Es ist 25 Jahre her, da sah Cornelius (Peter Habich) für sich keinen anderen Ausweg, als die große Liebe seines ersten Lebensabschnittes, Julia (Eleonore Weisgerber), zu verlassen, weil er erkannt hatte, dass er Männer liebt – und einen, Frank (Stephan Kampwirth), ganz besonders. Für den Achtundsechziger Conny, aber auch für Julia, eine überzeugte linke Journalistin, wäre es unmöglich gewesen, ein unehrliches Ehe-Arrangement zu führen. Dafür gehasst hat Julia ihren künftigen Ex damals natürlich dennoch, und sie hat so schnell wie möglich das Weite gesucht, in Richtung San Francisco. Für ihn war es offenbar kein allzu großes Problem, dass seine beiden Kinder, Natascha (Maren Eggert) und Abel (Florian Panzner), damals unter der Trennung und der neuen Situation mit einem schwulen Vater gelitten haben, und auch dass sein Lover damals halb so alt war wie er, konnte das Glück der neuen Beziehung nicht schmälern. Doch nun steht plötzlich Julia wieder auf der Matte, beruflich und privat gescheitert, vereinsamt, entfremdet von ihren Kindern und möglicherweise sogar schwer krank. Sie ist am Ende und weiß nicht wohin. Da ist ihr der liebe Conny eingefallen, der für sie zwar immer ein intellektueller Spießer war, aber eben auch aufmerksam und rücksichtsvoll. „Du bleibst bei uns, das ist doch klar“, entscheidet er denn auch, ohne Absprache mit Frank, der sich bald wie das fünfte Rad am Wagen fühlt. Julia versteht es noch immer, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dann sind da die vielen schönen Erinnerungen des Ex-Paares, die für emotionale Nostalgie sorgen. Doch dann führen Cornelius und Julia die Gespräche, die sie vor 25 Jahren nicht geführt haben. Das schmerzt mitunter, weil dies das zufriedene und komfortable Leben von Cornelius in seinen Grundfesten erschüttert. Jetzt erkennt er auch das Problem in seiner Beziehung zu Frank. Beide woll(t)en gemeinsam alt werden. Der Haken ist nur: Cornelius ist schon alt.
„Seit ich an dieser Geschichte arbeite, habe ich in meinem persönlichen Umfeld erlebt, dass es wirkliches Glück, echte Ruhe und Frieden letztlich nicht gibt und wenn man in ganz raren Fällen ein glückliches Liebespaar erlebt, das zusammen mit beschützten Kindern eine funktionierende Familie darstellt – dann kommt garantiert das Unglück von außen.“ (Sathyan Ramesh, Drehbuchautor)
Stellt dieser Mann in den Siebzigern die letzten 25 Jahre, in denen er – nach der Phase seines heterosexuellen Irrtums – endlich seinen Lebenstraum ausleben konnte, mehr, als es seinem Partner lieb ist, in Zweifel? Welche Macht haben seine Schuldgefühle über ihn? Hat er vor lauter Glück und Zweisamkeit seine alte Familie über die Jahre vernachlässigt, ja vergessen? Der Fernsehfilm „Das Leben vor mir“ wirft viele Fragen auf. Autor Sathyan Ramesh („Süßer September“) und Regisseurin Anna Justice („Harrys Insel“) tun gut daran, sie am Ende nicht 1:1 zu beantworten, sondern sie im Fluss eines faszinierend widersprüchlichen Lebens aufgehen zu lassen. Das Leben zu nehmen, wie es kommt, dafür plädiert selbst die von Depressionen geplagte Tochter des Helden, der es in ihrer Ehe gar nicht gut geht. Also keine Vorwürfe gegen den Vater: Er sei wenigstens da gewesen. Auch der Sohn gibt den eher still Gescheiterten. Jener Abel ist mal wieder so hoch verschuldet, dass er für seinen Schuldner, ein zwielichtiges Inkasso-Unternehmen, als Schuldeneintreiber arbeiten muss und damit endgültig die Frau, die er liebt, vergrault hat. Von alldem mitbekommen hat sein Vater nichts. Dabei ist er doch der, der den Wert von Familie verteidigt, besonders gegenüber seiner in diesem Punkt so zynischen Ex-Frau („Familie ist wie eine Tombola, die nur Scheiße verlost“). Gute Gründe, nachdenklich zu werden, hat die Hauptfigur in diesem Film allemal. Neben dem fehlenden Interesse an seinen erwachsenen Kindern entscheidet der Held über den Kopf seines Freundes hinweg, dass seine Ex bei ihnen einzieht. Das nimmt ihm Frank insgeheim übel, was dazu führt, dass der Karatelehrer, ohne es darauf angelegt zu haben, bald in den Armen eines anderen liegt. „Man denkt, man kann den anderen nicht mehr verlieren, weil man in Liebe verbunden ist oder weil man Vater oder Mutter oder Kind ist“, sagt Anna Justice. Erst die Rückkehr seiner Ex-Frau nötigt Cornelius zur Einsicht und zum Umdenken. Auf einmal nimmt er seine Liebsten nicht mehr für selbstverständlich; er ist im besten Sinne erwachsen, möchte mit sich und denen, die er liebt, im Reinen sein. Die 68er hatten wohl doch recht…
„Ein Film, ein Stück, ein Buch ohne Humor sind für mich wie amputiert, da fehlt ein Stück Welt – ein Stück Lebenserfahrung. Im Humor offenbart sich die Haltung der Figuren – es offenbart sich auch, ob und wie sie zueinander passen, in der Liebe, in Freundschaft.“ (Sathyan Ramesh, Autor, „Ein Herz für Inder“)
„Das Leben vor mir“ besticht nicht nur durch seine unaufgeregte Haltung, die Autor Ramesh mit Hilfe seiner Hauptfigur der Geschichte mitgibt, sondern auch durch die Beiläufigkeit, mit der die gleichgeschlechtliche Liebe erzählt wird. Das war auch Matthias Habich ein großes Anliegen: „eine ganz normale Liebesbeziehung“, nichts Schrilles, keine Sexszenen, kein tuntiges Händchengehalte, „sondern einfach zeigen, wie zwei Menschen zusammenleben“. Das könnte auch für die Rezeption von Vorteil sein: „Diese selbstverständliche Erzählweise führt vielleicht dazu, dass auch heterosexuelle Männer mit dem Paar mitfühlen können“, vermutet Habich. Ramesh hat das Drehbuch im Übrigen auf den Schauspieler zugeschrieben und ihn früh in die Themenfindung miteinbezogen. Es ist nach „Letzter Moment“ und „Matthiesens Töchter“ der dritte Film aus Rameshs Feder für den Ausnahmemimen, der große Lust verspürt, nicht die konventionellen Altersrollen um Krebs, Demenz und Tod zu spielen. Und der Autor legt dem 78-Jährigen Sätze in den Mund, die man diesem intellektuellen, eigenwilligen, sympathisch kantigen Schauspieler 100%ig abnimmt. In diesem Film muss er weniger bissig und zynisch sein als beispielsweise in dem Suiziddrama „Ein großer Aufbruch“, aber Tacheles redet er auch hier: „Du siehst gar nicht gut aus“, begrüßt er seine Ex. Und einmal ist er so in Rage, dass er ihr an den Kopf knallt: „Wenn du nicht todkrank wärst, dann würde ich dich jetzt totschlagen.“ Insgesamt aber legt sein Cornelius einen gemäßigten Ton an den Tag. Er ist zwar geradeaus, denkt scharf, formuliert klar, findet aber oft versöhnliche Worte. Während bei ihm eine gewisse Altersmilde auszumachen ist, gehören gelegentliche Provokationen zum Charakterbild von Eleonore Weisgerbers Julia und zur Gesprächsdramaturgie dieses klug konstruierten Konversationsdramas: „Warum hast du mit mir Kinder gezeugt, wenn du mit Männern schlafen willst?“, möchte sie von Cornelius wissen. Und einmal brüllt sie ihn wütend an: „Du blöde, selbstgerechte, alte schwule Sau!“
Angenehm an diesem Film ist es, dass er einem nicht die Welt erklärt und dennoch eine Haltung hat, die mehr ist als die Summe der Haltungen der meinungsstarken Figuren. Und es ist auch mal ganz schön, wenn sich eine kluge Figur über ein Zeitphänomen auslassen darf, zum Beispiel über die Inflation der Meinungen im Internet, über jene „Gleichberechtigung von Denkern und Deppen“. Und bei allem Ernst schleichen sich – das ist bei Sathyan Ramesh immer so – auch Witz und Ironie in die Dialoge, weil sich im Humor auch viel von jenen besagten Haltungen offenbart. Dass Geld für die Hauptfiguren in der Geschichte keine Rolle spielt, ist konsequent: Cornelius hat es – und deshalb hat er auch die nötige Zeit, um sich mit seinen Befindlichkeiten so grundlegend auseinanderzusetzen und um am Ende ein „guter Mensch“ zu sein. Der Wohlstand kommt aber auch der Inszenierung zugute. Vor allem das edel gestaltete und eingerichtete Haus, in dem die beiden Männer leben, bietet ebenso ästhetisch reizvolle wie semantisch vielsagende Perspektiven. Durch die räumliche Großzügigkeit gelingt es, die Beziehungsfaustregel „Drei ist einer zu viel“ auch optisch eindrucksvoll zu untermauern. Dramaturgisch ist es der alltagsnahe Erzählrhythmus, der Wechsel der Konstellationen und Schauplätze, die Alternation zwischen Konfrontation und Versöhnung, zwischen Reise in die Vergangenheit und der Suche nach den erwachsenen Kindern, die die Dialoglastigkeit nie zu einer Bürde für den Zuschauer werden lassen. Angesprochen werden Dinge, die fast jeder kennt, Beziehungsdinge, die die meisten ähnlich wie die Hauptfigur handhaben: „Wie geht es den Kindern.“ – „Ich glaube gut.“ Um die für viele zu alltagsnahen Geschichten an sich herankommen zu lassen, auch dafür ist der Humor gut, den sich die meisten Figuren nicht nehmen lassen. Das vielleicht Schönste an diesem Film aber ist: Die Probleme werden deutlich angesprochen, auf ebenso deutliche Erklärungen oder Rationalisierungen aber verzichten die Macher. Die Themen werden wie Töne angeschlagen, sie öffnen Räume für den Zuschauer. Beziehung ist Musik. (Text-Stand: 2.10.2018)