Ein Krimi im Dragqueen-Milieu: Das klingt gewagt, zumal solche Geschichten allzu leicht in eine Ansammlung bizarrer Klischees ausarten können. Tatsächlich entwickelt sich die Handlung jedoch in eine völlig andere Richtung, selbst wenn sie stellenweise an den Bühnen- und Kinoklassiker „Ein Käfig voller Narren“ (1978) erinnert: „Meine Freundin Volker“ erzählt von einer Heldenreise. Der Film beginnt mit einem umjubelten Auftritt: Die „Donauwelle“ auf St. Pauli feiert Vivian Bernaise, bürgerlich Volker Weinreich (Axel Milberg). Ein schüchterner Verehrer (Jacob Matschenz) bittet in der Garderobe um ein Autogramm. Kurz darauf gerät der junge Mann in ein Handgemenge, dabei löst sich ein Schuss. Die Täter gehören zur Mafia, Vivian muss als Mordzeugin umgehend von der Bildfläche verschwinden und findet in Gestalt ihres Alter Egos Unterschlupf bei einer Lehrerin.
Clever überträgt das Drehbuch das mutmaßliche Befremden zumindest von Teilen des ARD-Stammpublikums auf die zweite Hauptfigur. Travestiekünstlerinnen wie Lilo Wanders oder Mary & Gordy haben es zwar zu einer gewissen Prominenz gebracht, Szenestars wie Olivia Jones sind regelmäßige Talkshowgäste; aber die Vorstellung, mit einem derartigen Paradiesvogel unter einem Dach zu leben, dürften viele Menschen als „queer“ (verdreht, verquer) empfinden. Katja (Kim Riedle), Volkers Vermieterin, geht es nicht anders, weshalb sie erst mal nachschaut, was eine Dragqueen überhaupt ist: „meistens ein Mann, der humoristisch und überhöht das Verhalten von Frauen imitiert und sich entsprechend kleidet“. Prompt trifft Vorurteil auf Vorurteil: Katja will den absonderlichen Untermieter wieder loswerden, Volker hält sie für eine „verspießerte Vorstadtmutti“ und die Kleinstadt für den „Vorhof zur Spießerhölle“.
Foto: SWR / Georges Pauly
Beide machen jedoch alsbald eine geistige Kehrtwende: er, als sich rausstellt, dass die Mafia ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hat, und sie, weil sie sich in eine ausweglose Lage manövriert hat. Ehemann und Schulrektor David (Helgi Schmid) hat sie zugunsten einer Referendarin (Anja Antonowicz) verlassen. Um beiden eins auszuwischen, hat Katja, Erdkundelehrerin und in musikalischen Dingen eher unbewandert, ihrer Konkurrentin die Leitung der Musical AG entrissen. Volker ist zur rechten Zeit in ihr Leben getreten, und das nicht nur in Bezug auf das Musical: Ihr zehnjähriger Sohn Lukas (Bruno Thiel) wird von älteren Mitschülern gemobbt. Dank Volker blühen Mutter und Sohn regelrecht auf: Er hilft ihnen, jenen Teil ihres Selbst auszuleben, der verloren gegangen ist (Katja) oder sich nicht an die Oberfläche traut (Lukas).
Soundtrack:
Cher („Take Me Home“, „The Shoop Shoop Song”), Alice Merton („Roots“), Beyoncé („Crazy In Love”), Cindy Lauper („Girls Just Want To Have Fun”), Lady Gaga („Pokerface”), Whitney Houston („I’m Every Woman”, „Greatest Love Of All”)
Wie beim Modell der Heldenreise konfrontieren Julia Penner und Andreas Wrosch die Hauptfiguren ihres ersten gemeinsamen Drehbuchs mit verschiedenen Bewährungsproben, die sie mit Bravour bestehen; Katja zum Beispiel muss Volkers Engagement nicht nur gegen David, sondern auch gegen die Eltern verteidigen. In einer Schlüsselszene besucht sie gemeinsam mit Volker die „Donauwelle“, gerät unversehens mit bekleckerter Bluse ins Scheinwerferlicht und macht das Beste draus, indem sie sich zur „Königin des Ausnahmezustands“ erklärt. Später wird sie endgültig zu ihrer eigenen Superheldin. Volker wiederum erobert die Herzen der AG-Mitglieder, als er ihnen mit Hilfe von Chers „Shoop Shoop Song“ den besonderen Reiz eines „Lipsync“-Auftritts vorführt. Unterschwellig lauert aber weiterhin die latente Bedrohung durch die Gangster, weshalb die Komödie schließlich zum Thriller wird: Der Gangsterboss will ein Exempel statuieren und nicht nur Vivian ermorden, sondern den kompletten Club in Schutt und Asche legen.
Foto: SWR / Georges Pauly
Der Abwechslungsreichtum der Handlung ist ebenso beeindruckend wie die Inszenierung durch Piotr J. Lewandowski, der bereits mit seinem vorzüglich gespielten und vortrefflich fotografierten Kino-Regiedebüt „Jonathan“ (2016, mit Jannis Niewöhner in der Titelrolle eines Bauernsohns) sehr positiv aufgefallen ist. Später folgte „Hüter der Schwelle“ (2019), ein nicht minder sehenswerter „Tatort“ aus Stuttgart. „Mein Freund Volker“ imponiert unter anderem durch Straßenszenen wie aus einem Hollywood-Film über New York, doch die Attraktion des Films sind natürlich die Darbietungen in der „Donauwelle“, zumal es sich bei den liebevoll kostümierten Komparsen ausnahmslos um echte Dragqueens handelt. Beim Auftritt von Vivian hatte das Publikum keine Ahnung, wer da auf der Bühne sein Varieté-Debüt gab; die Begeisterung ist nicht gespielt.
Tatsächlich ist Milbergs Leistung mehr als eindrucksvoll; und das nicht nur, weil er sich der mühsamen Prozedur unterzogen hat, sich trotz einer Körpergröße von annähernd 1,90 Meter vergleichsweise grazil auf Highheels zu bewegen. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, die Figur nicht zur Parodie werden zu lassen. Vivians Motto „Mehr ist mehr“ gilt nur für die Bühne. Die Rolle sollte tunlichst nicht an den Klamauk aus „Charlys Tante“ oder „Manche mögen’s heiß“ erinnern, also keine Verkleidung sein, sondern eine eigenständige Persönlichkeit. Weit mehr als bloß eine Erwähnung wert ist daher die Arbeit von Oliver Hildebrandt (Maskenbild), der für die perfekte äußerliche Verwandlung sorgte. Großen Anteil an der Gesamtqualität hat zudem Lenny Mockridge. Er hat neben der passenden Filmmusik auch die beiden Lieder für Vivian geschrieben (die Milberg allerdings nicht selbst singt). Die Texte erzählen die Geschichte ihres Lebens, das selbstredend nicht rund um die Uhr so wild, grell und bonbonbunt ist wie während der Auftritte: Der Film ist auch ein Plädoyer für gesellschaftliche Vielfalt. Wie die Wirklichkeit aussieht, fasst Volker in einem Satz zusammen: „Menschen wie ich sind Freiwild.“ (Text-Stand: 23.4.2023)
Foto: SWR / Georges Pauly