Irgendwo im gottverlassenen Taunus. Eine schwarze Sixties-Mercedes-Stretch-Limousine fährt durchs Dorf. Ein Finsterling führt nichts Gutes im Schilde. Auch die sexy-sadistische Dorfärztin spritzt für ihr Leben gerne (Menschen zu Tode) – und geht sichtlich in ihrer Aufgabe auf. Der Dorfpolizist sorgt sich weniger um das Gemeinwohl als vielmehr um seinen kranken Sohn. Da hilft der Dorfmäzen gerne. Der thront in einem schlossähnlichen Anwesen auf dem Berg und hat seine „Untertanen“ fest im Griff. Und mittendrin der LKA-Beamte Felix Murot. Der mit dem Tumor im Kopf. „Man spürt die Dorfgemeinschaft“, argwöhnt er mit leiser Ironie. Diese Dorfgemeinschaft soll er noch zu spüren bekommen. Mit seiner „Lilly“ im Kopf, einem haselnussgroßen Tumor, ist er der perfekte Gast im Taunus: in Transplantanien.
Der „Tatort – Das Dorf“ ist ein Lust-Objekt für Filmfans. Die latente Angst zaubert eine Spielwiese von kafkaesker Bedrohlichkeit. Fritz Lang hat seine Finger im Spiel. Deutscher Expressionismus und Film Noir mit den Schatten und scharfen Kontrasten sowieso. Und Edgar Wallace grüßt schwarzweiß aus der Gruft. Tobias Langhoff gibt den Kinski, Barbara Philipp stiert wie Lil Dagovers „seltsame Gräfin“, Sylvester Groth hebt als Pathologe ab in Richtung Eddie Arent, was Ulrich Tukurs Murot gar nicht lustig findet: „Haben Sie einen Clown gefrühstückt heute morgen?“ Von Herren und Dienern, von Ober- und Untermenschen handelt der Film insgeheim. Dr. Mabuse und Lady Frankenstein weisen Whodunit und die üblichen „Tatort“-Gepflogenheiten in ihre Schranken. Und der Tumor des Helden tut ein Übriges, um die Handlung aus den Zwängen der Ermittlerroutine zu befreien. Die dumpfe Dorfkneipen-„Gemütlichkeit“ schlägt um in blanken Wahnwitz, als aus der Musikbox der „Ballroom Blitz“ fetzt. Später fegt Tukur cool über das schwarzweiß gestreifte Parkett, einem Fred Astaire oder Gene Kelly gleich, im Arm die auf Vamp Syd Charisse gestylte Claudia Michelsen. Das, was Charlie Chaplin als „Großer Diktator“ mit der Weltkugel anstellte, das vollbringt der LKA-Mann artistisch mit seiner „Haselnuss“. Und dass er die alte Bemering, die Mutter des Dorf-Patriarchen, gleich doppelt tanzen sieht und singen hört, das ist einerseits jener schmerzenden „Lilly“ in seinem Kopf geschuldet, aber das ist zugleich auch eine Hommage an die Kessler-Zwillinge und eine fast vergessene deutsche Unterhaltungstradition.
Was interessiert da noch der vermeintliche Streit innerhalb einer Erbengemeinschaft? Was interessiert da das Loch im Kopf des Opfers und was der Täter, der sich selbst gerichtet haben soll – den Murot tags darauf glaubt, flüchtend am Waldrand gesehen zu haben? Das ist der notwendige Rahmen für eine Geschichte, in der dem todkranken Ermittler schneller als erwartet das letzte Stündlein zu schlagen droht. Macht der Frankfurter HR-„Tatort“ mit Kunzendorf und Kròl vieles anders als andere Ermittlerkrimis, fällt „Das Dorf“ gänzlich aus dem „Tatort“-Rahmen. Dieser Film, die zweite Regie-Arbeit von Schauspieler Justus von Dohnányi auf Grundlage von Daniel Nockes Drehbuch, ist aus Raum und Zeit gefallen. Es ist ein ebenso artifizielles wie lustvolles Spiel, das aber nicht allein auf den Reiz des Wiedererkennens setzt. Ein intellektueller Spaß, der seinesgleichen im deutschen Krimi-Fernsehen sucht. Keine Frage, ein Kritiker-Film. Doch hoffentlich nicht nur! Auf jeden Fall ein TV-Stück, das einem lange in Erinnerung bleiben wird. (Text-Stand: 15.11.2011)