Eine 16-Jährige wird von drei Klassenkameraden auf einer Party vergewaltigt
„Wir machen nichts!“, schreit Isy (Milena Tscharntke) ihre Mutter Bea (Claudia Mehnert) an. Die 16-Jährige ist entnervt – und traumatisiert. Sie ist auf einer Party Opfer einer dreifachen Vergewaltigung geworden, an die sie sich aber nicht mehr erinnern kann. Viel Alkohol ist geflossen und alle möglichen Drogen waren im Spiel. Der frühreife Lenny (Ludwig Simon) war der Initiator. Als letzter ließ sich der sensible Jonas (Michelangelo Fortuzzi) zum Sex mit dem bewusstlosen Mädchen hinreißen. Die Jungs vertuschen die Tat. Dass Jonas Isys bester Freund und er insgeheim in sie verliebt ist, machen die Tage nach der Party auch für ihn zur Qual. Und das Mädchen offenbart sich zwar seiner Mutter, Anzeige erstatten aber will es nicht. Isy möchte sich einen möglichen Spießrutenlauf in der Schule und eine weitere, öffentliche Demütigung im Netz ersparen. Für Jonas sieht das sein Vater Richard (Hans Löw) ähnlich: Nur nichts nach außen dringen lassen. Der Mann ist Staatsanwalt und nimmt die Sache in die Hand. Seine Frau Carola (Claudia Michelsen) hingegen ist hin und her gerissen. Sie kann einfach nicht zur Tagesordnung übergehen. Hinzu kommt, dass Bea ihre Freundin ist und sie beruflich gemeinsame Pläne haben. Carola macht sich Vorwürfe und stellt dabei auch ein Stück weit ihre Ehe in Frage. Dennoch rät selbst sie Jonas vom Gang zur Polizei ab. Kann es in dieser allseitig verfahrenen Situation eine richtige – eine aufrichtige – Lösung geben?
Foto: RBB / Jana Lämmerer
Weder Depri-Drama noch „alles easy“: Es geht um Schuld, Verantwortung, Moral
„Alles Isy“ erzählt eine unfassbare und gleichsam alltagsnahe Geschichte. Der Plot deutet es bereits an: Das Geflecht der Beziehungen ist engmaschig, das Dilemma umso größer. Die Perspektiven wechseln ebenso wie die Haltungen. Gerade noch war Jonas‘ Vater Richard als Staatsanwalt und Freund Beas Ratgeber in Sachen Vergewaltigung, wenige Stunden später muss er sich vor seinen Sohn stellen und der Freundin der Familie in den Rücken fallen. Und seine Frau Carola bekommt plötzlich Zweifel, ob das noch der Mann ist, den sie einmal geliebt hat. Auch sie will Jonas schützen, allerdings ohne selbstgefälliges Macher-Gehabe. Und dann ist da noch Nora, die unbemerkt Augenzeuge der Vergewaltigung wurde, aber Stillschweigen bewahren will. Ihr Preis ist Jonas, den sie schon seit längerem anhimmelt. Die Hauptkonflikte aber müssen Jonas und Isy austragen: der sensible, schwärmerische Junge, der sich seiner Tat schämt, unter ihr leidet und nicht weiß, wie er ohne Isys Freundschaft leben soll, und das körperlich wie seelisch verletzte Mädchen, das sich den Kopf zermartert über jene Nacht, sich dabei auch falsche Vorstellungen von der Tat macht – und deren Selbstbild im Keller ist. So viel sei verraten: Mark Monheim („About a Girl“) und Max Eipp („Wut“), die Autoren, die auch Regie geführt haben, finden eine dramaturgisch gute Film-Lösung mit einem klitzekleinen lebensweltpsychologischen Schönheitsfehler (kein Mädchen wird nach seiner Vergewaltigung wenige Tage später mit einem Jungen – auch wenn’s der beste Freund ist – schlafen wollen). Mit Pillen oder „Es wird schon“ ist es nicht getan: „Alles Isy“ endet weder als Depri-Drama noch als „alles-easy“-Fernsehfilm. Es geht um Schuld, Sühne, Moral, Verantwortung. Die Vergewaltigung betrifft viele, wirklich betroffen sind wenige.
„Wir wollten einen Film machen mit starken emotionalen Konflikten und ambivalenten Figuren, zu denen sich die Zuschauer immer wieder neu positionieren müssen. Keine unserer Figuren ist einfach nur gut oder böse – die Entscheidungen, die sie im Laufe der Erzählung treffen, sind es, die offenbaren, welche innere Haltung sie zu der Tat einnehmen.“ (Mark Monheim, Max Eipp)
„Unsere Bilder orientieren sich an den Lebenswelten und Emotionen der Teenager. Die dynamische, bewegte Kamera soll den Zuschauer an das pulsierende Lebensgefühl erinnern, an schnelle Stimmungswechsel und emotionale Achterbahnfahrt.“ (Kamerafrau Jana Lämmerer)
Foto: RBB / Jana Lämmerer
Stimmig erzählt, umsichtig inszeniert: die Vergewaltigung wird nur angedeutet
Auch während der 90 Minuten stimmen die Zwischentöne. Eine Plansequenz eröffnet den Film: Die Kamera nähert sich langsam aber bestimmt dem Klassenzimmer, in dem eine Elternversammlung aus den Fugen gerät. Ein Konflikt, der nicht konkret benannt wird, steht im Raum. Beim Krisengespräch der beiden Mütter anschließend wird ein Tick mehr verraten, aber erst in der nächsten Sequenz, der unheilvollen Party, wird das Geheimnis für den Zuschauer gelüftet. Nach einer intimen, scharf cadrierten Einstellung von Isy und Jonas (die beiden wirken wie ein Liebespaar, sind aber „nur“ beste Freunde), quasi die Bild gewordene Wunschprojektion des Jungen, ist es mit der Ruhe schnell vorbei. Denn die Party droht durch ungebetene Facebook-Gäste aus dem Ruder zu laufen. Und dann noch der Schock: Isy hat einen Freund, der ist älter als Jonas und männlicher sowieso, und als der wenig später mit seiner Ex rummacht, ist auch Isy bedient. Die Reaktion der beiden: Jetzt wird „Party gemacht“. Aber richtig! Und dann passiert „es“: eine leichtfertige Grenzüberschreitung für die Jungs, eine schmerzliche, tiefe Wunde für das Mädchen. „Eine Zumutungsgeschichte, die uns im besten Sinne beunruhigt“, urteilte 2014 die Jury des Emder Drehbuchpreises und vergab den zweiten Preis an Monheim und Eipp. Kaum sind die Figuren, die Freundschaft von Jonas und Isy sowie ihre beiden Mütter, eingeführt – bewegt sich der Film ohne Umschweife auf die Vergewaltigungsszene zu. Die gezeigte Situation geht einem als Zuschauer nah, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die Vergewaltigung weder beschönigt noch als Spekulationsmoment spannungssteigernd hinauszögert (und sie somit dramaturgisch nicht missbraucht). Auch die Darstellung der prekären Szene ist sehr umsichtig gestaltet. Kamerafrau Jana Lämmerer wählt Einstellungen, in denen Opfer und Täter nicht gemeinsam im Bild zu sehen sind. Isy ist umgefallen und liegt auf dem Boden, ein Bett verhindert den Blick auf das Mädchen.
Kein pädagogischer Beratungsfilm und doch eine ideale Grundlage für Diskussionen
Und auch in anderen Fällen bedarf es nicht immer einer expliziten Ausführung oder gar Thematisierung im Film. Dass Lenny ein „Problemjugendlicher“ ist, diese Information fällt ein Mal ganz nebenbei. Was er ist, das kann der Zuschauer (selber) sehen: ein Junge, dem das Testosteron offensichtlich zu Kopfe steigt und der in seinem Übermut sogar Jonas Mutter eines Nachts unangenehm anmacht. Die sagt zwar „Stopp“, aber ein kleines Andenken, ihren Slip, nimmt er sich mit, um ihn bei gegebenem Anlass dem „Macher“ Robert, nachdem er ihn zusammengestaucht hat, triumphierend vor die Füße zu werfen. Zu den Zwischentönen gehört auch eben dieses aggressive männliche Verhalten: In einer Szene fährt der Vater Jonas gewalttätig an, wenig später drängt ihn auch Lenny vehement in die Ecke, woraufhin der sensible Junge den noch schwächeren Dritten im Bunde der Vergewaltiger barsch anmacht („Verpiss dich, du Schwuchtel“). Die Handlung ist nicht überfrachtet mit Informationen für Betroffene; dennoch finden Beratungsangebote für Opfer sexueller Gewalt und die Möglichkeit einer anonymen Spurensicherung, die der Vergewaltigten Zeit gibt, sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden, stimmig Eingang in die Filmerzählung. Die Macher wissen, was sie wollen: keinen wohlfeilen Themenfilm, sondern ein dichtes, vielschichtiges Drama, in dem das gesellschaftliche Thema „sexuelle Gewalt“ sehr gut aufgehoben ist. Vieles wird beiläufig angesprochen (der Gruppendruck, Generation Porno, die Instrumentalisierung der Tat, die Hilfsangebote für Opfer, der leichtsinnige Umgang mit Alkohol, Drogen & dem eigenen Sex-Appeal), ohne überfrachtet zu wirken, und ist deshalb auch sehr gut geeignet als Ausgangspunkt für Diskussionen. „Der Film sollte an den Schulen laufen“, findet denn auch Hauptdarstellerin Claudia Michelsen. Bewusst haben die Macher „viele Dinge offengelassen und nicht ausbuchstabiert“, betont Monheim: die Schuldfrage, das Maß der Entschuldbarkeit, die Frage, ob und wie es zu verhindern ist, „dass jemand unter Drogen und Alkohol auf die Idee kommt, die Wehrlosigkeit eines Mädchens auszunutzen“. Das sind juristische und gesellschaftspolitische Fragen. Die Geschichte von „Alles Isy“ konzentriert sich indes auf die moralische Sicht der Dinge. Das und vieles mehr gelingt diesem Film hervorragend.