Bettnässer, Rowdy, Ausreißerin, erster Job
Judith, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, ist neu in Berlin, allein – ihr Freund hat es sich mit dem Umzug anders überlegt. Sie ist Berufsanfängerin, sie ist idealistisch, will neue Wege gehen. Keine Therapie nach Lehrbuch – eine individuelle Betreuung möchte sie ihren Kids geben. Da ist Konrad, der vor seiner Einschulung steht und noch immer ins Bett macht; er leidet unter der Beziehungskrise seiner Eltern. Da ist der neunjährige Linus, den regelmäßig Aggressionsschübe überkommen; seine Lehrer würden ihn am liebsten auf eine Sonderschule abschieben. Und schließlich ist da noch Nele – bei ihr ist die Pubertät voll im Gange: sie ist aufsässig und provoziert ständig; ihre Mutter ist ratlos: „Warum kann die mich nicht leiden?“ Judith hört zu, sie lässt ihre Patienten machen, lässt sie spielen, reden, frei assoziieren. Sie drängt sich nicht in deren Leben, sondern verschafft sich einfühlsam Zugang zu ihnen.
Frei-Räume für Figuren, Schauspieler & Zuschauer
Behutsam wie die Hauptfigur nähern sich in dem ARD-Fernsehfilm „Weiter als der Ozean“ auch Drehbuchautorin Beate Langmaack und Regisseurin Isabel Kleefeld den Charakteren, den Konflikten und der kinder- und jugendtherapeutischen Praxis. Sowohl im Drehbuch als auch vor und hinter der Kamera werden Protagonisten wie Schauspielern (Frei-)Räume gelassen. „Anstatt die Kinder in irgendeine Richtung zu drücken, stupst sie die Kinder nur ganz leicht an, lässt sie zum Beispiel spielen und versucht dabei zu erfahren, was sie bedrückt, wo ihr Problem liegt“, umschreibt Hauptdarstellerin Rosalie Thomass die offene, in der heutigen therapeutischen Praxis gängige Methode ihrer Judith. Diese Offenheit ist auch in Langmaacks Vorlage zu finden: „Die Schauspieler werden vom Drehbuch nur selten direkt angewiesen, was sie wann zu fühlen, denken, gestisch oder mimisch zu tun haben“, so Kleefeld. „Das ergibt sich alles aus Situation, Aktion und Dialog, wodurch das Innenleben der Figuren beim Spiel dann glaubhaft zum Vorschein kommen kann.“ Von diesen Freiheiten der Schauspieler, dieser prozesshaften Atmosphäre, bekommt auch der Zuschauer etwas zu spüren. Dieser fast dramaturgiefreie Blick auf Kommunikation ist ein weiterer Schritt des zeitgenössischen Fernsehrealismus’ Marke „dem Alltag beim Sich-Ereignen zuschauen“, wie ihn einst Dresens „Die Polizistin“ und Krohmers „Ende der Saison“ Anfang der 00er Jahre etablierten. So tastet sich auch der Zuschauer vorsichtig zum Kern der Geschichte(n) vor.
Größtmögliche Normalität statt Dramatisierung
Der Film erzählt von einer jungen Frau und drei Kindern, die alle vier vorübergehend ihre Orientierung verloren haben. Und noch einem scheint es ähnlich zu gehen, einem Buckelwal, der in der Ostsee gesichtet wurde. Er müsse „falsch abgebogen“ sein, sagt der Meeresbiologe Martin, der mehrfach die Wege der Heldin kreuzt. Auch dieser Riesensäuger muss einen Ausweg aus dem Flachgewässer, muss zurück in seine Gruppe finden. Schön, dass diese Metapher nicht nur im Film als ein Stück Poesie mitschwingt, sondern dass der Wal auch eine ganz reale, unaufdringlich eingeflochtene Episode der Filmgeschichte wird. Die Medien berichten im Hintergrund und die Protagonisten nehmen regen Anteil am Schicksal des Meeresriesen. Für ihn gibt es ein klassisches Film-Happy-End, und die Therapien enden, wie sie auch in Wirklichkeit enden könnten. Es wird nichts geschönt, es wird nichts dramatisiert. Alles in „Weiter als der Ozean“ hat eine große Normalität. Das beginnt schon bei der Auswahl der Fälle: Bettnässen, Aufsässigkeit, Problempubertät, Trennung der Eltern, Konflikte mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil – in welcher Familie gibt es das nicht? „Es sollte eben nicht darum gehen, dass wir ein oder zwei richtig schlimme Fälle ins Zentrum der Geschichte stellen“, so Beate Langmaack. Eine mutige Konzeption. Ungewöhnlich für einen TV-Film. Statt auf Nummer sicher zu gehen und einen jener konventionellen Themenfilme mit hohem, künstlich forciertem Konflikt- und Spannungspotenzial auf den Zuschauer loszulassen, sensibilisiert die Autorin für die seelischen Symptome und die sich dahinter verbergenden Umstände. Als Zuschauer folgt man dem Blick der idealistischen Heldin, die auch Fehler macht, aber deren psychotherapeutischer Ansatz, der die Eltern nicht zynisch ausgrenzt, bemerkenswert ist. Kleefeld: „Es geht nicht darum zu bewerten, es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen. Und Judith sucht die Antwort in erster Linie in den Kindern und in sich.“
Auch die Heldin ist (noch) eine Suchende
„Weiter als der Ozean“ gelingt aber weitaus mehr, als nur die Psychotherapie für Kinder und Jugendliche aus der Tabu-Zone herauszuholen. Dieser WDR-Fernsehfilm erzählt ja ganz konkret von der Suche nach Orientierung, nach den richtigen Wegen aus einer Krise, aus Phasen der Irritation. Das gilt auch für die erwachsene Heldin, die zwischenzeitlich selbst noch einmal in eine Art pubertäre Trotzphase zurückfällt. Sie verkraftet die Trennung von ihrem Freund, die Unsicherheit in ihrem ersten Job und sie überwindet am Ende ihre Einsamkeit in der fremden, großen Stadt. Sie strampelt sich frei – auch bildlich: Eine wie Judith fährt nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln; immer wieder sehen wir sie auf dem Fahrrad, wie sie sich die Straßen der Großstadt erobert. Kleefeld: „Berlin ist der Ozean, in dem sich Judith orientieren muss und schließlich schwimmen lernt.“