Polizeiruf 110 – Fieber

Matthias Brandt – ein Kommissar zwischen Realität und Wahnvorstellungen

Foto: BR / Krause-Burberg
Foto Rainer Tittelbach

Von Meuffels entkommt nur knapp dem Tod und ermittelt bald schon wieder – im Pyjama, den Infusionsständer in der Hand und mit 40° Fieber – in einer Voralpenklinik, die sich als Vorhof zur Hölle entpuppt. Hendrik Handloegtens „Fieber“ ist ein „Polizeiruf 110“, der mit den Konventionen des TV-Krimis bricht wie kaum ein anderer und zugleich hoch spannend ist. Der Zuschauer dringt ins Unterbewusstsein des Helden ein, wird Augenzeuge absurder Halluzinationsszenen, die getragen werden vom furiosen Georg Friedrich. TV-Ereignis!

Einsatz im Kindergarten. Ein Junkie richtet die Waffe auf ein Mädchen. Hektik, Geschrei, kein SEK in Sicht. Anna Burnhauser wagt den Alleingang. Ihr Chef von Meuffels folgt ihr, den Finger am Abzug. „Waffe runter!“ Es fällt ein Schuss. Hanns von Meuffels hat es erwischt. Sein Herz schlägt noch. Im OP tritt er aus seinem Körper und beobachtet aufmerksam seine Not-Operation. Neben ihm der Junkie, der ihm das alles eingebrockt hat. Der Kommissar schaut bei seiner eigenen Reanimation zu. „Wir verlieren ihn.“ Sorge? Tatsache? Kann der Himmel noch warten? „I’m in heaven“, singt Fred Astaire beim Flug über weiße Berggipfel.

Polizeiruf 110 – FieberFoto: BR / Krause-Burberg
Getrieben von Schlaflosigkeit: Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) ermittelt im Pyjama und am Tropf. Und nachts verfällt er in Fieberträume, die den Film für den Zuschauer besonders reizvoll machen.

Es wird keine Reise in den Himmel für Matthias Brandts „Polizeiruf“-Kommissar, eher in den Vorhof zur Hölle. In einem Krankenhaus am Rande der Alpen kommt er wieder zu sich. Doch das Titel gebende „Fieber“ wird noch lange sein Begleiter bleiben – wie Junkie Jürgen, der sich immer wieder in von Meuffels‘ (Halbwach-)Träume schleicht. Nachts kann der Herr Baron nicht schlafen, er geistert durch die Gänge. Und dann verschwinden plötzlich „d’Leit“ über Nacht aus ihren Krankenzimmern. Krankenscheine werden manipuliert, in Toten-Akten fehlen Seiten. „Hier stimmt was nicht“, flüstert er seiner Mitarbeiterin Anna zu – und die Neugierde obsiegt zwischenzeitlich über sein Fieber: Hanns von Meuffels kann auch ohne Mandat und Dienstwaffe ermitteln – im Flügelhemd, im Pyjama, den Infusionsständer in der Hand. Als die tablettensüchtige Ärztin, die „auspacken“ wollte, der Exitus ereilt, ist von Meuffels gewarnt. Sein Fieber steigt wieder. Muss er abermals um sein Leben bangen?

In „Fieber“ von Hendrik Handloegten verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnvorstellungen. Ein kranker Mann beobachtet das bedrohliche Treiben um sich herum. Anfangs weiß der Zuschauer nicht, ob hier das Fieber eine Verschwörungstheorie hervorbringt oder ob tatsächlich seltsame Dinge vorgehen in dieser Voralpenklinik, bei der bereits die Chinesen einen Fuß in der Tür haben. Im Buch von Alex Buresch und Matthias Pacht funktioniert dieses Grenzgängerische ausgezeichnet, weil fast jede Szene von der Warte der Hauptfigur aus erzählt wird. Filmisch geht die Rechnung mit der Einheit von Zeit, Ort und Handlung auf durch die Präsenz von Matthias Brandt als Beobachter, die feinmotorische Kamera, die bei Gegenschnitten oft dessen Position einnimmt, und durch einen wunderbar akzentuierten Erzählrhythmus, mal gleitend, mal drängend, durch den Fluss der Bilder, in denen der ganz normale Krankenhausalltag nahtlos in irreale, halluzinatorische Szenen übergeht. Wesentliche Informationen für den Krimi, Futter für die grauen Zellen des Zuschauers, vermischen sich mit Atmosphärischem, bei dem die Phantasie des Betrachters gefordert ist. Der Handlungsfluss entspricht dem Bewusstseinsstrom des Helden.

Polizeiruf 110 – FieberFoto: BR / Krause-Burberg
So fängt der ganze Schlamassel an: Ein Junkie (Georg Friedrich) dreht durch – und drückt ab.

Diese Subjektivierung, diese Identifikation, dieses „Mitgefühl“ mit dem niedergeschossenen Kommissar, braucht man auch bei diesem Film, der mit den Konventionen des TV-Krimis bricht wie kaum ein anderer. Wann entwickelt sich schon mal ein Krimi so leise, so schleichend zu einem filmischen Alptraum, aus dem sich auch noch ganz nebenbei ein Thema herausschält: der finanzielle Druck der Krankenhäuser und die Gefahren der Privatisierung! In welchem Krimi dringt man schon mal ins Unterbewusstsein des Kommissars ein, wird Ohrenzeuge seiner Ängste? Und wann unterläuft man schon mal so intelligent und spielerisch die Sehgewohnheiten der Zuschauer? Die Theater erfahrenen Schauspieler Brandt und der die gemeinsamen Halluzinationsszenen „führende“ Georg Friedrich – sein Junkie lockt, provoziert, desillusioniert – liefern hier hoch konzentrierte theatrale Zwischenspiele, absurde Miniaturen, die einen Staunen machen: es sind Dialoge mit einem Toten. Im Krimi gibt es ständig Tote. Auf die Idee, dass man mit ihnen in einem Zwischenreich Kontakt aufnimmt, ist hierzulande noch niemand gekommen. Dieser einzigartige „Polizeiruf 110“ erinnert in seinen Stimmungen an Lars von Triers Grimme-Preis-gekrönte Mini-Serie „Geister“ (1994/97).

„Ich bin das Vieh, das du wegsperrst tief in dir drinnen jeden Tag“, wütet der Junkie im dramatischsten jener Fieberträume von Hanns von Meuffels. Der dem Tod Geweihte will den Kommissar hinüberziehen in sein Reich. Wieder wird dieser Augenzeuge seiner eigenen Not-Operation. Eine einzige Schneelandschaft, der Gipfel ruft, der Himmel kann nicht mehr warten. Von Meuffels reißt sich los. Wir verlieren ihn nicht. Er wird wiederkommen. Das ist er dem Zuschauer, das ist er dem Fernsehen schuldig! (Text-Stand: 6.10.2012)

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Mit Matthias Brandt, Georg Friedrich, Anna Maria Sturm, Peter Jordan, Margarita Breitkreiz, Walter Sittler, Ronald Kukulies, Stephanie Eidt, Jürgen Tonkel, Liv Lisa Fries

Kamera: Philipp Haberlandt

Schnitt: Vera van Appeldorn

Szenenbild: Börries Hahn-Hoffmann

Produktionsfirma: die film gmbh

Produktion: Uli Aselmann, Sophia Aldenhoven

Drehbuch: Alexander Buresch, Matthias Pacht

Regie: Hendrik Handloegten

Quote: 7,29 Mio. Zuschauer (19,6% MA)

EA: 04.11.2012 20:15 Uhr | ARD

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