Tatort – Borowski und der Himmel über Kiel

Milberg, Kekilli, Schlott, Basedow, Schwochow. Rita H. – Die Teens auf Crystal Meth

Foto: NDR / Christine Schröder
Foto Rainer Tittelbach

Kopf ohne Körper – ein grausiger Fund in einem Dorf bei Kiel verschlägt Borowski und seine Kollegin Sarah Brandt in den Kieler Drogensumpf. „Borowski und der Himmel über Kiel“ ist ein Film zwischen Rauscherfahrung und Zerstörungswut. Eine Tragödie, die auf leisen Horrorfilm-Sohlen daher schleicht. Ein seltsames Dorf, eine fremde Welt, eine Droge und eine bemitleidenswerte junge Frau, der nicht nur der Kommissar große Sympathie entgegenbringt. Christian Schwochows Ausnahme-„Tatort“ ist ein Film aus einem Guss, angetrieben von einem Erzählfluss, der Wirklichkeit & Wahnvorstellung, Gegenwart & Vergangenheit, das Dynamisch-Überdrehte & Düster-Depressive traumwandlerisch zusammenfließen lässt.

Grausiger Fund in der Nähe von Mundsforde, einem kleinen Dorf bei Kiel. Ein abgetrennter Kopf liegt in einem Gewässer. Wer ist der junge Mann? Wo ist der dazugehörige Körper? Weshalb verhalten sich hier auf dem Land einige Bauern ausgesprochen seltsam? Borowski und seine Kollegin Sarah Brandt verschlägt es in den Kieler Drogensumpf, wo sie bald erste Antworten bekommen. Der Tote war Crystal-Meth-abhängig und auch als Dealer unterwegs. Extremer auf Droge und härter beim Geldeintreiben war Rita, seine Ex-Freundin, heute clean, Rückfälle inklusive. Die junge Frau erzählt den Kommissaren von ihrer Drogenkarriere, wie sie sich nach dem Abi in jenen Mike verliebte. Es sei anfangs eine Zeit im Rausch gewesen, voller Energie und Ekstase, doch unaufhaltsam kam der Absturz mit Angst, Suchtverhalten und körperlichem Verfall. Ihre Redseligkeit bringt die Kommissare auf eine heiße Spur – Rita allerdings in Lebensgefahr. Ist das der Grund, weshalb sie ihre Aussagen wenig später in Zweifel zieht und behauptet, alles sei wahrscheinlich ihrer Crystal-Phantasie entsprungen.

Tatort – Borowski und der Himmel über KielFoto: NDR / Christine Schröder
Energetisches Zwischenhoch – eine einzige Selbsttäuschung. Regisseur Christian Schwochow, Kameramann Frank Lamm und Cutter Jens Klüber haben eindringliche Bilder und Montagen für Rausch & Ekstase gefunden. Elisa Schlott, Joel Basman

Ein Film zwischen Rauscherfahrung und Zerstörungswut. Eine Tragödie, die auf leisen Horrorfilm-Sohlen daher schleicht. Ein Dorf, das den Zuschauer in eine seltsame, fremde Welt entführt. Eine Droge, die bereits andernorts Fernsehgeschichte geschrieben hat. Eine bemitleidenswerte Antiheldin, der nicht nur der Kommissar große Sympathie entgegenbringt… Der „Tatort – Borowski und der Himmel über Kiel“ ist ein Film aus einem Guss, ein Krimi, der sich selbst schreibt, angetrieben von einem Erzählrhythmus, der Wirklichkeit und Wahnvorstellung, Gegenwart und Vergangenheit, das Dynamisch-Überdrehte und das Düster-Depressive traumwandlerisch sicher zusammenfließen lässt. „Der Film ist in seiner Erzählweise so überhöht, dass der fiktive Ort Mundsforde zur Allegorie wird“, betont Regie-Wunderkind Christian Schwochow, der nach „Novemberkind“ (2007), „Die Unsichtbare“ (2010), „Der Turm“ (2011), „Westen“ (2014) und „Bornholmer Straße“ (2014) nun seinen ersten „Tatort“ gedreht hat. Die „teilweise sehr harte Tonart in den Fällen“ habe ihm immer schon an den Milberg-Krimis aus Deutschlands nördlichstem Bundesland besonders gefallen. Jetzt setzen er und Autor Rolf Basedow („Im Angesicht des Verbrechens“), der immer gut ist für akribisch recherchierte Stoffe („Operation Zucker“), die sich ins Ästhetisch-Genrehafte („Eine Stadt wird erpresst“) oder Schräg-Bizarre („Hotte im Paradies“) hochschrauben lassen, noch einen drauf: durchgeknallte Dörfler, Teenage-Spirit & Techno-Rave, Crystal-Meth-Opfer, denen nicht die Zähne ausfallen, und statt einer Leiche gibt es nur einen Kopf.

„Um zu zeigen, warum Crystal wie die Pest über das Land kommt, braucht es eine Visualität, die verdeutlicht, wie die User den Rausch erleben. Als Kontrapunkt zeige ich den Absturz in seiner drastischen Grausamkeit.“ (Schwochow)

Tatort – Borowski und der Himmel über KielFoto: NDR / Christine Schröder
Entfesselnde Wirkung. Axel Milberg: „Rita umarmt Borowski, weil sie sich freut, ihn zu sehen. Die Dinge, die uns sonst schwerfallen, macht diese Droge leicht. Leider.“

Schwochow und der dreifache Grimme-Preisträger hätten es sich leichter machen können. Doch sie wollten keinen jener öffentlich-rechtlichen Anti-Drogen-„Tatorte“ mit guter Haltungsnote und mit Kommissaren, die das menschliche Jammertal moralinsauer begleiten. „Wenn man Menschen davor bewahren will, dass sie eine so gefährliche Droge wie Crystal Meth nehmen, dann muss man sich mit der Faszination beschäftigen, die die Droge ausstrahlt“, so Schwochow. Und so gibt der Film nachhaltig Einblick in Suchtkarrieren und vermittelt hoch sinnlich (und doch alles andere als nachahmenswert), wie sich der erste Rausch anfühlt und wie unausweichlich der brutale Niedergang kommt für Menschen, die der Droge verfallen sind. „Tatort – Borowski und der Himmel über Kiel“ zeigt das Wesen der Sucht heute, 34 Jahre nach „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, drogenpolitisch abgestimmt auf ein „Teufelszeug“, bei dem es dem User zunächst „um den hedonistischen Wunsch, mehr Intensität beim Erleben zu haben“ geht, so der Leiter einer Drogenreha-Fachklinik, und ästhetisch mit einem Ansatz, der nicht wie Ulrich Edels Kultfilm eine „Idolisierung“ seiner suchtkranken Hauptfigur betreibt. Schwochow war es nur wichtig, dass seine Rita nicht wie ein „Zombie“ aussehen sollte. Sonst wäre die Gefahr groß, „dass man kleine Wahrheiten findet wie den Verfall und sich daran festbeißt“, so der Regisseur. „Das mache es dem Zuschauer zu einfach, eine Haltung zu diesem Phänomen zu finden.“

Auch wenn bei aller gebotener Distanz zu diesem „seltsamen“ Fall und dem gesellschaftlich sensiblen Thema zwischen Borowski/Brand bzw. Milberg/Kekilli noch in keinem ihrer gemeinsamen „Tatorte“ so viel Vitalität und Leben im Spiel war, sie sich bislang noch nie so heftig angegangen sind, so gehört doch das Gesicht dieses Films Elisa Schlott. Oft in fahles Licht getaucht, das die bleiche Färbung von Wangen und Stirn noch betont, verkörpert sie ihre Figur zutiefst glaubwürdig. Zwischen Ernsthaftigkeit und Angst pendelt ihre cleane Rita, zwischen Weltumarmungsgeste und Horrortrip bewegt sich das Mädchen, das sich verführen ließ von der Droge („alles leuchtet, alles wird warm“). Borowskis besondere Nähe zu Rita – sie dient ihm als Projektionsfläche für die eigene Tochter, zu der er seit Jahren keinen Kontakt mehr hat – trägt das Übrige dazu bei, dass man als Zuschauer dieser Figur große Empathie entgegenbringt. Da sitzt sie und spritzt sich den teuflischen Muntermacher (die Schauspielerin verabreichte sich eine Kochsalzlösung). Und dann der Rausch, gerade der muss bei diesem Lust-Realismus, den Schwochow im Sinn hatte, besonders „authentisch“ gespielt sein. „Da muss man alles ausschalten, das Team um einen herum vergessen und ohne Hemmungen loslegen“, so Schlott. „Dann lässt man das Kopfkino laufen, konzentriert sich auf seinen Körper, schärft alle Sinne – und lässt zu, was mit einem passiert.“ (Text-Stand: 31.12.2014)

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Reihe

NDR

Mit Axel Milberg, Sibel Kekilli, Elisa Schlott, Joel Basman, Alexander Finkenwirth, Matthias Weidenhöfer, Thomas Kügel, Timo Jacobs, Anke Retzlaff

Kamera: Frank Lamm

Szenenbild: Isolde Rüter

Kostüm: Kristin Schuster

Schnitt: Jens Klüber

Musik: Daniel Sus

Produktionsfirma: Nordfilm Kiel

Drehbuch: Rolf Basedow

Regie: Christian Schwochow

Quote: 10,67 Mio. Zuschauer (28,5% MA); Wh. (2024): 4,62 Mio. (19,4% MA)

EA: 25.01.2015 20:15 Uhr | ARD

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