Dem 17jährigen Jannik (Lorenzo Germeno) stehen aufregende Tage bevor. Monatelang passiert so gut wie nichts zwischen Plattenbau und Dauer-Gemobbt-Werden – und jetzt das: Sein neuer und einziger Freund, der Vietnamese Tai (Anh Khoa Tran), hat den Rektor ihrer Schule, Jens Lamprecht (Thorsten Merten), spätabends in einer äußerst verfänglichen Situation aufgespürt. Sturzbesoffen, lallend, kotzend, ein gefundenes Fressen für die Smartphone-Kamera. Doch Tai will mehr: Dank der Reinigungsfirma seines Vaters kennt er sich mit den digitalen Segnungen des einbruchsicheren Luxuswolkenkratzers, in dem Lamprecht vor Kurzem eine Wohnung bezogen hat, bestens aus. Und so kommt er auf die wahnwitzige Idee, Lamprecht in seinen eigenen vier Wänden einzusperren. Jannik ist dabei, solange das Ganze ein Schülerstreich bleibt und keine Gefahr besteht, dass die beiden Jungs auffliegen, die in der leerstehenden Wohnung nebenan ihre IT-Kommandozentrale aufgeschlagen haben. Doch Tai weiß offenbar mehr über den Lehrer. Oder will er sich nur an diesem typischen Vertreter einer deutschen Institution rächen dafür, was man in der Vergangenheit seiner vietnamesischen Familie angetan hat?
Die ARD/Arte-Serie „Nackt über Berlin“ beginnt als köstliche Rache-Komödie, die sich auf Kosten eines ziemlich unsympathischen Lehrkörpers lustig macht, schlägt aber bereits am Ende der ersten Folge ernsthaftere Töne an. Beim Gegenüber dieser beiden Teenager-Außenseiter ist der Kater rasch verflogen. Und als Schuldirektor weiß der Mann, mit Krisen umzugehen. Ein harmloser Schülerspaß ist das nicht mehr, also setzt er „Gott“ – so tauft Tai sich und Jannik – ein Ultimatum. Lamprecht bietet einen Deal ohne Anzeige an. Doch „Gott“ sieht alles, auch, dass der Pädagoge seine(n) Entführer auszutricksen versucht. Also geht das Spiel weiter. Lamprecht kann versuchen, was er will (rauchen, bis der Feuermelder piepst, die Wohnung unter Wasser setzen, auf die Lehrerkollegen hoffen), auf alles haben die cleveren Bürschchen die passende Antwort. Und von Folge zu Folge zeichnet sich ab, dass dieser Mann als Ehemann, Familienvater, Schulleiter und Pädagoge menschlich versagt hat. Sein Zynismus trieb die Ehefrau (Kathrin Angerer) in die Arme eines anderen, den spielsüchtigen Sohn hat er fallen gelassen, bei einem Schulskandal nur falsche Entscheidungen getroffen, dem Vater einer Schülerin und einer Kollegin übel mitgespielt. All diese Personen hätten gute Gründe, „Gott“ zu sein. Und so glaubt der in seinem Glaskäfig immer kraftloser vor sich hin Vegetierende mal den einen, mal den anderen der von ihm Gepeinigten im Gegenüber zu erkennen. Was folgt ist ein gnadenloser Seelenstriptease. Die Jungen sind baff, die Zuschauer gebannt.
Wer sich durch die „Tatort“-Episoden von Axel Ranisch gequält hat, wird zwischen den beiden Impro-Krimis und dieser Serie nichts Verbindendes sehen. Wer seine kleinen, schrägen Außenseiter-Kino-Preziosen wie „Ich fühl mich Disco“ oder „Alki Alki“ mag oder seine Grimme-Preis-gekrönte Fami-ien-Chaos-Komödie „Familie Lotzmann auf den Barrikaden“ schätzt, der darf auf diese Serie gespannt sein. Und wer Axel Ranisch als Schauspieler in der leider viel zu früh abgesetzten ARD-Donnerstagskrimi-Reihe „Zorn“ gesehen hat, dem wird in dieser Rolle seine unwiderstehliche Freundlichkeit im Gedächtnis geblieben sein. Eine Freundlichkeit, die er auch seinen liebenswerten Außenseiter-Figuren einverleibt. „Nackt über Berlin“ vereint nun alles das, was Ranisch und seine Filme so besonders, ja so besonders gut und außergewöhnlich macht: die Sympathie für seine Anti-Helden, Außenseiter, die sich nicht verbiegen lassen wollen, häufig nicht gängigen Schönheitsidealen entsprechen und die spezielle Leidenschaften pflegen, beispielsweise Disco-Mucke oder in der neuen Serie Klassik. So schwebt Jannik vorzugsweise mit Tschaikowsky aus der Hochhaus-Tristesse in den siebten Himmel. Dabei verlieben sich der schwergewichtige Held und sein vietnamesischer Freund ineinander, auch das gehört zu Axel Ranischs authentisch ostdeutsch geprägten Geschichten. Genauso wie diese hinreißende Herzenswärme der „Helden“ zu einem Elternteil; bei Jannik ist es die von Alwara Höfels gespielte Mutter, die mit ihm zusammen ein emotionales Dream-Team bildet. Der Vater, gespielt von Devid Striesow, liebt seinen „Großen“ schon auch, aber ein bisschen etwas „normaler“ würde er sich seinen Jungen schon wünschen. Am liebsten würde er ihm eine Portion Hormone verpassen. Vor allem „die Geschichte da unten rum“ bereitet ihm Sorgen.
In „Nackt über Berlin“ findet sich also das bewährt Gute. Was ein Ranisch-Kenner nicht erwartet, ist allerdings eine in jeder Hinsicht so perfekte Serie. Möglicherweise liegt es daran, dass dem Filmemacher, der das Drehbuch wie immer gemeinsam mit Sönke Andresen verfasst hat, sein eigener gleichnamiger Roman als Vorlage diente, also die Geschichte von Anfang an einen starken Plot und eine klare Struktur besaß, das, was seinen Filmen häufig einen Abzug in der B-Note beschert. Hinzu kommen die faszinierenden, bisweilen ambivalenten Beziehungen. Während Jannik seine Eltern einschätzen kann, bleibt für ihn Tai, der schon mal tagelang abtaucht, ein Rätsel. Spielt er ihm seine Gefühle nur vor? Nutzt er ihn aus? Neben der Geiselnahme gewinnt also auch das Thema „Frühlingserwachen“ an Gewicht. Da Jannik seinen Vater nicht enttäuschen will, schiebt der Junge sein Coming-out auf. Der Sportmediziner, zu dem der Papa ihn schleppt, in besagter Hoffnung, dass er ihm eine Testosteron-Bombe verpasse, macht dem Jungen Mut: „Du bist 17 Jahre, schwul und lebst in Berlin – was Besseres kann dir nicht passieren.“ Und auch sein Cousin bietet ihm ein Date an mit einem, der auf Wikingertypen wie ihm steht.
Trotz Thriller-Motiv steckt „Nackt über Berlin“ voller kleiner komödiantischer Einlagen. Und wie häufig bei Ranisch werden Wunsch- und Alpträume in bizarr-groteske Zwischenspiele verpackt. Das erhöht dem Spaßfaktor erheblich. Aber auch und vor allem dramaturgisch funktioniert die Serie nahe perfekt. Die Zeitsprünge, die zunehmend Licht ins Dunkel der Lamprecht-Vita bringen, sind immer nachvollziehbar, verdichten die Geschichte und erzeugen jenen Sog, den sich Serienmacher und Zuschauer so sehr wünschen. Auch wenn man sich fragt, woher diese kriminelle Energie der Teenager kommt und wohin sie wohl führen wird, so ist es nicht die Geiselnahme, die diesen Sog erzeugt, sondern der spezielle Mix aus Genres, Stimmungen und Bildern. Komödie, Thriller, Tragikomödie, Coming-of-age-Dramedy, ein schwerer, erschütternder Drama-Plot, eine Freundschaftserzählung, Musical- und Fantasy-Elemente – die Serie steckt voller wunderbarer Details und Überraschungen. Sie zeigt, wie man auch ohne Krimi-Muster Neugier weckt und jede Menge Spannung aufbauen kann. Großartig, wie in Folge 5 ein Zwischenspiel an der Ostsee tragische Familien-Erinnerungen mit jeder Menge absurder Situationskomik auflädt und durch die smarten Einspielungen aus Tais Videoarchiv nie der Bezug zum Entführungsfall verloren geht. Ganz famos sind auch die Schauspieler: Für jeden Moment den richtigen Ausdruck und viel mehr als einfach nur knuffig und ein netter junger Mensch, so gibt Lorenzo Germeno seinen Jannik; Striesow spielt den „Papa“ ambivalent und zwingt den Zuschauer trotzdem zum Dauerschmunzeln; und für Thorsten Merten als von „Gott“ gebeuteltem Lehrkörper, dessen seltsames Verhalten in der Schlussszene durchaus eine Folgestaffel ermöglichen könnte, gibt es eine Eins mit Sternchen.