Polizeiruf 110 – Tatorte

Matthias Brandt, Barbara Auer, Maryam Zaree, Christian Petzold. Seelenverwandt

Foto: BR / Claussen+Putz / Schulz
Foto Rainer Tittelbach

Der „Polizeiruf 110 – Tatorte“ ist der 15. und letzte Film des Münchner Reihenablegers, der dank Matthias Brandt acht Jahre lang ein reflektiertes, fast philosophisches Ermitteln zwischen Crime & Drama kultivierte. Zum dritten Mal hat Christian Petzold TV-Krimi & Arthaus-Drama miteinander versöhnt. Sein auf Distanz bedachtes Erzählen und seine Sicht auf die Realität ist sehr ähnlich jenem phänomenologischen Blick, mit dem Hanns von Meuffels stets kritisch die Wirklichkeit abtastet und eine Haltung zu den Menschen und den Dingen sucht, anstatt vorgefertigte Meinungen zu reproduzieren. Vor lauter Liebesleid kann sich der Kommissar nur schwer auf diesen letzten Fall konzentrieren. Und so schleicht sich Melancholie in Bilder und Töne dieses mehr als würdigen Finales für Brandt und seinen blaublütigen Kommissar. Tonlagenstark – zwischen Helden-Tristesse, selbstreferentiellem Augenzwinkern, Schock & tiefer Tragik – gerät nicht nur das unkonventionelle Finale.

Auf diese offensichtliche Beziehungstat kann sich von Meuffels nur schwer einlassen
Eine Frau ist vor den Augen ihrer siebenjährigen Tochter erschossen worden, und auch auf das Kind wurde ein Schuss abgegeben. Dauerregen hat mögliche Hinweise auf den Täter verwischt. Ungewöhnlich ist nicht nur der Tatort, das Gelände eines ehemaligen Autokinos, auch ein Mordmotiv ist für Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) nur schwer auszumachen. Für Nadja Micoud (Maryam Zaree) indes, die junge Kollegin, die dem erfahrenen Kommissar in diesem Fall assistiert, ist das Szenario offensichtlich: ein Familiendrama – und der Ex-Mann der Ermordeten (Stephan Zinner) scheint der Täter zu sein. Eine Kurzschlussreaktion. Hintergrund der Tat könnte der Sorgerechtskampf sein, der nach Angaben einer psychologischen Betreuerin (Bettina Mittendorf) zwischen beiden tobte und krankhafte Züge annahm. Die Tote muss außerdem eine sehr unangenehme Person gewesen sein, die ihren Mann gehasst haben soll. Micouds Version wird von den Aussagen des traumatisierten Mädchens gestützt: Es will seinen Vater als den Mörder der Mutter erkannt haben. Warum aber soll der Vater auf sein eigenes Kind geschossen haben? Ein verzwickter Fall, auf den sich einzulassen, von Meuffels schwer fällt. Gerade erst hat ihn seine Kollegin Constanze Hermann (Barbara Auer) verlassen, ist aus der gemeinsamen Münchner Wohnung ausgezogen und arbeitet nun als Ausbilderin beim LKA Nürnberg. Als die Nachricht vom „Autokino“-Mord eintrifft, versucht er gerade, die Beziehung zu retten. Zunächst ohne Erfolg.

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Vervielfachung der Blicke: Der Zuschauer sieht, wie und was die Hauptfiguren sehen. Eine filmische Möglichkeit, narrative (visuelle) Dichte zu erzeugen, statt dem Zuschauer verbale Erklärungen zu geben. Maryam Zaree, Matthias Brandt, Michael Witte

Der phänomenologische Blick auf die Welt verbindet Kommissar und Regisseur
Der „Polizeiruf 110 – Tatorte“ ist der 15. und letzte Film des Münchner Reihenablegers, der dank Matthias Brandt acht Jahre lang ein hoch reflektiertes, manchmal geradezu philosophisches Ermitteln zwischen Crime und Drama kultivierte und der dem deutschen Fernsehen damit einen festen Krimi-Platz jenseits des Mainstreams schenkte. Christian Petzold hat den Ausstand geschrieben und inszeniert, nach „Kreise“ und Wölfe“ ist es die dritte Arbeit von Deutschlands führendem Autorenfilmer für die ARD-Reihe. Wie er seine Geschichten erzählt und wie er die Welt sieht, das ist wesensverwandt mit jenem phänomenologischen Blick, mit dem Hanns von Meuffels zweifelnd die Wirklichkeit abtastet und eine Haltung zu den Menschen und den Dingen sucht, anstatt vorgefertigte Meinungen zu reproduzieren. Einfühlsam näherte sich dieser Kommissar möglichen Tätern, stieß dabei häufig auf Seelenverwandte, aber nicht auf das private Glück. Auch mit Constanze Hermann, einer exklusiven Partnerschaft der Petzold-Episoden, war es nie leicht. In den zwei Vorgängerfilmen wurde allenfalls ein Versprechen gegeben. Beide, insbesondere von Meuffels, sehnten sich so sehr nach Nähe, dass sie gegen alle Widerstände zum Paar wurden – im Off der Reihe. „Tatorte“ zeigt nun, was nach der Trennung noch möglich ist. Alles wieder mehr oder weniger auf Anfang. Für Filme, wie sie Petzold macht, ist die Sehnsucht spannender als der Vollzug. Und so schleicht sich von Beginn an Melancholie in Bilder und Töne dieses mehr als würdigen Finales für Brandt und seinen blaublütigen Kommissar.

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Kinoregisseur Christian Petzold bevorzugt in „Tatorte“ Totalen. Der Zuschauer kann sich so selbst einen Reim auf die Bilder machen. Am Anfang steht eine Hinrichtung.

Der erschöpfte, schnell genervte Kommissar dachte schon öfter ans Hinschmeißen
Bei diesem Abschlussfall gibt es weder einen Antagonisten noch einen jener Verbündeten aus der Nicht-Polizeiwelt. Der Ermittler steht zwischen zwei Frauen, zwischen Beruf und Privatleben, zwischen Pflicht und Neigung. Da ist seine Liebe, der er hinterher trauert, da ist die neue Kollegin, die stolz darauf ist, mit dem großen von Meuffels zu arbeiten, und die ihn mit ihrem Eifer beeindrucken will. „Jung, hübsch, ehrgeizig?“, fragt seine Ex am Telefon, und der Kommissar bestätigt, „alles drei“. Doch diese Frau interessiert ihn genauso wenig wie der Fall. „Hanns von Meuffels ist erschöpft. Alles ist ihm entglitten. Die Liebe, die Arbeit. Er hält sich nicht mehr aus“, bringt Petzold die seelische Verfassung der Hauptfigur auf den Punkt. Schon der vorausgehende Fall war eine Vorlage zum Schlussmachen. In „Das Gespenst der Freiheit“ waren es die Dumpfheit junger Neonazis, die Dummheit seiner Vorgesetzten und ein über Leichen gehender Verfassungsschutzbeamter, die von Meuffels still vor sich hin leiden ließen. Jetzt, wo das Liebesleid hinzukommt, ist er tief verzweifelt. Als ihm dann auf der Zielgeraden auch noch Anna Burnhauser (Anna Maria Sturm), seine junge Kollegin aus den ersten fünf Fällen, begegnet und sie ihm wenig Erfreuliches von damals zu berichten weiß („Schön war‘s nicht bei Ihnen“), ja, sie ihn sogar daran erinnert, dass er schon vor Jahren hin und wieder ans Hinschmeißen dachte („kein Beruf sowas“), nimmt das mögliche Ende mehr und mehr Konturen an. Dass es schließlich etwas anders kommt als vermutet, hochdramatisch, dann auch wieder nicht, und dass sogar noch Laurel & Hardy den Schlussakkord begleiten werden – das alles sorgt für einen tonlagenstarken, unkonventionellen Abgang.

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Constanze Hermann (Barbara Auer) bereitet einen Tatort für ihre Auszubildenden vor. Im „Tatort“ erfährt man selten so viel über die Theorie des Tatort-Lesens wie in diesem „Polizeiruf 110“. Und das von Petzold, der nicht gerade als Krimi-Experte gilt.

Ein Fernsehheld, getaucht in realistisches Licht, und das Mythische des Kinos 
Und Hanns von Meuffels muss sich aufraffen, um den Fall zu Ende zu bringen. Kurz vor Schluss werden – wie zu Beginn – wieder Schüsse fallen. Jetzt ist der Tatort kein leerstehendes Gelände irgendwo vor München, jetzt ist es ein Hochhausflur, ein ähnlich ungemütlicher Ort. Wieder bleibt die Kamera auf Distanz. Kinoregisseur Petzold liebt die Totalen, in denen Atmosphäre die Aktionen überdeckt. Es sind existentialistisch anmutende Szenerien, wie sie stilbildend Jean-Pierre Melville („Vier im roten Kreis“, „Der Chef“) in seinen Gangster- und Polizeifilmen verwendet hat. Ikonografisch, weniger moralisch, kam Matthias Brandts Figur denn auch zu Beginn der Reihe den großen französischen Film-Noir-Schweigern im Trenchcoat ziemlich nahe. Auch das Spiel mit Licht und Schatten sticht einem bei Hans Fromms Kameraarbeit sofort ins Auge. Es ist nur selten eine bewusst artifizielle Bildgestaltung (wie die Bilder, in denen Brandts Gesicht sich vom Nachtdunkel abhebt), vielmehr dominiert das real vorhandene Licht. Auf dem Parkplatz beim Nachstellen des Tathergangs beeinflusst das Wetter die sinnliche Kraft dieser Bilder. Sonne und Wolken werden zu Helfershelfern des Authentischen, und am Ende dieser Szene strahlt ein weiter Himmel, wie man ihn im Fernsehen sonst nicht zu sehen bekommt. Die Szene besticht allerdings auch durch ihren Inhalt. Es ist ein sogenannter „Power-Dialog“, bei dem Anbrüllen schon mal erlaubt ist. Er ist das Gegenteil von dem braven Dialogisieren, wie es die Polizistin in der Ausbildung gelernt hat. „Die Beteiligten trugen Masken“, sagt die Informierende; der zuhörende Beamte fragt daraufhin: „Was für Masken?“ Nadja Micoud hat diese Technik drauf, und von Meuffels ist etwas genervt. „Dialogisch kommt man weiter als allein“, auch diesen Lehrsatz würde er nicht unterschreiben. Vielmehr kontert er: „Das ist ja wie im Fernsehen.“

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Große Szene, starke Metapher: das stillgelegte Autokino korrespondiert mit dem Motiv der abgelegten Liebe. Und auch das Beziehungsspiel zwischen Nadja Micoud (Maryam Zaree) und Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) steckt voller Ironie.

Meine persönliche Top 7 des „Polizeiruf 110“ mit Matthias Brandt:
1. „Morgengrauen“ mit Sandra Hüller. Buch/Regie: Alexander Adolph
2. „Der Tod macht Engel aus uns allen“ mit Lars Eidinger. Von Schütter/Bonny
3. „Fieber“ mit Georg Friedrich. Buch: Buresch/Pacht. Regie: Handloegten
4. „Tatorte“ mit Auer & Zaree. Buch/Regie: Christian Petzold
5. „Kreise“ mit Auer & von Dohnányi. Buch/Regie: Christian Petzold
6. „Cassandras Warnung“ mit Ronald Zehrfeld. Buch: Schütter. Regie: Graf
7. „Nachtdienst“ mit Schwarz & Jacobi. Von Bogenberger/Ströher/Kaufmann

Selbstreferentiell, ironisch, der Krimiplot nicht gedrechselt, sondern „wie im Leben“
Kinoregisseur Petzold macht sich also ein bisschen lustig über den stereotypen Buddy-Talk durchschnittlicher Fernsehkrimis, der Kommunikation nur simuliert und der vor allem dazu da ist, den Zuschauer zu informieren. Das ist im Übrigen nicht die einzige Stelle, an der es im Film selbstreferentiell zugeht. Als das Mädchen der Ermordeten sich von ihrem Vater abwendet, findet Micoud die Reaktion ungewöhnlich. „Die Welt ist eben nicht immer wie 20.15 Uhr“, entgegnet ihr der Kommissar. Darauf die Kollegin: „Ich schaue kein Fernsehen.“ Bei aller Tragik und Tristesse bleibt also immer noch Platz für ein Augenzwinkern zwischen dem Meister und seiner Schülerin. Und so ist der Schlagabtausch der beiden mindestens so spannend wie der Fall, der nicht konstruiert und klug gedrechselt ist wie in einem guten klassischen Krimi, sondern so schmutzig, so sprunghaft, so von Zufällen beim Ermitteln abhängig, wie es Verbrechen meist auch im echten Leben sind. Damit schließt sich der Kreis vom realistischen Licht zum realistischen Krimiplot – so wie Petzold beides versteht.

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Eine sehr schöne Idee, von Meuffels Anna Burnhauser (Anna Maria Sturm) begegnen zu lassen. Diese Szene ist aber keine nostalgische Reminiszenz, sondern sie rekurriert noch einmal auf das Wesen des Helden (ungeduldig, cholerisch, ein Mann von gestern, der über den Dingen des Alltags schwebt) und gibt dieser außergewöhnlichen Figur, die Fernsehgeschichte geschrieben hat, auch Reihen-intern eine Geschichte.

Ein Blut-Bad, ein Dampfbügeleisen, das Spiel der Blicke & der Generationswechsel
„Tatorte“ ist ein Krimi, der nicht nur aus der Perspektive der Kommissare erzählt wird, sondern der sich auch für nichts anderes zu interessieren scheint als die Befindlichkeiten der Ermittler. Von Meuffels dreht sich um sich selbst. Micoud will ihren Chef beeindrucken. Hermann unterrichtet den LKA-Nachwuchs im Lesen von Tatorten (und sie belässt es nicht dabei). Als von Meuffels sie eines Nachts überraschend besucht, inspiziert er ihre Wohnung wie einen Tatort, bevor er schweigend wieder geht. Auch darin unterscheidet sich Petzolds „Polizeiruf 110“ von den meisten anderen gut bis sehr gut gemachten ARD-Sonntagskrimis. Der Autor-Regisseur findet ständig Möglichkeiten, mit Blicken die Geschichte voranzutreiben. Da treffen der Ex-Mann der Toten und seine Tochter aufeinander und die Kommissare beobachten das Geschehen durchs Polizeiglas. Später werden sie Augenzeuge, wie die Tochter in Panik vor ihrem Vater wegläuft, der kurz darauf einen katatonischen Anfall erleidet. Und in einer ganz starken Szene sehen die Zuschauer, wie Ausbilderin Hermann Polizeianwärter einen Modell-Tatort, ein „Blut-Bad“ im wahrsten Sinne des Wortes, analysieren lässt. Sie selbst steht hinter Glas, fragt massiv beim Kripo-Nachwuchs nach und geizt nicht mit bissigen Einwürfen („Ich hasse Leute, die ‚ergo‘ und ‚quasi‘ sagen“), die sie in Richtung ihres Hanns loslässt; der nämlich steht im Halbdunkel, etwas abseits von ihr, und sieht seinerseits zu, wie sie ihre Schüler in Augenschein nimmt. Überhaupt hält sich von Meuffels auffallend zurück; so lässt er in einer nicht minder köstlichen Szene Micoud das Inhaberehepaar eines Swinger-Clubs befragen und beobachtet die absurde Situation unbeteiligt fast wie ein Außenstehender. Seine Hemden zu bügeln ist ihm fast wichtiger als der Fall – und so kauft er sich während der Dienstzeit nicht nur ein neues Handy, nachdem er sein altes gegen die Wand gefeuert hat, sondern auch ein Dampfbügeleisen. Das Handy macht ihm Anna fit, das Bügeleisen kann man später im Papierkorb entdecken; offenbar war ihm vor lauter Liebesleid die Gebrauchs-Anweisung zu kompliziert. Dieser Hanns von Meuffels bleibt bis zum Ende konsequent unzeitgemäß. Einer, der lieber zweimal nachdenkt, als voreilig zu handeln. Ein Zweifler, der nicht mehr so charmant ist wie 2011. Seine junge Kollegin könnte man als Vorausblick verstehen auf das, was beim BR-„Polizeiruf 110“ 2019 kommen wird: Die 31jährige Verena Altenberger („Magda macht das schon“) wird den 56-jährigen Matthias Brandt beerben.

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Reihe

BR

Mit Matthias Brandt, Barbara Auer, Maryam Zaree, Bettina Mittendorfer, Stephan Zinner, Wiebke Puls, Sascha Maaz, Anna Maria Sturm

Kamera: Hans Fromm

Szenenbild: K.D. Gruber

Kostüm: Katharina Ost

Schnitt: Bettina Böhler

Redaktion: Cornelia Ackers

Produktionsfirma: Claussen + Putz Filmproduktion

Produktion: Jakob Claussen, Uli Putz

Drehbuch: Christian Petzold

Regie: Christian Petzold

Quote: 8,14 Mio. Zuschauer (23% MA)

EA: 16.12.2018 20:15 Uhr | ARD

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