Totgeschwiegen

Michelsen, Tonke, Giese, Schubert, Franziska Schlotterer. TV-Drama aus einem Guss

Foto: ZDF / Hans-Joachim Pfeiffer
Foto Rainer Tittelbach

Ein Obdachloser ist in der U-Bahn getötet worden. Drei Jugendliche waren an der Tat beteiligt. Die Eltern sind ratlos. Wie sollen sie mit dem Vorfall umgehen? Vertuschen oder zur Polizei gehen? Und was ist überhaupt genau passiert? Der Fernsehfilm „Totgeschwiegen“ (ZDF / Studio.TV.Film) erzählt von fünf Erwachsenen, die hin- und hergerissen sind zwischen der Liebe zum eigenen Kind und ihrem gesellschaftlichen Gewissen. Und die Kids? Empathie Fehlanzeige, aber sind sie deshalb gleich Monster? Der Zuschauer ist gefordert bei dem Film von Franziska Schlotterer & Ko-Autorin Gwendolyn Bellmann. Es ist unmöglich, sich bei dieser Geschichte entrüstet auf eine moralische Position zurückzuziehen und so zu tun, als ginge einen der Konflikt nichts an. Dafür besitzt die Handlung nicht nur für Eltern ein zu hohes Identifikationspotenzial. Dafür wirken die Charaktere zu sehr wie echte Menschen. Dafür agieren die Schauspieler mit ihren alltagsnahen Dialogen viel zu realistisch. Und dafür sind auch Dramaturgie & Filmsprache zu überzeugend. Eines der Highlights des Jahres!

Ein Obdachloser ist in der U-Bahn getötet worden. Drei Jugendliche waren an der Tat beteiligt. Als deren Eltern eher durch Zufall davon erfahren, sind sie erst einmal ratlos. Wie sollen sie mit dem Vorfall umgehen? Und was ist überhaupt genau passiert? „Es war ein Unfall“, beteuert Fabian (Lenius Jung). Seine Mutter Brigitte (Katharina Marie Schubert) weiß als erste Bescheid; sie hat ihren Jungen anhand seiner Jacke in den Nachrichten erkannt. Außer einem Überwachungsvideo, in dem die drei von hinten zu sehen sind, hat die Polizei offenbar nichts in der Hand. Brigitte und ihr Mann Volker (Godehard Giese) würden deshalb eine Vertuschungsstrategie bevorzugen. Jean (Mehdi Nebbou), der Ziehvater von Mira (Flora Li Thiemann), sieht das völlig anders; für ihn ist eine Selbstanzeige mit der Beweisführung, dass es ein Unfall war, der einzige gangbare Weg. Seine Frau Esther (Claudia Michelsen) ist zögerlich, die Aussicht, dass ihre Tochter im Jugendknast enden könnte, lässt sie dann aber auf Volkers Linie einschwenken. Die alleinerziehende Nele (Laura Tonke) erfährt als letzte, dass ihr Sohn Jakob (David Ali Rashed) in den „U-Bahn-Mord“ verstrickt ist. Sie braucht Zeit, um sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Dann fasst sie einen einsamen Entschluss.

TotgeschwiegenFoto: ZDF / Pausch & Rasche
Acht Menschen in einer Ausnahmesituation. Was haben wir da nur für Kinder herangezogen, wird sich der eine oder andere Erwachsene denken. Und was haben wir falsch gemacht? Darüber, wie man die Situation retten könnte, gehen die Ansichten auseinander. Oben: Laura Tonke, Mehdi Nebbou, Claudia Michelsen, Katharina Marie Schubert, Godehard Giese. Unten: David Al Rashed, Flora Li Thiemann, Lenius Jung

Acht Menschen in einer Ausnahmesituation. Der ZDF-Fernsehfilm „Totgeschwiegen“ erzählt von fünf Erwachsenen,  die hin- und hergerissen sind zwischen der Liebe zum eigenen Kind und dem, was man gesellschaftliches Gewissen nennen könnte. Diese Wahrheit über das eigene Fleisch und Blut, die plötzlich alle Gewissheiten erschüttert, nagt an den fünf Erwachsenen. „Ich habe mich noch nie in meinem ganzen Leben so hilflos gefühlt“, muss Frauenärztin Esther erkennen. Und dann muss sie auch noch Äußerungen wie „Du weißt gar nicht, wie eklig der Typ war, ich bin froh, dass er tot ist“ aus dem Munde ihrer Tochter hören. Selbst der sonst so aufgeräumt wirkende, die anderen mit seinen Arumenten überzeugende Patentanwalt Volker hat Momente, in denen er nicht weiß, wo ihm der Kopf steht. Und so steckt er auf der Zielgeraden des Films den Sohn ins Internat. Er selbst geht ins Hotel. Auch er kapituliert also vor dieser sich verschärfenden Krise – und vor seiner Ehe. Indirekt macht er damit seine Frau und ihre, wie er sagt, „Affenliebe“ zu ihrem Sohn für die immer verfahrenere Situation verantwortlich. Denn irgendwann kommt heraus: Es war kein unglücklicher Schubser, der den Tod des Obdachlosen herbeiführte, es war ein Messer im Spiel, und einer dieser gerade mal 15-Jährigen hat zugestochen. Die drei decken sich gegenseitig, jeder will es gewesen sein. Und dann bewahrheitet sich das, was eine Mutter früh prophezeite: „Die halten doch den Druck gar nicht aus.“ Mögen die Jugendlichen auch schweigen, den Vorfall zu ihren Gunsten schönreden und scheint Empathie so gar nicht ihr Ding zu sein: Monster sind sie nicht. Sie sind Kinder ihrer Eltern, sind Kinder dieser Gesellschaft, und sie sind lernfähig.

TotgeschwiegenFoto: ZDF / Christiane Pausch
„Ich bin froh, dass der Typ tot ist.“ Sie machen auf empathielos & cool, doch die Ereignisse des Abends werden die drei 15-Jährigen einholen. Jakob (David Ali Rashed), Mira (Flora Li Thiemann) und Fabian (Lenius Jung

Der Zuschauer ist gefordert bei dem Film von Franziska Schlotterer und Ko-Autorin Gwendolyn Bellmann. Es ist unmöglich, sich bei dieser Geschichte entrüstet auf eine moralische Position zurückzuziehen und so zu tun, als ginge einen der Konflikt nichts an. Dafür besitzt die Handlung nicht nur für Eltern ein viel zu hohes Identifikationspotenzial. Dafür wirken die Charaktere zu sehr wie echte Menschen. Dafür agieren die Schauspieler mit ihren alltagsnahen Dialogen viel zu realistisch. Nicht jede Haltung der fünf Erwachsenen ist gutzuheißen, verstehen aber kann man sie als Zuschauer durchaus. Sympathien weckt besonders Nele. Ausgerechnet sie, die überforderte alleinerziehende Mutter nimmt sich die Zeit dafür, zu dem toten Obdachlosen zu recherchieren – und sie sucht sogar Kontakt zu dessen Ex-Frau. Auch wie sie ihrem Sohn Jakob, zu dem sie als Frau ohne Lebenspartner eine sehr innige Beziehung pflegt, unmissverständlich deutlich macht, was er und seine Freunde da angestellt haben („In dem Moment, in dem Ihr ihm das Messer in den Rücken gerammt habt und ihn habt sterben lassen, habt Ihr entschieden, dass sein Leben jetzt vorbei ist.“), und sie ihn trotz alledem liebevoll in den Arm nimmt, das zeugt von einer hohen Menschlichkeit. Esther hingegen versucht, so etwas wie soziale Verantwortung bei Mira zu wecken, indem sie ihr ehrenamtliche Arbeit in einem Pflegeheim aufs Auge drückt. Als das nicht fruchtet, geht es zum Therapeuten. Esther bemüht sich, aber offenbar zu spät. Miras Verhältnis zu Ziehvater und Hausmann Jean war – wie man beiläufig erfährt – immer schon sehr viel besser als das zu ihrer Mutter. Doch Jean hat sich nach Esthers eigenmächtiger Entscheidung für den Vertuschungskurs von seiner Frau getrennt. Für Mira ist das eine weitere Katastrophe…

TotgeschwiegenFoto: ZDF / Hans-Joachim Pfeiffer
Konspiratives Treffen der Eltern. Volker: „Als Eltern sind wir keinesfalls verpflichtet, gegen unsere Kinder auszusagen.“ Brigitte: „Es war doch ein Unfall.“ Esther: „Die halten doch den Druck gar nicht aus; irgendwann verplappert sich einer.“ Vage einigt man sich darauf, den Vorfall zu vertuschen. Das erhöht die Spannung (auch) innerhalb der Familien und führt zu Zerwürfnissen. Sowohl für alle Charaktere als auch für deren Interaktionen, Texte & Dialogwechsel gilt: absolut stimmig und alltagsnah. Und deshalb fällt es schwer, als Zuschauer die Haltung der Eltern, ihre Vertuschung, als kriminell abzutun. Das ist ganz im Sinne des Konzepts: „Die Auseinandersetzung mit den Figuren hat uns gezwungen, uns selbst als Eltern den Spiegel vorzuhalten und uns immer wieder zu fragen: Wie würden wir uns verhalten?“ (Franziska Schlotterer)

Das andere Paar, Volker und Brigitte, sind im Übrigen auch keine Unmenschen. Sie führen ein anderes leben, sie ticken anders, und sie sind in ihrer Beziehung wenig offen miteinander. Dass sie die Tat der Kinder unter den Teppich kehren, das entspricht ihren Lösungsstrategien. Schon die Autorinnen machen aus ihm nicht den unsympathischen, kalten Technokraten und aus ihr nicht nur die gestörte Mutterglucke, und die Schauspieler Godehard Giese und Katharina Marie Schubert sorgen schließlich dafür, dass man auch mit den beiden mitfühlen kann, ja, dass sie zumindest bemitleidenswert sind. Kein Zuschauer möchte in deren Haut stecken. Die gelegentlich vorgelebte fehlende Empathie einiger Charaktere kann man der Rezeptionsebene auf jeden Fall nicht vorwerfen. Die Haltung, die der Zuschauer zu den Jugendlichen einnehmen dürfte, ist dagegen distanzierter und weniger emotional geprägt. Dafür machen die drei einfach zu sehr auf cool, sind zu verstockt und zeigen zu wenig Mitgefühl mit dem Toten. „Dass die Jugendlichen auch für den Zuschauer ein Rätsel bleiben“, das fand Laura Tonke, die Darstellerin der Nele, besonders interessant. Dieser Verzicht auf simple Psychologisierung und kausale Erklärungen gehört fraglos zu den Stärken des Films.

Aber was ist eigentlich nicht bemerkenswert an diesem Fernsehfilm?! Es stimmt einfach alles. Sorgt die Auswahl des gesellschaftlich relevanten Themas bei einem Fernsehkritiker nur für einen kleinen Bonus, wiegt dagegen umso mehr, dass Franziska Schlotterer und Gwendolyn Bellmann dramaturgisch alles richtig gemacht haben: Das beginnt mit der Entscheidung, die Tat der Jugendlichen auf die (Handlungs-)Ebene der Erwachsenen zu projizieren, setzt sich fort im sehr effektiven multiperspektivischen Konzept und endet noch lange nicht im Verzicht auf die sonst üblichen Anleihen beim Krimigenre. Die Ermittlungen der Kripo bleiben ein Intermezzo zur Halbzeit des Films. Die Geschichte mit ihren fünf stimmigen erwachsenen Charakteren und den drei jugendlichen Fragezeichen ist so intensiv, bei den drei Familien ist so viel Dampf im Beziehungskessel, dass es keiner Krimimuster bedarf, um den Druck auf die Figuren zu erhöhen. Solche Momente würden sicherlich die Konzentration und die Dynamik dieser vorzüglich austarierten, interdependenten Gruppen-Kommunikation nur stören.

TotgeschwiegenFoto: ZDF / Christiane Pausch
Perspektivwechsel. Durch die Figur Nele (Laura Tonke) wird auch dem Opfer ein Stück weit eine Identität gegeben. Bevor sie sich entscheidet, muss sie Abstand gewinnen, und sie will etwas über den Toten erfahren. Das tut der Geschichte gut.

Auch Narration und Filmsprache sind passgenau aufeinander abgestimmt. Die Autorinnen legen ein dichtes, engmaschiges Erzählnetz aus kurzen, markanten Szenen über die 90 Filmminuten, aus dem es für den Zuschauer kein Entrinnen gibt. Warum soll er es besser haben als die Charaktere, die sich – außer der alleinerziehenden Mutter – alle nur um sich selbst und ihre gehobene Mittelschichtexistenz drehen. Information folgt auf Information, die Dialoge besitzen große Klarheit und Transparenz, und der selten sichtbare Himmel über Berlin hängt für den Zuschauer bald voller Fragen: Werden sich alle Erwachsenen an die vage Schweigeverabredung halten? Werden alle, auch die Kids, dem inneren Druck standhalten? Wenn nicht, wer wird wohl als erster einknicken? Wer ist das schwächste Glied in der Kette? Hinzu kommt ein elliptischer Erzählstil von Regisseurin Schlotterer, bei dem in der Regel so spät wie möglich in die Szenen reingegangen wird – wodurch das Erzählte zunehmende Wucht und Dynamik bekommt. So entsteht ein nie endender Spannungsfluss, den man mit Bauch und Kopf gleichermaßen intensiv wahrnehmen kann. Angesichts dieses nachhaltigen Ausnahme-Dramas muss man sich fragen, weshalb eine so vorzügliche Regisseurin (und Autorin) wie Franziska Schlotterer seit ihrem großartigen, viel beachteten Erstling „Ende der Schonzeit“ bis zu „Totgeschwiegen“ keinen weiteren Spielfilm mehr gedreht hat?!

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Claudia Michelsen, Laura Tonke, Godehard Giese, Katharina Maria Schubert, Mehdi Nebbou, Flora Li Thiemann, Lenius Jung, David Al Rashed, Merlin Rose, Inga Dietrich

Kamera: Bernd Fischer

Szenenbild: Martina Brünner

Kostüm: Petra Kray

Schnitt: Mona Bräuer

Musik: Annette Focks

Soundtrack: Michael Andrews („Mad World“), Paolo Nutini („Iron Sky“)

Produktionsfirma: studio.tv.film

Produktion: Nikola Bock, Milena Maitz

Drehbuch: Gwendolyn Bellmann, Franziska Schlotterer

Regie: Franziska Schlotterer

Quote: 4,68 Mio. Zuschauer (15,5% MA)

EA: 21.09.2020 20:15 Uhr | ZDF

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