Mit dem Partner seines besten Freundes Sex zu haben, ist keine Bagatelle, es ist Verrat und könnte im Falle von Vince (Benito Bause) und Levo (Arash Marandi) das Ende einer langjährigen Freundschaft sein. Erschwerend hinzu kommt, dass Vince durch seinen One-Night-Stand mit dem von Levo wachgeküssten Tom (Mads Hjulmand) auch den eigenen Partner, den introvertierten Robby (Frédéric Brossier), schwer verletzt hat. Die Folge: Jeder geht jedem aus dem Weg. Die Vierte der Berliner Wahlfamilie, Sarina (Christin Nichols), ist das Bindeglied zwischen den zerstrittenen Ex-Freunden. Bei ihr ist fürs erste Levo untergekommen, jahrelang war er Mitbewohner von Vince, der nun seinerseits dringend einen Untermieter sucht. Vertrackte Situation. Dazu wohnen alle drei sogar noch im selben Haus. Doch dann taucht plötzlich Sarinas Bruder Simon (Ludwig Brix) auf, selbst ernannter Yoga-Lehrer und Ayurveda-Guru. Mit ihm bekommt Vince nicht nur einen neuen Mitbewohner, sondern die kaputte Clique eine Art Mediator mit nicht nur heilenden Händen. Auch Levos Zufallsbekanntschaft Andreas (Tom Keune), Trainer einer queeren Rugby-Mannschaft, bringt neue Impulse in die Trauerarbeitsgemeinschaft. Dieser gestandene Mittvierziger und sein Sport holen vor allem Robby aus seinem Tief heraus und geben ihm eine neue Perspektive.
In der zweiten Staffel von „All You Need“ geht es zunächst um das Scherbenaufsammeln. Ob es in den Beziehungen noch etwas zu kitten gibt, entscheidet sich in der dritten Folge. Ein Tag in einem Strandbad führt alle Protagonisten wieder zusammen. Einiges klärt sich, anderes nicht. Was den sich frisch geouteten Tom angeht, ist die Sache offensichtlich. „Das ist ein Teenager, gefangen in dem Körper eines Vierzigjährigen“, hat der lebenskluge Andreas schon vorher dem liebesleidenden Levo erklärt. Am See zeigt sich, dass er Recht hat: Der lebenshungrige Tom hat gleich mehrere knackige Männer im Schlepptau, aber auch einen versöhnlichen Satz für Levo parat: „Du wirst immer meine erste große Liebe sein.“ In dieser Folge zeigt sich auch, dass der Strahlemann und Luftikus Simon womöglich mehr als nur Vince‘ Untermieter sein möchte. Im Umfeld halbnackter Körper am See kann eine Abhyanga-Massage leicht einen sexuellen Beigeschmack („Ich bin nicht in der Lage, aufzustehen und in Würde wegzugehen“) bekommen. Gegen Ende hagelt es dann auch noch Vorwürfe – und es scheinen nun nicht mehr Vince, Levo und Robby die größten Probleme miteinander zu haben, jetzt wird die schmutzige Wäsche von Sarina und ihrem jüngeren Bruder gewaschen. Es beginnt mit einem kleinen Nadelstich: „Wie kommt es eigentlich, dass dein gesamter Freundeskreis aus schwulen Kerlen besteht?“, fragt Simon grinsend. Später hat er sein Grinsen abgelegt und haut richtig drauf: „Mama stirbt und du schaffst dir gleich ein Kind an!“
Endlich erfährt man auch etwas aus dem Vor-Leben von Sarina, der alleinerziehenden, ewig partnerlosen besten Freundin aller schwulen Männer. Ihr Bruder hat sie nachdenklich werden lassen. Überhaupt zeichnen sich die neuen sechs Folgen von „All You Need“ durch größeren psychologischen Tiefgang aus. Auch der stille, geheimnisvolle Robby, über den in Staffel eins allein der Zuschauer erfahren hat, dass er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, kriegt Konturen. Nicht nur der Sport tut ihm gut. Auch Levos Penetranz und Vince‘ erneutes Werben um ihn bringen ihn zur Einsicht, dass er etwas in seinem Leben ändern muss. Er hat seine Eltern zwölf Jahre nicht gesehen. Hat er sich überhaupt jemals vor ihnen geoutet? Eine ganze Folge nehmen sich Headautor & Regisseur Benjamin Gutsche & Co für diese Vergangenheits-Bewältigung Zeit. Es lohnt sich. Eine solche emotionale, biografische Grundierung ist eine wichtige Voraussetzung für die Narration einer länger laufenden Serie. Das Potenzial dazu hat diese erste öffentlich-rechtliche Dramedy aus dem schwul-queeren Milieu auf jeden Fall.
Soundtrack: Susanne Sundfor (Fade Away, Titelsong), IAMX („Insomnia“), Ida Corr („Let Me Think About It“), Madonna („Give It 2 Me“), Ariana Grande feat. Nicki Manaj („Side To Side“), Phosphorescent („Song For Zula“), Sam Cooke („Another Saturday Night“), Run The Jewels („Blockbuster Night“), Troye Sivan („Easy“), Robot Koch („Modern Love“), The Cranberries („Ode To My Family“), Lil Nas X („VOID“), Blank & Jones with Zoe Dee („Pure Shores“)
Nicht nur die Figuren sind reifer, auch dramaturgisch wirkt das Konzept der zweiten Staffel ausgefeilter. Erfrischend sind vor allem die Wechsel zwischen sehr langen, psychologisch konzentrierten Sequenzen und handlungsintensiven Folgen, in denen die Beziehungsfülle mit Hilfe einer abwechslungsreichen Montage auch formal überzeugend umgesetzt wird. Hinzu kommt eine Vielzahl an Schauplätzen. Endlich spürt man, dass Vince, Robby & Co in Berlin leben, endlich sieht man Straßen, Outdoor-Kneipen, Parks und Seen. Der Spätsommer lässt grüßen. Der sterile Indoor-Look, den man in Staffel eins mit Licht und Farbe zu beleben versuchte, ist verschwunden. Dadurch vermittelt sich jetzt deutlicher so etwas wie Alltag. Gerade noch beim Schreinern in der hellen WG geht es auf den nächtlichen Sportplatz und weiter zum Travestie-Club oder in ein (realistisch bevölkertes) Berliner Draußenlokal. Und weil Simon ein Feierbiest ist und sich Levo von seinem Trennungsschmerz abzulenken versucht, gibt es auch in der neuen Staffel zumindest ein bisschen Party. Der Sex wird dabei gleich in der ersten Folge am explizitesten – und dennoch als etwas Selbstverständliches – in Szene gesetzt. Für Levo wird diese Sex-Party zur Frust-Erfahrung. Aber auch Vince und Robby suchen keine Abenteuer mehr. Im Fokus stehen Freundschaft und ein Partner, den man liebt. Den zu finden kann dauern. Den Glücks-Orgasmus gibt’s deshalb erst ganz zum Schluss.
Gefühle und Liebe statt ausschweifendes Sex- und Partyleben – diese Tendenz hat mit dem Alter der Protagonisten zu tun. Wenn man auf die vierzig zugeht verliert die reine Lust an Reiz. Dieser Trend zum kleinen Glück kommt aber auch der Intention entgegen, eine Serie machen zu wollen, die nicht nur die queere Community, sondern auch ein heterosexuelles Publikum unterhält. Und so wird mehr noch als in der ersten Staffel mit dem Mythos aufgeräumt, schwule Männer hätten nichts als Sex im Kopf. Nein, sie haben offenbar ähnliche Wünsche, Sehnsüchte und Ängste wie Hetero-Paare. Und sie habe offenbar auch ähnliche popkulturelle Vorlieben. Und so ist es kein Zufall, dass die Degeto-Redaktion, die UFA-Produzentin Nataly Kudiabor und Benjamin Gutsche für die zweite Staffel den Schwerpunkt eindeutig aufs Gefühl gelegt haben. Das funktioniert richtig gut, wenn der Nährboden für authentische Emotionen hinlänglich narrativ vorbereitet wird wie in der Robby-Folge oder im romantischen Schlussakkord am Seeufer, auf den die Serie 150 Minuten lang hingearbeitet hat. Weniger gelungen, wenn in einer Szene (vor allem negative) Gefühle einfach nur gespielt werden müssen wie in der Szene eines geplatzten Abendessens. Benito Bause ist charismatisch, eine Idealbesetzung, aber wohl kein Schauspieler für solche feinen Nuancen.
„All You Need“ könnte über zwei Jahrzehnte nach der wegweisenden britischen Gay-Dramedy „Queer as Folk“ von Russel T Davies, dem Pionier des Genres, aus dem Vollen schöpfen. Vorläufer gibt es genug: „Cucumber“, „Banana“, „Looking“. Die Macher aber taten gut daran, die bislang elf Folgen nicht LGBTIQ-mäßig zu überfrachten und die Serie nicht zum queeren Themenpool zu machen. Die Charaktere geben die Geschichten vor. Diese biographisch zu verdichten ist der richtige Weg. Was ja nicht ausschließt, dass sich in späteren Staffeln durch Nebenfiguren das Spektrum an Queerness erweitert lässt. So stimmig aber die emotionale Wendung in Staffel zwei auch ist: Die Macher sollten aufpassen, dass sich „All You Need“ nicht zum „Herzkino“ mit gleichgeschlechtlichem Vorzeichen entwickelt, bei dem alle nur das eine wollen, privates Glück, und bei dem den Charakteren vor lauter Nettigkeit jeglicher Eigensinn verlorengeht (insofern ist Simon auch für das dramaturgische Gleichgewicht in der Staffel eine wichtige Figur). Das Gegenkonzept zu diesem ehrlich, einsichtig & durchschaubar hat einiges für sich: Daraus können Figuren entstehen, die ein Stück weit rätselhaft bleiben, die faszinieren durch ihre Ambivalenz und die das Publikum (zum Mitdenken) herausfordern. Dafür liefert das erwähnte „Queer as Folk“ derzeit in der Arte-Mediathek bestes Anschauungsmaterial: Wenn hier Aidan Gillen „American Gigolo“-Richard-Gere-like durch Manchesters Schwulenszene tänzelnd den Sex-Gott mimt, ist das rauer britischer Realismus und immer auch larger than life. (Text-Stand: 7.4.2022)