Die Geschichte
Juni 1945: Schwer verletzt und mit entstelltem Gesicht wird die Auschwitz-Überlebende Nelly von Lene, einer Freundin aus Vorkriegstagen und Mitarbeiterin der Jewish Agency, in ihre alte Heimat Berlin gebracht. Kaum genesen von einer Gesichtsoperation macht sich Nelly – den Warnungen Lenes zum Trotz – auf die Suche nach ihrem Mann Johnny, obwohl er sie gegen Ende verraten haben soll. Als Nelly ihn endlich aufspürt, erkennt er in ihr nicht mehr als eine beunruhigende Ähnlichkeit. Johnny schlägt Nelly vor, in die Rolle seiner totgeglaubten Frau zu schlüpfen, um sich das Erbe ihrer im Holocaust ermordeten Familie zu sichern. Nelly lässt sich darauf ein und wird ihre eigene Doppelgängerin. Sie möchte wissen, ob Johnny sie je geliebt hat oder vielleicht sogar ihr Verräter war. Die junge Frau hält krampfhaft an ihrer verlorenen Identität und dem Glauben fest, dass sie durch Johnny ihr altes Leben wiedererlangen kann. Je ähnlicher sie der vermeintlich Toten wird, um so verzweifelter und irritierender wird Nellys Verhältnis zu Johnny. Wird er die Wahrheit gestehen?
Die Grenzen des starren deutschen Geschichtskinos überwunden
In Deutschland wurde ja viele Jahrzehnte darüber diskutiert, wie und ob überhaupt man den Genozid im Film darstellen darf. Ob man das Unvorstellbare in den Lagern fiktionalisieren, ob man das Unzeigbare vor den Öfen von Auschwitz als Setting für einen Spielfilm nutzen darf. Ist inzwischen alles geschehen. Als umso größere Provokation wirkt deshalb Christian Petzolds neuer Film „Phoenix“, der am Freitag auf dem Filmfestival von Toronto uraufgeführt wird. Authentifizierungsbilder des Grauens sucht man hier vergebens: Der Holocaust wird mit den Mitteln des Melodrams und des Film noir in die unmittelbare Nachkriegszeit gehoben, er ist Hintergrund für eine Geschichte um Begehren und Betrug, um Verführung und Manipulation… In der zentralen Szene von „Phoenix“ modelliert denn auch Johnny seine Nelly so detailversessen und mit wahnhaftem Blick wie einst James Stewart seine Filmpartnerin Kim Novak in „Vertigo“ zurecht. Er baut sich seine neue Realität einer alten, längst nicht mehr vorhandenen nach. (Christian Buß: Spiegel online)
Äußeres vs. inneres Ich, Fremdbestimmtheit vs. Selbstbehauptung
Petzolds Blick … fügt etwas zusammen, das in den meisten einschlägigen Werken getrennt verhandelt wird: Hier das Grauen der Lager, dort die Trümmerstädte. Phoenix stellt eine Analogie zwischen dem Wiederaufbau der Häuser und Nellys zerstörtem Gesicht her. Beide werden aus Trümmern wieder zusammengesetzt, wobei ein Teil der Vergangenheit verschüttet wird… Phoenix ist ein fesselnder, ästhetisch exakt durchkomponierter Film mit zwei großartigen Hauptdarstellerinnen (besonders Nina Kunzendorf kann über ihre Tatort-Rolle weit hinauswachsen). Aber was hier ausnahmsweise noch entscheidender ist: Es ist ein Film, der es sich nicht leicht macht. Keine einfachen Lösungen, keine binären Oppositionen. Wird Nelly am Schluss wirklich wieder ganz sie selbst? Wahres oder falsches Ich? Darauf gibt es zum Glück keine eindeutige Antwort. Stattdessen endet der Film damit, dass Nelly ein Gebäude verlässt. Man sieht sie nur noch von hinten. Aber das hat sie nun immerhin wieder selbst entschieden. (Julia Dettke: ZEIT online)
Nina Hoss & Ronald Zehrfeld: das Petzold-Paar schlechthin
Sie sehen interessant zusammen aus, sie hoch aufgerichtet, zurückhaltend, streng, er fleischiger, sinnlicher, dem Leben mehr zugewandt. Aber hier spielt Zehrfeld unsicher, als sei ihm seine Rolle nicht ganz geheuer. Und Nina Hoss findet auf die Frage, wie jemand geht, der die Lager überlebt hat, die Antwort: tastend, trippelnd, kraftlos. Und wenn Nelly beginnt, für Johnny sich selbst zu spielen, tut Nina Hoss das geflissentlich, ein wenig unterwürfig. Das ist schwer mit anzusehen. Aber sie gewinnt daraus eine Stärke… Petzolds Liebesversuch aber ist die Geschichte einer Rekonstruktion, der Rekonstruktion einer Lebensgeschichte, in der ein rotes Kleid und Schuhe aus Paris eine Rolle spielen, was im Film natürlich großartig aussieht, aber auch eine wichtige Funktion darin hat, wie Nelly für Johnny wiedererkennbar wird. Die Regeln des Genres und die Strategien eines versuchten Betrugs und der verzweifelten Suche einer Frau, die Auschwitz entkommen ist, nach sich selbst fallen hier in eins… Nelly sucht nach ihrer Geschichte, nach dem Erzählbaren, und am Ende geht sie als Protagonistin ihrer Rückkehr aus dem Film, nicht als Opfer einer zerstörten Liebe. Das ist ein gutes Ende. Das ist auch ein großer melodramatischer Abgang. (Verena Lueken: FAZ.net)
Ein Film über ein Trauma, das sich wie in Trance durchleben lässt
Es gibt die Chance, in diesem Film verloren zu gehen, gleich zu Beginn. Die Leinwand ist noch schwarz, da beginnt ein gezupfter Kontrabass eine karge, seltsam ergreifende Melodie. Ein Klavier antwortet ihm, im Wechselspiel, mit wenigen Akkorden. Es sind die ersten Takte von „Speak Low“, jenem Song von Kurt Weill aus dem Jahr 1943, der Christian Petzolds „Phoenix“ seine Seele und seinen Rhythmus gibt – bis hin zu seiner triumphalen Wiederkehr im Finale, wo die Musik das letzte Wort behalten darf… Der Film aber verlangt vor allem nach einer persönlichen Reaktion: Spürt man die Traurigkeit in diesem kleinen Song, den Kurt Weill für ein Musical geschrieben hat, „One Touch of Venus“? Ist man bereit für eine Fahrt in die Nacht, und vielleicht sogar, dabei verloren zu gehen? „Speak Low“ jedenfalls endet nicht wie üblich auf dem Grundton, sondern auf der großen Sexte. In der Musik ist das der schwebendste, geheimnisvollste Schluss überhaupt. (Tobias Kniebe: Süddeutsche.de)