Irgendwo im Einzugsgebiet von Köln in den frühen 60er Jahren. Arbeiterkind Hilla (Anna Fischer) darf das Gymnasium besuchen. Mit Sprache, Literatur und jugendlichem Selbstbewusstsein will sie ihrem proletarisch-katholischen und vor allem bildungsfernen Elternhaus entkommen. Sie will lernen, studieren, schreiben und sich ihr Leben nicht von Konventionen bestimmen lassen. Während Mutter (Margarita Broich), Vater (Ulrich Noethen) und Großmutter (Barbara Nüsse) keine Gelegenheit auslassen, dem Mädchen ihr kostspieliges Anderssein vorzuhalten, und es ihnen selten gelingt, ihre Liebe zu zeigen, sucht Hilla nach einer geistigen, einer zweiten Heimat. Ihre Lernstube, provisorisch eingerichtet im Schuppen ihres Vaters, ist ihr Refugium, und ihr Sehnsuchtsort ist die Buchhandlung von Julius Buche (Heiko Pinkowski). Dort deckt sie sich mit Literatur ein und lernt Godehard von Keuken (Daniel Sträßer) kennen, der ein Auge auf sie geworfen hat. Der junge Mann aus bestem Hause zeigt ihr eine neue Welt: das süße Leben voller Luxus und sinnlich-kulinarischer Genüsse. Auch ihre coole Klassenkameradin, die ebenso unnahbare wie selbstbestimmte Monika (Saskia Rosendahl), hat reiche Eltern. Noch verleugnet Hilla ihre Herkunft schamhaft. Aber je ernster Godehards Absichten, umso stärker ist ihr Drang, zu ihren Wurzeln zu stehen.
Der „Aufbruch“, von dem der gleichnamige Fernsehfilm nach dem autobiografischen Roman der Lyrikerin Ulla Hahn erzählt, ist zunächst ein persönlicher: eine junge Frau auf dem Weg zum Erwachsenwerden, auf dem Sprung ins Leben. Gegen alle Widerstände entflieht sie dem Arbeitermilieu ihrer Eltern und will Schriftstellerin werden. Ein weiterer Aufbruch ist der in eine neue Zeit, raus aus der konservativen Adenauer-Ära und rein – aber nur ganz, ganz langsam – in eine neue Zeit, die das Versprechen auf „Bildung für alle!“ gibt, eine Zeit, in der die Autorität der Eltern schwindet und in der für Frauen die drei K’s, Kinder, Küche, Kirche, immer weniger bindend sind. Die 68er-Generation erscheint am Horizont, Vorbote ist die Figur Monika, das toughe Sixties-Girlie aus wohlhabendem Hause, das sich von ihren Nazi-Eltern abwendet. Hilla fällt es dagegen schwerer, sich von ihrer Familie abzunabeln; ja sie entwickelt sogar eine gewisse Loyalität ihrem Elternhaus gegenüber, als ihr Freund, der Adelsspross, der es an sich ehrlich mit ihr meint, sie zunehmend zu vereinnahmen versucht. „Sie soll für ihn jemand sein, der sie gar nicht ist“, sagt Hauptdarstellerin Anna Fischer. „Er bestimmt, was sie anziehen, was sie essen soll.“ Im Grunde gilt für Godehard dasselbe, was auch für die kleinbürgerliche Malocherfamilie gilt: „Keiner kann aus seiner Haut.“ Einen Aufbruch erlaubt Volker Einrauch, der Ulla Hahns Roman adaptierte, allenfalls den beiden jungen Frauen.
Foto: WDR / Thomas Kost
Die größte Herausforderung für den Drehbuchautor sei es gewesen, „aus der literarischen, sehr epischen Vorlage eine Geschichte zu destillieren, die mit einer gewissen Dynamik filmisch erzählen kann“. Das arme Mädchen und der reiche Fabrikantensohn gehört ebenso zu den Hauptmotiven, die die Handlung antreiben, wie der Konflikt zwischen der Enge des Elternhauses und der Freiheit des Geistes, zwischen Tradition und Innovation, zwischen Stagnation und Aufbruch. Anna Fischer als Hilla Palm nimmt den Zuschauer mit auf die Reise in ein befremdliches Milieu mit einer befremdlichen Sprache (ein für heutige Ohren seltsam „altertümlich“ klingendes Kölsch) und in eine Phase der Nachkriegszeit, den frühen 60er Jahren, denen zwar eine legendäre Zeitenwende folgen soll, die aber nicht weniger konservativ und Frauen gegenüber restriktiv waren als die Fünfziger. Fischer: „An Hilla sieht man, wie die Menschen damals für Dinge gekämpft haben, die für uns heute selbstverständlich sind.“
Anna Fischer, während der Dreharbeiten 29 Jahre alt, geht problemlos als 20-Jährige durch. Auch die Art ihres Spiels, der unschuldige Blick beim Entdecken unbekannter Welten, der Trotz, die Wut, die Leidenschaft, die Lust am Leben, die Lust am Lügen, die Begeisterung für Sprache und Literatur – das alles zaubert die Schauspielerin auf ihr Gesicht, auf ihren Körper, dass es eine helle Freude auch für den Zuschauer ist. Betont wird die Unerfahrenheit ihrer Figur, die Naivität und Unschuld, mit der sie der Welt der Kultur und des Luxuslebens begegnet, entscheidend durch das Kostümbild: Die ärmliche Kleidung lässt sie wie einen Fremdkörper in der neuen intellektuellen Welt erscheinen; aber auch gewandet in Chanel und mit modischer Courège-Frisur vermittelt die Heldin – wenn sie nicht gerade im Rausch der Musik ihre Herkunft zu vergessen scheint – ein Gefühl der Fremdheit. Als wolle sie sagen: Das bin ich doch gar nicht. Überhaupt, das Hin- und Hergerissensein jener Hilla, die postpubertäre Selbstfindung, ist das Grundmotiv der Geschichte: Die Heldin erlebt diesen Kampf der zwei Welten, und der Zuschauer erfährt ihn durch Fischers Präsenz und die hohe Sinnlichkeit der Gewerke. Gegen Ende des Films steigert sich die physische Virulenz ins fast Unerträgliche. Hilla wird körperlich großes Leid zugefügt – und sie schlägt wenig später entsprechend brutal zurück. Diese Schläge und das Wissen um die Ursachen machen diese Szenen zu den intensivsten und nachhaltigsten des Films, die den Zuschauer den inneren Schmerz sichtbar werden lassen. Er ist Augenzeuge und wird zum einzigen Verbündeten der Heldin, was die tiefe Tragik der Situation und den Identifikationsimpuls noch verstärkt.
Foto: WDR / Thomas Kost
„Aufbruch“ ist Ulla Hahns zweiter Roman einer Trilogie, die 2001 mit „Das verborgene Wort“ begann und 2014 mit „Spiel der Zeit“ ihr Ende fand. Der Auftakt-Roman, der die Zeit der Kindheit und die Jugendjahre der Heldin beschreibt, sind bereits 2007 unter dem Titel „Teufelsbraten“ verfilmt worden. Fast der gesamte Stab von damals kam im Herbst 2015 für „Aufbruch“ abermals zusammen: Neben Autor Einrauch und Regisseurin Hermine Huntgeburth ist auch die Szenenbildnerin Bettina Schmidt wieder mit von der Partie. Die drei sowie Anna Fischer und Ulrich Noethen bekamen 2009 den Grimme-Preis für diesen zeitgeschichtlichen Zweiteiler. „Aufbruch“ schließt nicht nur, was den Plot angeht, sondern auch sprachlich und optisch nahtlos (Kameramann Sebastian Edschmid ist ebenfalls wieder dabei) an „Teufelsbraten“ an. Eine leichte, entwicklungsgeschichtlich plausible Verschiebung gibt es beim Vater-Mutter-Verhältnis. Mit dem Interesse am anderen Geschlecht nimmt die Nähe zum Vater ab. Die Beziehung zur herrischen Mutter wird dadurch zwar nicht liebevoller, tritt aber stärker in den Vordergrund: Spiegelt sich in ihr doch das überkommene Frauenbild, gegen das die Tochter immer deutlicher opponiert. Das Verhalten von Hilla empfindet die Mutter als Kritik an ihrer Person. „Da herrscht blankes Unverständnis“, so Margarita Broich.
Soundtrack:
Schuberts „Winterreise“, Dean Martin („Sway“), Beatles („She loves you“), Chubby Checker („Let’s twist again“), Ronettes („Be my Baby“), Bobby Rydell („Wild One“)
„Aufbruch“ ist markant ausgestattet, detailgenau in den Innenszenen, dagegen eher konzentriert und atmosphärisch bei den Außenmotiven. So entstehen realistische und gleichsam künstlerisch verdichtete Räume, die sich gegenüber den Schauspielern nie verselbständigen. Die kraftvollen Figuren dominieren die Szenen, die im Kostüm- und Szenenbild ihre zeitgeschichtliche Verortung finden. Aber die stimmige historische Kleidung (Kostümbild: Sabine Böbbis) habe durchaus auch beim Spiel geholfen, wie Anna Fischer anmerkt: „Wenn man sich in eine Zeit hineinversetzt, die man selbst nicht erlebt hat, macht das Kostüm ganz viel mit dir.“ (Text-Stand: 14.11.2016)
Foto: WDR / Thomas Kost