Ein bizarr inszenierter Tatort. Eine Tote in einer Waldlichtung, bedeckt mit Blättern, notdürftig zu einem Grab aufgehäuft. Neben ihr das geliebte Schoßhündchen; es wurde ebenfalls getötet. Die Ermordete ist die Noch-Eigentümerin des größten Arbeitgebers in einer bayerischen Kleinstadt. Gerade wollte sie ihre Möbelmanufaktur an eine ausländische Firma veräußern, was die einst von allen heiß begehrte Frau zur meist gehassten in der Gegend machte. Hauptverdächtiger ist bald der Ehemann der Toten. Eine Augenzeugin will gesehen haben, dass jener Peter Brauer seine Frau in jener Lichtung gewürgt und getötet habe. Gesehen aus dem fahrenden Zug heraus? Kommissar von Meuffels ist skeptisch. „In Kleinstädten und Vororten wimmelt es vor falschen Zeugen“, belehrt er Constanze Hermann, die neue Kollegin an seiner Seite. Und ist dieser Brauer nicht ein zu großer Schöngeist, um ein Mörder zu sein?
Ein „Polizeiruf 110“ vom renommiertesten deutschen Autorenfilmer, der in seinen preisgekrönten Kinofilmen unversöhnlich deutsche Wirklichkeit seziert und dabei mit Vorliebe die Unvereinbarkeit von Geld, Glück und Gefühl als Grundthema durchscheinen lässt, wenn dieser Arthaus-Filmer par excellence einen Fernsehkrimi macht, dann darf man keinen klassischen TV-Genrefilm erwarten. Petzold ist kein Freund „amerikanischer“ Expositionen, er macht häufig die Nebensache zur Hauptsache, spiegelt gern in vermeintlich Randständigem das, worauf es ihm ankommt. Und so verzichtet er in „Kreise“ auf die obligatorische ausgiebige Tatort-Begehung, keine erste Einschätzung des Gerichtsmediziners, nur ein kurzer Schwenk über den Leichenfund. Stattdessen wird man als Zuschauer zuvor Zeuge einer absurden Suche des Tatorts in Form einer angespannten Fahrt der Kommissare durchs Unterholz. Und nachdem Petzold Hanns von Meuffels mehr die Aura des Ortes, an dem der Mord stattgefunden hat, einatmen ließ und sich die Kommissare auf der Rückfahrt kurz über ihre Einschätzung des Tatorts verständigten (der Täter muss das Opfer gekannt haben), geht es unkonventionell weiter. Statt sich übereifrig in die Ermittlungen zu stürzen, suchen die beiden erst einmal einen Schnellschuster auf, da sich die Kollegin im Wald einen Absatz abgerissen hat. Vor allem aber zielen diese ersten Minuten des Ermittlerpärchens auf das, was Petzold interessiert: wie Menschen ticken, wie sie ihre sozialen Rollen leben, wie sie miteinander umgehen, wie sie die Realität lesen. Und wer hat denn nun Schuld, dass sie sich im Wald verfahren haben? Offenbar von Meuffels. „Ein guter Verlierer sind Sie ja nicht“, stellt die Kollegin fest. „Ja, das ist eine Schwäche von mir. Zum Ausgleich bin ich nachtragend.“
Spricht da aus dem Designer Brauer Petzold & die Kritik am TV-Krimi?
„Immer kreist derselbe Zug um dieselbe Welt; nichts ändert sich. Aber ich suche etwas Neues, Anderes. Ich entwerfe, plane. Ich suche nach Möglichkeiten. Neue Situationen. Geschichten.“„Dieser Hanns von Meuffels ist wie ein Umherziehender im Exil. Das ist eine schöne, moderne Interpretation eines Polizisten. Er kann überall hinein, aber ist nie Teil von etwas.“ (Christian Petzold)
Ein Schlüsselsatz in Christian Petzolds Film:
„Ich kann auch nicht am Computer entwerfen. Ich muss es bauen, um es zu verstehen. Erst als Modell, erst wenn ich es verstanden habe, begriffen, von Greifen, Anfassen, dann kann ich es realisieren.“ (Designer Peter Brauer)
Es gibt in „Kreise“ – wie häufig in Petzolds Filmen, allen voran „Wolfsburg“ – auffallend viele Szenen, die im Auto spielen. Das Sitzen im Pkw betont im reduzierten, aufs Wesenhafte und Wesentliche konzentrierten Mikrokosmos dieses Regisseurs der Berliner Schule hier das Ausgeschlossensein, das Nicht-dazu-gehören zum „normalen“ Leben. Glück kann es nicht geben für diese professionellen Ermittler, die nur gut sein können in ihrem Beruf, wenn sie sich einschleichen in die Lebenswelten der Anderen, wenn sie taxieren & taktieren, wenn sie mit dem Gegenüber spielen. Kann das eine Basis für Liebe sein? Der „Polizeiruf 110 – Morgengrauen“ gab eine erste Antwort. In „Kreise“ besteht von Meuffels’ Sehnsucht nach Glück offenbar weiter; sie wird (dank des grandiosen Spiels von Matthias Brandt & Barbara Auer) spürbar in den fein nuancierten Momenten in diesem gesicherten, faradayschen Käfig. Aber leidenschaftlich wie einst mit der von Sandra Hüller gespielten Gefängnispsychologin wird es nicht. Mit dieser „Constanze“, die sich wegen ihrer einstigen Alkoholsucht nach München hat versetzen lassen, ist nicht einmal eine kollegiale Freundschaft möglich. Das einzige Gefühl, das in „Kreise“ aus Beziehungen und Begegnungen resultiert, ist Melancholie.
Über dieses Duett ohne Bett hinaus herausragend sind auch die Szenen, in denen Hanns von Meuffels mit dem Tatverdächtigen aufeinandertrifft, der offenbar allen Grund gehabt hätte, seine ignorante Frau zu töten. Justus von Dohnányi spielt ihn wunderbar sanft als kultivierten Emporkömmling, dessen Leben – wie jener Peter Brauer selber sagt – grandios gescheitert ist. Zu Beginn ist es ein scheinbar belangloser Plausch über berufliche Leidenschaften und private Vorlieben. Später in der Untersuchungshaft bevorzugt der Kommissar dann eine seltsam mäandernde Verhör- und Fragetechnik, die er sich offensichtlich – wie er sagt – von einem Kriminalschriftsteller abgeguckt habe. Gehört von Meuffels’ wohlwollende Haltung mit zu seinem Katz-und-Mausspiel? Die Kollegin sitzt im Nebenraum, hört konzentriert zu und verfolgt Brauers Verhalten. Sie glaubt, deutliche Indizien für „Schuldverdrängung“ zu erkennen. Und dann hat sie, die die „Verhöre“ förmlich einsaugt, plötzlich eine Eingebung.
„Kreise“ ist spannend, weniger im Sinne eines Rätselkrimi-Plots, vielmehr dadurch, wie aus einer minimalisierten, auf variiert wiederkehrende Situationen bauenden Handlung sich nach und nach ein Krimi mit fast perfektem Mord herausschält. Der Film ist spannend, weil die reduzierten Dialogszenen so fesselnd sind, wie man es selten findet im deutschen Fernsehen. Und er ist ästhetisch anregend, weil er mit intelligenten, aufgeklärten Figuren agiert und mit einer Inszenierung aufwartet, in die sich des Öfteren auch schon mal eine Totale schleicht und die die nachdenklich-beobachtende Haltung des Kommissars vorzüglich trifft. „Kreise“ ist ein „Kopfvergnügen“, ohne auch nur eine Spur anstrengend zu sein. Dafür sorgen – vor allem für die Zuschauer, die wie die Hauptcharaktere, der Autor-Regisseur und der Kritiker in den 70er Jahren popkulturell sozialisiert wurden – die zahlreichen launigen kulturgeschichtlichen Einwürfe. Die Story kreist um den 10CC-Song „I’m not in Love“. Es folgen kleine Diskurse über die Modelleisenbahnen jener Zeit, Märklin und Fleischmann, über das Kultobjekt Musikbox, über den deutschen Beitrag zum Kneipen-Design („englische Pub-Line vs. bayerische Wirtshauslinie“) und die Kommissare kommen sich zumindest näher bezüglich ihrer Kennerschaft, was das Lied „Ein Schiff wird kommen“ angeht. Ob „Die Blechtrommel“, die gute alte Chiquita-Banane, die im Titel einer vorgestrigen Stripp-Bar verewigt wurde, oder ein Depardieu-Film, über den der Tatverdächtige minutenlang zu erzählen weiß – die Verwendung solcher populärer Codes ist im Fernsehen eher die Ausnahme. Und dass den Filmfiguren dieses kulturelle Wissen nicht auf der filmästhetischen Ebene aufgepfropft wird, sondern sie selbst „Inhaber“ dieser Mythologie der 70er sein dürfen, ist ganz besonders ungewöhnlich. Sogar von Meuffels’ neue Kollegin, Constanze Hermann, kennt sich aus: „Meine Mutter liebte Modezeitschriften – ‚Petra’, ‚Brigitte’, ‚Sibylle’ und eben ‚Constanze’“.