Gerade erst den Tumor besiegt, hat es ein neues Geschwür auf den LKA-Kommissar Felix Murot abgesehen. Es ist ein Produkt aus Rache und Wahnsinn, das 30 Jahre Zeit hatte, heranzuwachsen. Sein Wirt ist der beste Freund aus Murots wilden Jahren: Richard Harloff. Gemeinsam waren sie auf der Polizeischule, sie liebten dieselbe Frau – und sie teilten sie sich. Die filmreife ménage-a-trois fand ihr Ende, als einer von beiden vom geraden Weg abkam, nach Bolivien ging und dort zum Drogenbaron aufstieg und der andere eine überschaubare Karriere beim BKA machte. Nun scheinen sie erbitterte Gegner zu sein. Harloff ist offenbar in seine alte Heimat gekommen, um abzurechnen. Aber mit wem? Warum? Und weshalb erst jetzt? Murot fühlt sich keiner Schuld bewusst. Er hat den Freund damals nicht verraten. Er wusste nicht, dass Harloff Marihuana unterschlagen hatte. Und doch ist Felix Murot die Zielperson eines perfiden Racheplans. Er soll und wird überleben, 47 andere Menschen nicht.
Die ersten drei erwischt es auf einem Provinzbahnhof. Es sind die Bosco-Söhne. Sie erwarten Harloff, und sie werden hingerichtet wie von Profikiller-Hand, ohne dass der Bolivien-Heimkehrer auch nur einen Finger krumm macht müsste… Der „Tatort – Im Schmerz geboren“ kommt schnell zur Sache. Nicht nur was die Leichen, nicht nur was die Handlung angeht. Auch das Ästhetische stellt sich recht bald zur Schau. „Kein Blut, nichts ist real. Alles Trug, alles Illusion. Ein Bild“, parliert in feinstem Theaterdeutsch ein sichtbarer Erzähler als eine Art antiker Chorleiter, der sich später als eine Figur (allerdings mit kurzer Lebensdauer) entpuppen soll. „Schickt die Kinder rasch zu Bette. Uns bleibt nur der Trost des Jenseits.“ Deutschlands liebste Krimi-Reihe holt die Kunst-Banausen in den telegenen Musentempel. Doch keine Angst, dieser HR-„Tatort“ dekonstruiert zwar das Krimigenre, vergisst dabei aber – anders als Ulrich Tukurs irre komischer, Edgar-Wallace-verdächtiger Provinzausflug „Das Dorf“ – die Krimi-Handlung nicht. Und so gibt es alsbald die nächsten Toten. Erschossen, mal von langer Hand geplant und sadistisch vom Filmbösewicht ausgekostet, mal spontan, aber nicht weniger lustvoll in der Ausführung. Und einen Gegner zu ertränken (im Off versteht sich!) ist auch eine geeignete Tötungsart für einen Mann, der kreativ Rache nehmen will.
Ein Erzähler kommentiert wie ein antiker Chor das Geschehen:
„Im Laufe des Gesprächs musste Murot überrascht feststellen, wie er die Nähe eines Menschen genießen konnte, der den Großteil seines Lebens Tod und Verderben über andere Menschen gebracht hatte.“
Harloff ist ein unangenehmer Gegenspieler für Murot. Er ist ein harter Hund, der mit den Methoden der südamerikanischen Drogenkartelle im verschlafenen Wiesbaden aufschlägt. Aber er weiß vor allem auch, wie sein alter Freund tickt. Der wiederum kann in diesem Spiel, dessen Ziel er nicht kennt, nur reagieren. So entsteht bei aller Ironie und ästhetischer Distanz mit fortlaufender Spiel-Dauer – eine komplexe Grundspannung, in die vier Menschen hineingezogen werden: Murot, Harloff, sein Sohn David und Murots rechte Hand, Magda Wächter. Der Zuschauer weiß mehr als die „Guten“, anfangs, weil er die Gesetze des Genres kennt und weil der theatrale Erzähler den einen oder anderen Hinweis gibt, später dann erfährt der Zuschauer vorläufig als einziger des Rache-Rätsels Kern. Ab da kommt das klassische (Hitchcocksche) Suspense-Muster zum Tragen: Der Zuschauer weiß, was kommen wird, er kennt den perfide Plan – und ist gespannt, wie er sich abwenden lässt oder ob es überhaupt dazu kommen kann, dass das Böse bezwungen wird. So film- und genreästhetisch reizvoll die erste Stunde ist, so spannungstechnisch brillant ist die letzte halbe Stunde von „Im Schmerz geboren“. Das Ergebnis ist mehr als „klassisch spannend“. Denn zu dem Mitfiebern hinzu kommt immer noch das Staunen – über eine unerwartete narrative Wendung oder über eine ungewöhnliche filmsprachliche Lösung. Darin ähnelt dieser KrimiKrimi von Florian Schwarz nach dem Buch von Michael Proehl dem „Prinzip Tarantino“, das eben nicht nur Filmhistorie zitiert und ausstellt, sondern das Wohlbekannte durch eine konstruktive Kombination verschiedenster Erzählelemente auflädt und so eine eigene Dramaturgie hervorbringt zwischen Fluss und Stopp-Taste, zwischen Spannung und Überraschung, zwischen Gefühl und Effekt, zwischen physischer Erregung und ästhetischer Distanzierung. Das Ergebnis im Falle des HR-„Tatorts“ ist ein Fernsehfilm der Sinne, komplex und stilsicher, ein Krimi, der filmisch mitreißt und den Zuschauer herausreißt aus den eingefahrenen Sehgewohnheiten.
„All das passiert wegen dir. Du trägst die Schuld an allem, was passiert ist und noch passieren wird.“ (Richard Harloff zu Felix Murot)
Der Antagonist Harloff, der Mann mit dem Geheimnis und den Mafia-Methoden, ist der weitaus Aktivere in diesem Männerduell zweier ehemaliger Freunde. Für den Protagonisten Murot, dem als BKA-Mann rechtsstaatlich die Hände gebunden sind, ist der Profi-Kriminelle ein kaum bezwingbarer Gegenspieler. Das Böse ist reizvoller als das Gute. Shakespeares Dramen (und „Faust“ natürlich) haben es oft genug vorgemacht. Und so bekommt auch Ulrich Matthes weitaus mehr und vor allem Faszinierenderes zu spielen als Ulrich Tukur. Der eine gleitet aalglatt wie ein Reptil, wie eine verführerisch dreinblickende Schlange durch das von ihm dirigierte Geschehen. Der andere mit der schusssicheren Weste sieht ein wenig aus wie ein gepanzerter Don Quichotte, der gegen die Windmühlen des Bösen anrennt.
Auch wenn „Im Schmerz geboren“ sich alter und neuer Kulturschätze bedient, von der Bibel bis zu „Spiel mir das Lied vom Tod“, von der antiken Tragödie bis zum Action-Kino (mit seinen Freeze-Framme-Effekten), von Johann Strauss bis Truffauts „Jules und Jim“, so ist dieser „Tatort“ doch sehr viel mehr als ein postmodernes Zitaten-Schatzkästlein. Wie heißt es doch sehr richtig in der Begründung zum Bernd Burgemeister Fernsehpreis: Der Film sei „zukunftsorientiertes Fernsehen, das die Zuschauer aufregen wird – in vielerlei Hinsicht.“