Eine fremde Tochter

Schiller, Waschke, Mues, Nocke, Krohmer. Sich beherrschen & beherrscht werden

Foto: NDR / Georges Pauly
Foto Rainer Tittelbach

Viel Kontakt hatten die 15jährige Alma und ihr Vater Oliver die letzten Jahre nicht. Das ändert sich, als die Mutter bei einem Unfall ums Leben kommt. Das Mädchen zieht zum Vater, der immer noch mit dem Mann zusammenlebt, wegen dem Oliver einst aus seiner Ehe ausbrach. Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Vater und Tochter durch die Ausnahmesituation des plötzlichen Zusammenlebens verändert und wie durch den Lebenspartner des Vaters und den bibelfesten Freund der Tochter das kommunikative Gleichgewicht beeinflusst, ja gestört wird, davon erzählt der ARD-Fernsehfilm „Eine fremde Tochter“ (Aspekt Telefilm, Bavaria Fiction) von Stefan Krohmer nach dem Drehbuch von Daniel Nocke. Beide sezieren mit analytischem Blick die Befindlichkeiten der Protagonisten, die kleinen Machtkämpfe, die freigelegten Aggressionen, und sie zeigen, wie Fronten aufweichen, während andere verhärten. Wie immer geht es bei ihnen um Muster von Kommunikation, um die Fallstricke, die einem Werte- und Moralvorstellungen in den Weg legen können, die Selbstlügen und subjektiven Konstrukte, die Menschen sich bauen, um vor sich selbst bestehen zu können. Und natürlich geht es auch um konkrete (Alltags-)Situationen, um Lebensthemen, die in der Handlung aufscheinen. Da die Geschichte sich über das strukturelle Ganze und nicht über singuläre Narrative erschließt, ist dieser Text weniger eine klassische Kritik als der Versuch einer (Lesarten-)Analyse.

Eine 15-Jährige muss zu ihrem Vater ziehen, der mit einem Mann zusammenlebt
Viel Kontakt hatten Alma (Hannah Schiller) und ihr Vater Oliver (Mark Waschke) die letzten Jahre nicht. Die 15-Jährige lebt bei ihrer Mutter (Maja Schöne) – bis diese bei einem Unfall ums Leben kommt. Wohin jetzt mit dem Mädchen? Almas Tante Franziska (Franziska Hartmann), wohnhaft in Hongkong, würde es gerne sehen, wenn Alma zu Oliver und seinem Partner Felix (Wanja Mues) ziehen würde. „Gib ihm eine Chance“, bittet die Tante – und das Mädchen willigt notgedrungen ein. Sie will es ihrem Vater aber nicht leicht machen. Außerdem scheint sie Vorbehalte gegenüber seiner Homosexualität zu haben. Andererseits versteht sie sich mit dem schwulen Felix überraschend gut. Als Alma Johannes (Oskar Wohlgemuth) kennenlernt, treten die Gegensätze in der neuen „Familie“ noch deutlicher zutage. Der überaus reflektierte 16-Jährige ist bei den Zeugen Jehovas. Sein Glaube weckt Almas Interesse an der Bibel. Zum Thema gleichgeschlechtliche Liebe findet sie dort die „passenden“ Passagen. Beherrschung heißt ihr neues Teenager-Credo. Beherrschung „predigt“ auch Johannes, doch das Ankämpfen gegen die eigenen Triebe fällt ihm schwer. Für Oliver ist diese Art von Religiosität ein rotes Tuch, während Felix Verständnis zeigt für Almas Suche nach Orientierung. Und so kriselt es bald heftig in der Beziehung der Männer.

Eine fremde TochterFoto: NDR / Georges Pauly
Erstes Beschnuppern. „Mein Vater hat einfach nur eine Frau gesucht, damit keiner merkt, dass er schwul ist … weil’s seiner Karriere geschadet hätte.“ Hannah Schiller, Mark Waschke, Wanja Mues, Franziska Hartmann

Sprache und Filmsprache
„Eine fremde Tochter“ entwickelt sich – wie die meisten Nocke-Krohmer-Filme – über zumeist kurze, dialogreiche Interaktions-Szenen. Würde man die Filmsprache in einen Text transformieren, wäre es eine in Hauptsätzen erzählte Kurzgeschichte. Ohne Umschweife nimmt sie ihren Lauf. Es geht Schlag auf Schlag. Der Zuschauer wird Zeuge von Sachverhalten, die zwar alltagsnah inszeniert sind, aber bisweilen befremdlich wirken (und somit zum genauen Hinschauen zwingen).

Machtspielchen & freigelegte Aggressionen, Selbstlügen und Überlebenskonstrukte
Subjektive Beherrschung ist das eine, aber der Begriff konnotiert auch die Möglichkeit des Beherrschtwerdens. Das Mädchen in dem ARD-Fernsehfilm „Eine fremde Tochter“ weiß um seine Macht über den Vater, denn der hat ein schlechtes Gewissen wegen seiner jahrelangen Abwesenheit. Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen ihm und seiner Tochter durch die Ausnahmesituation des plötzlichen Zusammenlebens verändert und wie durch den Lebenspartner des Vaters und den Freund der Tochter das kommunikative Gleichgewicht beeinflusst, ja gestört wird, davon erzählt dieses TV-Drama von Stefan Krohmer nach dem Drehbuch von Daniel Nocke. Beide sezieren mit analytischem Blick die Befindlichkeiten der Protagonisten, die kleinen Machtkämpfe, die freigelegten Aggressionen, und sie zeigen, wie Fronten aufweichen, während andere verhärten. Das klingt abstrakt, ist es aber nicht. Gewiss ist es einfacher zu sagen, es gehe in dm Film um Homophobie, um die Grenzen der Toleranz oder um die Engstirnigkeit oder die Glücksversprechen mancher Religionen. Doch bei Nocke und Krohmer, die gemeinsam über ein Dutzend außergewöhnlicher Filme realisiert haben, geht es immer auch um Muster von Kommunikation, um die Fallstricke, die einem Werte- und Moralvorstellungen in den Weg legen können, die Selbstlügen und subjektiven Konstrukte, die Menschen sich bauen, um vor sich selbst bestehen zu können. Und natürlich geht es auch um konkrete (Alltags-)Situationen, um Lebensthemen, die in den Geschichten aufscheinen. Diese wiederum – das lehren einem Nocke/Krohmer-Filme – sollte man nicht einer selektiven, punktuellen Wahrnehmung opfern. Nicht das Singuläre, das strukturelle Ganze zählt.

Eine fremde TochterFoto: NDR / Georges Pauly
Ein Teenager, der sich im Besitz der unumstößlichen Wahrheit sieht … und Almas Blick sagt alles. Und Hannah Schiller trifft perfekt sowohl die emotionalen Nuancen als auch die stimmlichen Tonlagen einer genervten 15-Jährigen – jenseits aller Klischees solcher Rollen.

Die Verletzungen sind spürbar, und Alma sucht in puncto Schwulsein Hilfe in der Bibel
Und so ist beispielsweise die Tochter nicht grundlegend homophob, „sondern Alma hat das Gefühl, nur auf Grund einer Lüge gezeugt worden zu sein“ (Nocke). In einer frühen Szene mit Oliver, Felix und ihrer Tante wird Alma diesbezüglich sehr direkt: „Mein Vater hat einfach nur eine Frau gesucht, damit keiner merkt, dass er schwul ist … weil’s seiner Karriere geschadet hätte.“ Der hat sich hingegen eine ganz andere Lebenslegende zurechtgelegt – was die Tochter auf die ihr typische Art quittiert: „Und den soll ich ernst nehmen?“ Sie redet über ihn zu den anderen, während er wie ein begossener Pudel danebensitzt. Aber auch ihr Vater kann ähnlich herablassend sein, was sein Verhalten gegenüber Almas gläubigem Freund zeigt. Die Verletzungen auf beiden Seiten sind spürbar. Vor allem die Tochter wirft ihrem Vater vor, dass er ihre Mutter benutzt habe. Die Homosexualität ist dabei zunächst allenfalls relevant als Teil der Lüge, Teil des Verrats an Olivers Ex-Frau, mit der sich Alma immer noch solidarisch fühlt. Als dann die Zeugen Jehovas ins Spiel kommen, ermöglicht ihr die Bibel, ihre Traumatisierungen zu kanalisieren. Die Religion gibt ihr ein klares Bewertungssystem an die Hand und bietet ihr eine Orientierung, die die Widersprüche in ihrem Leben aufzuheben in der Lage ist. Der Glaube an die Auferstehung auf Erden gibt ihr eine heilsame Antwort auf den Verlust der Mutter. Und auch für die Wut auf den Vater findet sie die richtigen Bibel-Stellen. „Homosexualität ist falsch. Das ist so. Das steht da“, ereifert sich das Teenager-Girlie – und wähnt sich nun noch stärker als bisher im Besitz der unumstößlichen Wahrheit.

Programmpolitik und Hannah Schiller
„Eine fremde Tochter“ hatte seine Premiere auf dem Filmfest Hamburg 2019 und musste danach zweieinhalb Jahre auf seine Ausstrahlung im Ersten warten. Das sagt einiges über die ARD-Programmpolitik aus… Für die mittlerweile 22jährige Hannah Schiller ergab sich dadurch eine absurde Situation: So wurde ihre preisgekrönte Darstellung in dem ungewöhnlichen Mystery-„Tatort – Parasomnia“ (15.11.2020) als ihr Hauptrollen-Debüt von der Öffentlichkeit gefeiert. Eine außergewöhnliche Leistung, keine Frage. Der beiläufige, zwischentonreiche Krohmer-Realismus, gepaart mit Empathie-freiem Teenager-Egoismus und Girlie-Gereiztheit, mit intuitivem Machtbewusstsein und vermeintlich kindlicher Unschuld, dürfte allerdings ungleich schwerer zu spielen sein.

Eine fremde TochterFoto: NDR / Georges Pauly
Weshalb erkennt Oliver ( Mark Waschke) nicht den guten Willen von Felix (Wanja Mues)? Hat er mit seiner Tochter etwas nachzuholen, bei dem sein verständnisvoller Freund stört? Kommunikation ist nicht immer logisch. System haben oft nur die Störungen – Selbstlügen und subjektive Überlebenskonstrukte inklusive.

Statt einer Sympathie-Antipathie-Dramaturgie dominiert ein analytischer Blick
Wut hat Alma auf ihren Vater aber auch, weil er sich die letzten Jahre nicht um sie gekümmert hat. Sie mag die meiste Zeit intuitiv handeln, aber sie versteht es, Konflikte zwischen ihrem Vater und Felix zu initiieren, ja ihre Anwesenheit treibt einen Keil zwischen die beiden Männer. Und so bekommt denn auch Felix nach ein paar Wochen von Oliver genau diesen Vorwurf zu hören… Einseitiges Parteiergreifen für eine der Charaktere fällt erfreulicherweise schwer bei „Eine fremde Tochter“. Der Verzicht auf eine klare Sympathie-Antipathie-Dramaturgie bestärken das kluge Kommunikationskonzept von Nocke/Krohmer, das einen auch über die 90 Minuten hinaus beschäftigen kann. Aber auch während des Films drängen sich einem viele Fragen auf: Ist nicht Felix mit seiner liebevollen, deeskalierenden pragmatischen Art der Vernünftigste von den Vieren? Weshalb kann Oliver diese Bemühungen seines Freundes nicht erkennen? Ist es die Überforderung mit der neuen Situation, der Druck, ein guter Vater sein zu wollen, die ihn immer wieder überreagieren lässt?

Die psychologische, die interaktionistische Lesart & ein paradiesisches Wunschbild
Gut gemeint ist auch Felix‘ vorübergehender Rückzug. Einerseits fühlt er sich als Dritter immer unwohler bei diesem Kräftemessen von Alma und Oliver, andererseits hegt er die Hoffnung, dass eine Auszeit, Vater und Tochter ermöglichen könnte, Versäumtes nachzuholen. Das klingt vernünftig, ganz Felix. Das wäre die psychologisch-psychoanalytische Lesart. Beherrschung, um die archetypische Vater-Tochter-Beziehung endlich ausleben zu können: Erst Oliver für sich alleine haben, damit sich Alma wenig später von ihm lösen kann, um mit einem jungen Mann eine (sexuelle) Beziehung eingehen zu können. Diese Bevaterung bekommt ein starkes Bild: Sie führt ins Bett von Oliver, an den Platz, an dem zuvor noch Felix lag. Die interaktionistische Lesart der Beziehung ist die bereits angedeutete: Beherrschung, um so das Gegenüber zu beherrschen. Alma bestimmt die Regeln; sie übernimmt mehr und mehr die Kontrolle über die Beziehung zu ihrem Vater. Das Ganze gipfelt in einem unmoralischen Geburtstagswunsch. Diese Lesart lässt sich mit einer paradiesischen Vorstellung vom Glück kombinieren, wie sie sich Alma offenbar erträumt. Drei kurze Fantasiewelt-Sequenzen versinnbildlichen die Sehnsucht des Mädchens, mit der Mutter und möglicherweise auch mit dem Vater in familiärer Eintracht verbunden zu sein. Zum Schluss gibt es ein besonders irritierendes Wunschbild, das – wie der ganze Film – beim Kritiker einen Wunsch evoziert: den Wunsch, sich mit anderen über den Film auszutauschen. In deutschen Fernsehfilmen passiert das leider nur noch aller Jubeljahre einmal. (Text-Stand: 8.2.2022)

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Fernsehfilm

NDR

Mit Hannah Schiller, Mark Waschke, Wanja Mues, Oskar Wohlgemuth, Franziska Hartmann, Maja Schöne

Kamera: Armin Dierolf

Szenenbild: Adrienne Zeidler-Benesch

Kostüm: Silke Sommer

Schnitt: Stephan Krumbiegel

Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas

Redaktion: Christian Granderath, Patrick Poch

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm, Bavaria Fiction

Produktion: Oliver Behrmann, Bea Schmidt, Annett Neukirchen

Drehbuch: Daniel Nocke

Regie: Stefan Krohmer

Quote: 4,37 Mio. Zuschauer (16% MA)

EA: 09.03.2022 20:15 Uhr | ARD

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