Missbrauchtes Vertrauen – von Helfern, Jägern und ihrer Beute im Netz
Die 13jährige Sara (Lena Urzendowsky) will auch ein Bisschen so sein wie ihre frühreife Freundin. Doch sie ist schüchtern, unsicher, unerfahren und bedingt durch ihre hochromantische Ader ziemlich gutgläubig. Und so gerät sie im Internet an Simon Keller (Devid Striesow), einen Lehrer und verheirateten Familienvater um die 40, der sich im Chat als Teenager Benny ausgibt. Beide verstehen sich gut, sind sich schnell virtuell nah – freundschaftlich. Doch dann verguckt sich Sara in den gut aussehenden Kevin (Louis Hofmann) und „Benny“ ist erst einmal abgemeldet. Ihr Schwarm ist vier Jahre älter als sie und ist entsprechend zielstrebig, dann lässt er sie zappeln, schließlich wird sie aktiv und drängt sich ihm mit aufreizenden Fotos auf. Daraufhin erpresst Kevin Sara und fordert noch intimeres „Material“ von ihr. Jetzt kommt der falsche Benny wieder ins Spiel. Der kennt zufällig einen medienkompetenten Vertrauenslehrer. Sein Name: Simon Keller. Die beiden treffen sich – und der Mann, der gerade noch Benny war, ist äußerst achtsam, sensibel und er will die Sache mit Kevin selbst in die Hand nehmen. Doch kann eine 13-Jährige einem Mann vertrauen, der den Turnunterricht vorpubertärer Mädchen als Wichsvorlage benutzt?!
„Identitäten verschleiern, Informationen sammeln, das Opfer kontrollieren – darum geht es bei Cyber-Kriminalität … Versteht mich nicht falsch, ich will das Internet nicht verdammen, ich will euch nur bewusst machen, dass dort Jäger unterwegs sind und, wenn Ihr nicht aufpasst, seid Ihr vielleicht die Beute.“
(Devid Striesows Medienpädagoge Simon Keller im Unterricht)
Du kannst dir niemals sicher sein – doch das Genre lässt einiges erahnen
Zurücklehnen kann man sich als Zuschauer bei diesem herausragenden Thriller-Drama 90 Minuten lang so gut wie nie. Immer wieder werden in „Das weiße Kaninchen“ neue Zugänge zum Problemfeld Cyber-Kriminalität geöffnet, immer wieder bietet die Geschichte andere Perspektiven und unerwartete dramatische Wendungen an. Und zwischendurch (aber auch am Ende) bleiben immer wieder Fragen offen – wodurch das Klima der Verunsicherung noch erhöht wird. Besitzt dieser Mann zwei ausgeprägte Persönlichkeiten? Will er helfen? Liebt er wahrhaftig (platonisch)? Kommt ihm nur immer wieder sein Trieb in die Quere?! Und gehört das Anbaggern im Internet, dieses Rollenspiel, tatsächlich zu den Präventivmaßnahmen eines Medienpädagogen? Ist das Benutzen einer falschen Identität letztlich ein manipulativer Trick zum Wohle des Teenagers? So jedenfalls erklärt jener Vertrauenslehrer, den Devid Striesow mit genau dieser ambivalenten Doppeldeutigkeit preiswürdig verkörpert, sein Vorgehen gegenüber der Polizei. Sie kommt erst in der Mitte des Films ins Spiel, in Form der Abteilung Cyber-„Grooming“. Jetzt erfährt die Handlung eine stärker kriminalistische Ausrichtung – und plötzlich ist da neben einer Psychologin (interessanter Typ: Samia Chancrin), die beiläufig den Eltern der jungen Heldin und den Zuschauern ein wenig die Regeln der Opfer-Therapie näherbringt, ein Kommissar (psychophysisch stark: Shenja Lacher), der etwas ähnlich Zwanghaft-Manisches besitzt wie Striesows Lehrer. Und dieser hat nur ein einziges Ziel!
Noch vor der TV-Premiere von „Das weiße Kaninchen“ bekamen die Autoren im Juni beim Emder Filmfest den Creative Energy Award verliehen. Ich saß in der Jury. Auf Grundlage unserer Diskussion habe ich folgende Laudatio verfasst:
„Das weiße Kaninchen“ ist ein hoch sinnlicher Thriller über Cyber-Grooming, der dem Zuschauer physisch nahe kommt, der ihn tief berührt und noch lange beschäftigt. Das, was wir nicht sehen, die Keimzelle dieses herausragenden TV-Films, ist die kreative Energie-Leistung der Drehbuchautoren: Holger Karsten Schmidt und Michael Proehl haben die Weichen gestellt für die anderen Gewerke. Ihr Buch ist die Basis für die mutigen Regie-Einfälle, die markanten Bild-Ideen, für die überragenden Schauspielerleistungen, für den dynamischen Erzählfluss. Die Autoren haben einen perfekten Thriller geschrieben, der auch zur Aufklärung taugt, weil er das Internet mit seinen Möglichkeiten, falsche Identitäten zu etablieren, nicht verteufelt, sondern das Faszinationspotenzial des Mediums wirkungsvoll mitreflektiert. Für den Zuschauer gibt es kein Entrinnen aus der Geschichte mit ihren brutalen Volten und bösen Dialogen. Das ist mehr als spannendes Genre-Fernsehen, das ist vielschichtige Erzählkunst, die den Stoff tief durchdringt.
Drei Grimme-Preisträger machen einen ganz außergewöhnlichen Film
„Das weiße Kaninchen“ wurde von Holger Karsten Schmidt (Grimme-Preise für „Mord auf Amrum“ & „Mord in Eberswalde“) anfangs stärker als Krimi-Drama entwickelt. Die Fokussierung auf die Lehrerfigur mit ihren Obsessionen und ihrer bi-polaren Doppelstruktur, ihrer Allmachtsposition und dramaturgischen Dominanz brachte später Michael Proehl verstärkt ins Drehbuch ein. Damit einher geht der besonders reizvolle subjektive Zugang zu dieser ambivalenten Figur. Man spürt, wie dieser Typ tickt, wie er bei jedem die richtige Schublade zu ziehen in der Lage ist, wie perfide er seine Pläne schmiedet. Dieser Mann weiß alles über die Psychologie der Pubertät, über das Internet und seine vielfältigen Möglichkeiten und über die Täter, die online Beute machen. Als Zuschauer dringt man ein in das Seelenleben dieser Figur, die einem nicht psychologisch erklärt wird, einem dafür aber umso genauer zeigt, wie perfekt sie im Rahmen dieser Geschichte (die sich durchaus auf die Realität übertragen ließe) die Fäden zieht und wie gefährlich sie sein kann. Mit dieser Figur und dem Teenager, der gleich doppelt zum Opfer zu werden droht, machen Proehl und Regisseur Florian Schwarz (beide erhielten einen Grimme-Preis für den „Tatort – Im Schmerz geboren“) auch die Mechanismen dieses in der Theorie kalten, für viele User allerdings äußerst heißen Mediums deutlich. So wird hier nicht einsam in die Keyboard-Tastatur gehämmert, vielmehr wird Chatten zum emotional wärmenden Gemeinschaftserlebnis, zum Wunschraum, zur Traumwelt, losgelöst vom grauen Alltag. Sara glaubt, beim Chatten einen Freund gefunden zu haben. Der Kontakt euphorisiert sie, das Mädchen (sehr überzeugend: Lena Urzendowsky) strahlt. Alle ihre Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte scheinen plötzlich wahr zu werden. Schwarz zeigt das, indem er die Kommunizierenden nicht isoliert, sondern sie miteinander sprechen lässt und in ein magisches Bild rückt – zugleich eine Metapher für den Verschmelzungsgedanken. Überhaupt: die Bildsprache. Sie korrespondiert mit dem bereits preisgekrönten Drehbuch (siehe: Kasten) perfekt, indem sie die Ambivalenzen der Geschichte immer wieder spiegelt. Das für einen Fernsehfilm überaus präzise Szenenbild von Károly Pákozdy und die Bildgestaltung von Kameramann Philipp Sichler, die beide bereits in dem Ausnahme-„Tatort“ von Schwarz und Proehl ihre ganze Klasse zeigen durften, setzen auch bei diesem alltagsnahen Stoff auf eine Raumgestaltung, die aus dem Abbildrealismus ins Poetische dringt und an Kinobilder erinnert. Das Cinemascope komplettiert diesen Eindruck.
Der Glücksfall, mit einem Hochspannungsthriller pädagogisch wertvoll zu sein
Dass „Das weiße Kaninchen“ in seiner Erzählstruktur & Dramaturgie vorbildlich ist, muss nicht weiter betont werden. Schmidt und Proehl gehören zu den besten Spannungsautoren hierzulande. Hingegen nicht genug gelobt werden muss die Raffinesse der Geschichte: diese permanente Doppelbödigkeit, die sich über die gesamte Narration erstreckt. Der Film spiegelt aber gleichsam die Skepsis seiner Macher in Bezug auf – nennen wir es – pädagogisch wertvolle Themenfilme. Wie lässt es sich anders verstehen, dass hier ausgerechnet ein (Medien-)Pädagoge sein Mehrwissen ausnutzt – bis hin zu einem Verhalten, das man als Missbrauch eines Missbrauchs bezeichnen könnte. Trotz dieser im Subtext subversiv rumorenden Doppelstruktur der Aufklärung und trotz des Credos der einstigen jungen Wilden vom HR, in erster Linie immer einen spannenden, mitreißenden (Genre-)Film machen zu wollen, ist am Ende dennoch ein Thriller-Drama herausgekommen (verantwortet vom sonst selten innovativen SWR) mit einem großen gesellschaftspolitischen Mehrwert. Nicht umsonst soll der Film in einer bearbeiteten Fassung in Schulen gezeigt werden. „Das weiße Kaninchen“ könnte aber – ähnlich wie „Homevideo“ – durchaus auch im Fernsehen oder in Mediatheken bei jungen Zuschauern punkten. Denn die Verführungskraft des Internets, der die Jugend ja mehr und mehr erliegt, findet bei diesem Film ihre Meister: Spannende, intelligente und zeitgeistig relevante Filme finden immer ihr Publikum – gerade in Zeiten des Internets mit seinen sozialen Netzwerken. Solange es Filme wie diesen gibt, brauchen wir uns um die Zukunft des Films & um das Medien Fernsehen nicht zu sorgen. (Text-Stand: 26.7.2016)