Filmbiografien aus dem 20. Jahrhundert beschäftigen sich häufig mit Prominenten, von denen es zahlreiche Originalbilder gibt. Auch dafür ist Franz Kafka zu früh, zu jung gestorben. Außerdem war er zu Lebzeiten nur wenigen bekannt, sein Ruhm als Schriftsteller entwickelte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt dennoch eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Kafka zumeist mit einem todernsten Gesicht in die Kamera blickt: Man sieht den Kopf eines jungen Mannes mit dunklen Haaren und dunklen Augen, leicht abstehenden Ohren und Mittelscheitel. Allzu viele Bilder von diesem Menschen tragen wir 100 Jahre später dennoch nicht mit uns herum. Keine schlechte Voraussetzung für eine Serie, die sich im „Kafka-Jahr“ dieser besonderen Figur der deutschsprachigen Literaturgeschichte widmen will.
Die Herausforderung ist jedoch keine Jahrestags-Pflichtaufgabe, denn Kafka ist nichts weniger als „der meistgelesene Autor deutscher Sprache“ (Wikipedia). Oder, wie Stefan Willeke in einem Dossier der „Zeit“ schreibt: „Kein deutschsprachiger Schriftsteller der Moderne wird weltweit so stark beachtet.“ Und Drehbuch-Autor Daniel Kehlmann, der selbst auch kein ganz unbedeutender Schriftsteller ist, sagt laut ARD-Presseheft: „Er ist einer der größten Schriftsteller von allen. Er gehört neben Homer, Dante und Shakespeare, neben Goethe oder Proust.“ So gesehen ist der Aufwand dieser Produktion angemessen beträchtlich: Der ORF und gleich alle neun Landesrundfunkanstalten der ARD legten sich gemeinsam ins Zeug. Dass nun insgesamt 13 Redakteurinnen und Redakteure das Projekt betreuten (oder jedenfalls im Presseheft erwähnt werden), ist allerdings rekordverdächtig und wirkt selbst ein wenig „kafkaesk“. Dem mit geradezu pathologischer Bescheidenheit ausgestatteten Kafka, der seinen Freund Max Brod vergeblich beauftragt hatte, alle seine zumeist unvollendeten Werke zu vernichten, würde womöglich der Schrecken in die Glieder fahren.
Foto: NDR / Superfilm
Kehlmann blättert in seinem aktuellen Roman „Lichtspiel“ die Biografie von Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) aus der Perspektive verschiedener Personen aus dem Umfeld des österreichischen Filmregisseurs auf. Ähnlich hat er das Serien-Drehbuch angelegt: „Kafka“ ist aufgeteilt in sechs Episoden über den besten Freund Max Brod (David Kross), über Kafkas Familie und vor allem den tyrannischen Vater Hermann (Nicholas Ofczarek), über seine komplizierten Liebesbeziehungen zu Felice Bauer (Lia von Blarer) und Milena Jesenská (Liv Lisa Fries), über Kafkas erstaunliches Berufsleben als Jurist bei einer Unfallversicherung und Teilhaber an einer Asbestfabrik sowie über die letzte Frau an seiner Seite, Dora Diamant (Tamara Romera Gimés), die mit Kafka einige Monate in Berlin zusammenlebte und ihn auch ins Sanatorium Kierling bei Wien begleitete, wo Kafka an Tuberkulose starb. Das Filmdrama „Die Herrlichkeit des Lebens“, das Mitte März in die Kinos kommt und mit Sabin Tambrea und Henriette Confurius besetzt ist, widmet sich ebenfalls dieser letzten Liebe Kafkas.
Sicher ist: Der Kafka in der Fernsehserie ist kleiner als der im Kino. Und Hauptdarsteller Joel Basman macht sich noch kleiner als er ist. Der 1990 in Zürich geborene Schauspieler („Eldorado KaDeWe“, „Als wir träumten“) betont in seinem Spiel die scheue, unsichere Seite Kafkas. Er schlägt häufig die Augen nieder, bewegt sich steif und möglichst unauffällig, erhebt fast nie seine Stimme, lacht selten und wenn, dann etwas albern kichernd. Oft wirkt Franz Kafka abwesend, mal kühl und abgehoben, dann wieder enorm verletzlich – ein schlafloses, in sich gekehrtes Wesen, dessen gestelzte Sprache wirr, komisch und genial zugleich klingt und dessen Ängste und Abgründe sich in seinen zumeist nachts geschriebenen Geschichten spiegeln. Verliert sich Kafka im Schreiben? Oder wird er dabei erst wirklich lebendig? Literatur und Leben werden jedenfalls eins, verbinden sich meisterhaft in der Inszenierung von David Schalko. Der Österreicher hat seinen Sinn für schräge Figuren in Fernsehfilmen („Aufschneider“) und Serien („Braunschlag“, „Altes Geld“) mehrfach nachgewiesen und mit „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ auch einen Filmklassiker eindrucksvoll in die Gegenwart versetzt. Die Serie stützt sich zudem auf eine außergewöhnlich gründliche Expertise, nämlich auf die in jahrzehntelanger Recherche entstandene Kafka-Biographie von Reiner Stach, der Kehlmann auch als Berater beim Schreiben des Drehbuchs zur Verfügung stand.
„Kafka ist ein Kontinent, den man nie zu Ende kartographieren wird. Er schreibt nicht; er öffnet Türen in eine Welt, die uns ohne ihn verschlossen bleiben würden. Niemand hat eine so originäre Literatur geschaffen wie er. Es gibt nichts Vergleichbares davor. Nur die Echos danach.“ (David Schalko)
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Gleich die erste Episode („Max“) schildert die Rettung von Kafkas Literatur für die Nachwelt. Max Brod führt die gegen den Willen des Autors aufbewahrten Werke im Koffer mit sich, als er von Prag aus nach Polen fliehen will. Doch die Deutschen haben den Grenzbahnhof schon besetzt. Brod muss seinen Koffer öffnen, die Sache hängt an einem seidenen Faden. Die spannenden Szenen im Zug rahmen die Einführung der Hauptfigur Franz Kafka und seines weniger talentierten, aber stets treuen Freundes Max Brod ein. Einzigartig ist in dieser Episode eine Art Vorblende: Der alt gewordene Brod (tolle Maske!) muss sich bei einem Interview im Fernsehstudio kritischen Nachfragen stellen, nicht nur zur eigenmächtigen Rettung, sondern auch zu den von Brod vorgenommenen Streichungen in Kafkas Werken. Solche Einwände zur Sprache zu bringen, ist nur korrekt. Aber in einer Serie, die die (dank Brod überlieferte) Literatur des großen Dichters Kafka nahebringen will, wirkt diese Szene auch etwas verloren.
Als störend erweist sich die Idee, die filmische Realität im Stile des Brecht’schen Theaters zu brechen. Dass die Schauspielerinnen und Schauspieler gewissermaßen vor den Vorhang treten, direkt in die Kamera sprechen und sich auch mal einen Schlagabtausch mit dem von Michael Maertens gesprochenen Erzähler liefern, erscheint hier eher überflüssig. Denn dank Drehbuch, Szenenbild und Bildgestaltung sind die Grenzen zwischen Realität und Literatur ohnehin fließend – der zusätzliche Verfremdungseffekt wirkt aufgesetzt und vergleichsweise plump. Auch Maertens‘ teils flapsige Zwischenrufe setzen einen gewöhnungsbedürftigen Ton, den man offenbar für eine derartige, auf ein breites Publikum zielende Serie über einen schwer zugänglichen Schriftsteller für nötig hielt. In einer Dramaturgie, die bewusst sprunghaft angelegt ist, erfüllt der Erzähler freilich auch eine ordnende Funktion.
Es ließe sich vortrefflich streiten darüber, ob der gewöhnungsbedürftige Ton mancher Erzähler-Zwischenrufe oder die Brecht’schen V-Effekte, die gewiss nicht jeder Zuschauer/Kritiker als überflüssig oder gar störend empfinden dürfte, den halben Stern Abzug (von der 6-Sterne-Höchstwertung) rechtfertigen oder nicht.
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Wie Literatur und Biographie in Schalkos Inszenierung miteinander verschmelzen, lässt sich am Beispiel der dritten Episode „Familie“ schildern. Sie fußt einerseits auf Kafkas Abrechnung mit dem despotischen Patriarchen in seinem „Brief an den Vater“ und gipfelt schließlich im berühmten Szenario der „Verwandlung“-Erzählung. Aber bevor da ein Käfer durchs Zimmer krabbelt, haben bereits Szenenbild (Hannes Salat) und Kamera (Martin Gschlacht) das familiäre Heim in einen Alptraum-Ort verwandelt. Auch die surreal anmutenden Büroräume der Post, bei der Max Brod beschäftigt ist, werden wahrlich „kafkaesk“ ins Bild gesetzt. Beängstigend überzeugend agiert mal wieder Nicholas Ofczarek, der Kafkas Vater Hermann als permanente Drohgebärde und nörgelnden Alles-Hasser spielt. Beim gemeinsamen Essen verbreitet er Angst und Schrecken. Franz, der einzige Sohn, scheint förmlich zu schrumpfen, Mutter Julie (Marie-Lou Sellem) ist ausschließlich um das Nervenkostüm des Vaters besorgt und Franz‘ Schwestern Ottla (Maresi Riegner), Ellie (Mariam Avaliani) und Valli (Naemi Latzer) sitzen schweigend und wie zu Salzsäulen erstarrt dabei. Stumm und ungerührt serviert auch die von Hermann ständig beschimpfte Bedienerin (Blanka Daneluk). Eine patriarchale Hölle, der in dieser Episode die mitreißende Spielfreude eines jiddischen Theaters entgegengesetzt wird. Als Franz seinen fröhlich plappernden Freund, den Schauspieler und Impresario Jizchak Löwy (Konstantin Frank), mit nach Hause bringt, ist dies ein Akt des Widerstands.
Auch wenn Kafka bisweilen wie ein komischer Kauz wirkt, der ganz in seiner eigenen Welt lebt, bleibt das Zeitgeschehen in der Serie immer präsent. Die jüdische Kultur, Kafkas ambivalente Haltung zum Zionismus und der eigenen Identität ziehen sich als übergreifendes Motiv durch die Serie. Der Erste Weltkrieg rückt mit zahlreichen Kriegsversehrten, die im Versicherungsbüro vorstellig werden, ins Bild. Der Antisemitismus ist ein immer mal wieder hervortretendes Hintergrundgeräusch. Und Kafka ist zwar ein verschrobener, hypochondrischer Typ, der bei jedem Bissen 40 Mal auf dem Essen herumkaut, bevor er es herunterschluckt. Aber er ist kein Einzelgänger, sondern oft unterwegs mit seinen Freunden Brod, dem Redakteur Felix Weltsch (Robert Stadlober) und dem blinden Musiker Oskar Baum (Tobias Bamborschke). Dieser „Prager Kreis“ verortet den Zeitgenossen Kafka im echten Leben, man diskutiert, lästert, geht gemeinsam ins Bordell, ins Kaffeehaus oder ins Theater.
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Kehlmann und Schalko erzählen von einem schier unergründlichen Charakter, was nicht abwertend gemeint ist, weil sie letztlich der Ambivalenz Kafkas gerecht werden. Im Beruf kann Kafka aufmüpfigen Unternehmern und amtlichen Inspektoren eloquent die Stirn bieten. Er ist in der Versicherung anerkannt und will doch am liebsten weg, sogar in den Krieg ziehen, wovor ihn sein Arbeitgeber gegen seinen Willen bewahrt. Er wird auch von Brod unermüdlich protegiert und von prominenten Schriftstellern hofiert – was Gelegenheit zu einigen namhaften Gastauftritten bietet. Charly Hübner als Verleger Rowohlt und Laurence Rupp als sein Lektor Kurt Wolff liefern sich amüsante Rededuelle. Verena Altenberger spielt einen aufgekratzten Robert Musil, Lars Eidinger gewohnt versponnen den Rainer Maria Rilke. Etwas mehr Spielraum hat Christian Friedel, der gerade als Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß im Oscar-nominierten Drama „Zone of Interest“ in den Kinos zu sehen ist und in der Serie einen leutseligen Franz Werfel gibt, dessen Trauerspiel „Schweiger“ von Kafka erbarmungslos verrissen wird. Kafka ist aber auch mit sich selbst ständig unzufrieden, schreibt wie besessen, auch Verstörendes wie die Folter-Szene, in der einem nackten Häftling das Todesurteil maschinell in den blutenden Rücken geritzt wird. Kehlmann und Schalko muten dies dem Publikum ebenso zu wie manche Dialogsätze, die dem heutigen Rollenverständnis nicht mehr entsprechen, etwa als Kafka und Brod beim „Pornographen“ Pachinger (Robert Palfrader) vorstellig werden. Eine geschönte Darstellung kann man ihnen kaum vorwerfen.
Natürlich werden reichlich Originaltexte zitiert – vor allem Auszüge aus den zahlreichen Briefen Kafkas und seinen Tagebüchern. Motive und Figuren aus weiteren Werken sind mit der biografischen Erzählung verbunden. Zwei Männer in Gestapo-Mänteln (Gerhard Liebmann, Raimund Wallisch) tauchen in mehreren Episoden auf, als würde Kafka wie dem unbescholtenen Bürger Josef K. in „Der Prozess“ eine Verhaftung ohne Grund drohen. In der letzten Episode („Dora“) tritt Kafka eine Kur in einem wunderschön verschneiten Dorf an und scheitert wie der Landvermesser K. in „Das Schloss“ bei jedem Versuch, Zutritt zu der oberhalb gelegenen Burg zu erlangen. Die fünfte, ungewöhnlichste – und schönste – Episode („Milena“) verweist auf Kafkas dritten unvollendeten Roman „Amerika“ (später unter dem Titel „Der Verschollene“ veröffentlicht). Doch Regisseur Schalko verzichtet hier fast komplett auf alle surrealen Kniffe und erzählt die gesamte Beziehung von Kafka und seiner Übersetzerin Milena Jesenská als „Naturtheater“: während eines einzigen Sommertags und eines langen Spaziergangs durch den Wienerwald. Glänzend spielen Liv Lisa Fries („Babylon Berlin“, „In Liebe, Eure Hilde“) und Joel Basman dieses wortreiche und doch sinnliche Duett, das vom Kennenlernen und der romantischen Annäherung bis zur Trennung reicht. Am Ende sieht man sie an einem kleinen Bahnhof vor einer herrlichen, mit zeitgenössischen Plakaten vollständig zugepflasterten Wand. Die Kamera zoomt auf „Das große Naturtheater von Oklahoma“, auch das ein Zitat aus Kafkas „Amerika“. Nur der antisemitische Wutbürger im Ausflugslokal mischte sich zuvor in das konzentrierte Zweierstück. Dem früh verstorbenen Franz Kafka und auch seinen Eltern ist der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug erspart geblieben. Seine Schwestern Ottla, Elli und Valli dagegen wurden im Holocaust ermordet.