine zerstörerische Kraft auch auf der privaten und persönlichen Ebene. Parallel dazu erwacht im Aussteiger Arnold die Bereitschaft zur Gewalt. Den unbekannten, rücksichtslosen Mann zur Rede zu stellen, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn. Der Fremde wird zum Feind. Arnold findet ein Gewehr in der Berghütte, wo zuletzt ein Bildhauer wohnte. Er kauft ein Messer, stöbert das Zelt auf, in dem sein Widersacher, offenbar ein Aussteiger wie er selbst, irgendwo am Waldrand haust, fackelt es ab – und ist davon berauscht: „Der Stärkere besiegt den Schwächeren. So ist das im Krieg“, brüllt er ins Tal.
Wandlung vom Pazifisten zum wehrhaften Einzelgänger
Das Schreien & Schießen bleibt allerdings die Ausnahme. „Fremder Feind“ überzeugt gerade als leiser Film, der ohne überflüssige Worte auskommt und ganz seinen Bildern (Kamera: Leah Striker) und den großartigen Darstellern um Ulrich Matthes und Barbara Auer vertrauen kann. Die anfangs spärliche Musik steigert sich mit der Dramatik der Geschichte. Einen wuchtigen Akzent setzt Ostermann in der emotionalen Schlüsselszene mit der Arie „Lorsque vous n’aurez rien à faire“ aus der Oper Chérubin von Jules Massenet. Außerdem werden zwei Songs von Seasick Steve („Seasick Boogie“ und „Treasures“) eingebunden – Musik, die wunderbar zur Figur des Einzelgängers Arnold in der Einsamkeit des Winters passt. Ulrich Matthes vor allem trägt diesen Film mit seinem konzentrierten und andeutungsreichen Spiel. Dieser Arnold bleibt bis zuletzt, auch dank Buch und Regie, ein interessanter Charakter, dessen Wandlung vom erklärten Pazifisten zum wehrhaften Einzelgänger krass & konsequent erzählt wird. Er ist gewissermaßen ein Überlebender des Krieges, ein Verwundeter. Man ist zwar auf seiner Seite, leidet mit ihm, zumal der Hund (namens Hund), sein letzter verbliebener Gefährte, um sein Leben kämpft. Aber ein reiner Sympathieträger ist Arnold nicht. „Fremder Feind“ spiegelt in seinem persönlichen Schicksal die ethischen Fragen, die sich mit einer Kriegsbeteiligung ergeben. Eine eindeutige Botschaft trägt der Film nicht vor sich her.
Dichtes Ehe-Kammerspiel und konsequenter Alpen-Thriller
Während die Vorgeschichte wie ein dichtes Ehe-Kammerspiel erzählt wird, ähnelt die Parallelhandlung einem Alpen-Thriller mit Natur und Landschaft als weiteren Mitspielern. Mit wenigen prägnanten Figuren wie dem ruppigen Tierarzt (Thomas Loibl) und dem skurrilen Dorf-Sheriff (Felix von Bredow) versteht es Autorin Hannah Hollinger, das nahe Umfeld in dem kleinen österreichischen Ort im Schatten der Brenner-Autobahn zu skizzieren. Außerdem zeigt eine Touristin (Jördis Triebel) auffälliges Interesse an dem wortkargen Arnold. So hält die an sich recht vorhersehbare Geschichte doch einige Wendungen und Überraschungen bereit. Wie für den Soldaten Chris bleibt auch für Arnold (und uns Zuschauer) der Feind fremd und namenlos. Die schemenhafte Figur verkörpert nichts als Bedrohung. Das ist nur konsequent, denn auf namenlose Feinde schießt es sich leichter. (Text-Stand: 30.1.2018)