In Krimi-Deutschland wird gerne im Team ermittelt. An Alleingängen von eigenwilligen Typen besteht zwar nicht unbedingt ein Mangel, dennoch bildet die „Tatort“-Episode „Das Opfer“ eine interessante Ausnahme. Drehbuch-Autor Erol Yesilkaya, der auch die Vorlage für den mit einem Grimme-Preis ausgezeichneten Berlin-„Tatort -Meta“ geschrieben hatte, und Regisseur Stefan Schaller rücken die Figur des Ermittlers Robert Karow (Mark Waschke) klar und konsequent in den Mittelpunkt. Somit fehlen die typischen Krimi-Szenen aus dem Kommissariat samt der Dialoge mit den Kolleg:innen praktisch vollständig. Allein mit Staatsanwältin Sara Taghavi (Jasmin Tabatabai) steht Robert Karow (Mark Waschke) in Kontakt. Nach dem Tod seiner langjährigen Kollegin Nina Rubin (Meret Becker) wird der häufig schroffe, unzugängliche Kommissar hier vollends zum Einzelgänger und Außenseiter.
Foto: RBB / Stefan Erhard
Karow, noch mitgenommen von Rubins Tod, muss einen weiteren Verlust verkraften: Mit Maik Balthasar (Andreas Pietschmann) wird ein enger Freund aus seiner Jugendzeit erschossen aufgefunden. Dass sich beide 30 Jahre lang nicht gesehen haben sollen, obwohl das Opfer ebenfalls bei der Berliner Polizei arbeitete und dessen Witwe einen Brief in vertraulichem Ton an den Kommissar schreibt, erscheint etwas unlogisch. Zumal Maik Balthasar, wie sich herausstellen wird, in Karow eine höchst lebendige Erinnerung an ein prägendes, homoerotisches Erlebnis seiner Jugend wachruft. Zugleich enthüllen die Rückblenden den Ursprung von Karows kompromissloser Art, den Fällen auf den Grund zu gehen. „Die Wahrheit ist das Einzige, was zählt im Leben“, ist der Schlüsselsatz des Vaters. Ein Lebensmotto, das der Kommissar verinnerlicht zu haben scheint, aber auf einer bitteren Erfahrung beruht. Denn stets die Wahrheit zu sagen, kann nicht nur das Umfeld vor den Kopf stoßen, sondern auch Verrat bedeuten.
Karow, der eigentlich nicht für den Fall zuständig ist, ermittelt trotz der Ermahnungen der Staatsanwältin unverdrossen weiter, auch nachdem er sich selbst vom Dienst abgemeldet hat. Auf der Tatwaffe finden sich die Fingerabdrücke von Mesut Günes (Sahin Eryilmaz), dem Oberhaupt einer kriminellen Familie. Karow zweifelt nicht an dessen Schuld, will aber die Gründe für den Mord an seinem Jugendfreund in Erfahrung bringen. Günes, den er in der U-Haft aufsucht, schweigt, aber warum weint er? Schön altmodisch auf Papier geschrieben ist nicht nur der Brief von Maiks Witwe, sondern auch Maiks Einsatz-Tagebuch, das Karow in dessen Wohnung findet. Zitate daraus ergänzen die Rückblenden, die Maiks Kontaktaufnahme mit Günes in dessen Club schildern. Mit Pietschmann („Dark“, „1899“) ist diese „Tatort“-Folge auch mit Blick auf ein jüngeres Publikum prominent besetzt.
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Regisseur Schaller („Aus der Haut“, „Tatort – Damian“, „Polizeiruf 110 – Sabine“) ergänzt den zunehmend aufreibenden Alleingang Karows in der Gegenwart außerdem mit weiteren Rückblenden in dessen Jugendzeit, in der sich Maik (Laurids Schürmann) und Robert (Jona Levin Nicolai) anfreunden. Nur der Trabi im Hintergrund deutet auf eine gemeinsame Kindheit im Osten hin, wobei die harsche Reaktion von Maiks strengem Vater (Uwe Fischer) auf die körperliche Annäherung der beiden Jungs sicher nicht DDR-typisch ist. Von Karow wusste man bereits, dass er dem Sex mit beiden Geschlechtern zugeneigt ist, und auch in dieser Hinsicht ist „Das Opfer“ ausgeprägt physisch inszeniert. Das Thema Homosexualität und die Sorge davor, beim heimlichen Ausleben der eigenen Neigung erwischt zu werden, verbindet die Geschichten in den verschiedenen Milieus und auf den verschiedenen Zeitebenen. So verliert die Dramaturgie nicht ihren Fokus. Die Episode ist gleichermaßen ein spannender Thriller um Organisierte Kriminalität und verdeckte Ermittlungen sowie ein Drama um unterdrückte Homosexualität und die Suche nach Liebe und Wahrheit.
Die Kamera von Markus Nestroy findet ausdrucksstarke, passende Bilder aus einem Berlin der schmuddeligen Nebenstraßen und abgelegenen Schauplätze. Karow wirkt darin wie ein Heimatloser, der geradezu manisch auf der Suche nach der Wahrheit durch die Stadt streift und sich weder auf Freundschaft und Sex, geschweige denn auf Liebe einlassen kann. Ein schöner Nebenschauplatz ist der „Tattoo und Döner“-Laden von Memo (Burak Yigit), der direkt gegenüber Günes‘ Club liegt und sich als Beobachtungsposten bestens eignet. Memos herzliche Freundlichkeit liefert einen wichtigen Kontrast zum kriminellen Günes-Clan und widerspricht auch sonst jedem Berlin-Klischee. Und wo könnte man sonst auf die lustige Idee kommen, Imbiss und Tattoo-Stechen miteinander zu kombinieren? Richtig spannend wird es schließlich, als Karow versucht, über die Prostituierte Camilla mehr Informationen über Maik und dessen verdeckte Ermittlung zu erhalten. Kim Riedle spielt eindrucksvoll diese Frau, die die Gelegenheit ergreifen möchte auszusteigen – und notgedrungen Karow in einem Lagerhaus des Günes-Clans zu Hilfe eilen muss.(Text-Stand: 24.11.2022)
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