Kokon

Urzendowsky, Haase, Klenke, Krippendorff … und stürzt sich freudig in die Glut

Foto: ZDF / Martin Neumeyer
Foto Tilmann P. Gangloff

„Kokon“ (ZDF / Jost Hering Filme), zweite Regiearbeit von Leonie Krippendorf, bevor sie fürs ZDF die Serie „Loving Her“ gedreht hat, erzählt eine reizvolle Mischung aus Coming of age und Coming out: In dem famos gespielten Jugenddrama „Kokon“ entdeckt ein Mädchen die Liebe. Herausragend ist vor allem die Leistung von Lena Urzendowsky. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war sie bereits 18; trotzdem gelingt es ihr, die 14-Jährige Hauptfigur Nora jederzeit glaubwürdig zu verkörpern. Nicht minder überzeugend sind Lena Klenke als Noras ältere Schwester und Jella Haase als Romy, jene junge Frau, an die Nora ihr Herz verliert. Unverzichtbarer Teil der Realitätsnähe des Films ist auch die unverblümte Sprache. Sensiblen Gemütern wird diese Ebene allerdings nicht gefallen: Gerade die männlichen Jugendlichen werfen sich ständig diskriminierende Beleidigungen an den Kopf.

Der Berliner Sommer 2018 war anders als alle anderen zuvor; jedenfalls für die 14jährige Nora. Damals hat sie ihren schützenden Kokon verlassen und ist flügge geworden. Solche Prozesse sind in der Regel gleichermaßen schmerzlich wie schön. Auch Nora lässt ihr vertrautes Dasein hinter sich und ist voller Neugier auf das, was nun kommt: ein Leben voller Abenteuer und aufregender Entdeckungen; erste Liebe und erste Enttäuschung inklusive. Im Grunde erzählt Leonie Krippendorf (Buch und Regie) mit ihrem zweiten Film nach dem Debüt „Looping“ eine ganz einfache Geschichte: Ein Mädchen wird zur Frau. Aus Sicht von Nora (Lena Urzendowsky) ist das natürlich ein äußerst komplizierter Vorgang, zumal sie quasi ohne die ständig abwesende und an ihren Töchtern offenbar nicht sonderlich interessierte Mutter (Anja Schneider) aufwächst und ihre nur unwesentlich ältere Schwester Jule (Lena Klenke) keine große Hilfe ist: Als Nora während des Sportunterrichts zum ersten Mal ihre Tage bekommt, ist es nicht Jule, die sich um sie kümmert, sondern Romy (Jella Haase). Die Begegnung hat Folgen, vor allem für Nora: Romy, zweimal sitzen geblieben, ist eine junge Frau und unterscheidet sich deutlich von Jule und deren besten Freundin Aylin (Elina Vildanova), die bloß an ihre Wirkung auf Jungs zu denken scheinen. Verwirrt stellt Nora fest, dass Romy ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.

KokonFoto: ZDF / Martin Neumeyer
Die Schwestern Jule (Lena Klenke.) und Nora (Lena Urzendowsky) suchen gegenseitig Trost.

Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (2018) war Lena Urzendowsky bereits 18. Trotzdem gelingt es ihr, die 14-Jährige jederzeit glaubwürdig zu verkörpern. Die junge Schauspielerin ist mit Preisen für ihre Hauptrolle in dem Jugenddrama „Das weiße Kaninchen“ (2016) förmlich überschüttet worden, weitere Auszeichnungen bekam sie für „Der große Rudolph“ (2018) und auch für „Kokon“. Der Film, eine Koproduktion mit der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel, ist zwar fürs Kino entstanden, dort aber kaum beachtet worden. Im Fernsehen fällt er in erster Linie durch sein Format aus dem Rahmen: Krippendorf (Jahrgang 1985), wie ihre Hauptfiguren in Kreuzberg aufgewachsen, allerdings zwei Jugendgenerationen früher, hat den Film in 4:3 gedreht. Die letzte Arbeit der Regisseurin war die ZDF-Kurzfilmserie „Loving Her“ mit Banafshe Hourmazdi als lesbische junge Frau, die allerlei Liebesleid und -freud’ erlebt; Lena Klenke verkörperte darin die erste große Liebe. In „Looping“, Krippendorfs Abschlussfilm an der HFF Konrad Wolf, ging es ebenfalls um die Suche einer jungen Frau (Jella Haase) nach ihrem Platz im Leben; das ZDF war auch hier beteiligt.

„… manche mögen sich vielleicht noch an Bettina Blümners Dokumentarfilm ‚Prinzenbad'(2007) erinnern, in dem drei Protagonistinnen zu sehen waren, die wie ältere Schwestern von Nora und Romy und Jule und Aylin aus ‚Kokon‘ wirken. Das multikulturelle Kreuzberg, mit Jugendlichen, die zur Hälfte in Betonfluchten, zur Hälfte auf Instagram leben, ist in ‚Kokon‘ keineswegs ein Problemmilieu, sondern eine – nicht zuletzt durch ein ausgeprägtes Licht- und Farbkonzept – offenkundig leicht utopisch akzentuierte, aber niemals kitschige Schule des Lebens. (FAZ)

KokonFoto: ZDF / Martin Neumeyer
Romy verdreht der jüngeren Nora den Kopf. Zwei der Besten ihrer Generation: Jella Haase (28) und Lena Urzendowsky (21).

Als Metapher für Noras Metamorphose lässt die Regisseurin ihre Hauptfigur Raupen züchten; dieses Bildes hätte es angesichts von Urzendowskys starker Leistung eigentlich gar nicht bedurft. Die herausragend gute Führung der ausschließlich weiblichen Hauptdarstellerinnen ist ohnehin ein Qualitätsmerkmal von Krippendorfs bisherigen Arbeiten. „Kokon“ wirkt derart authentisch, dass sich die Frage aufdrängt: Spielen die Ensemblemitglieder überhaupt oder sind sie einfach sie selbst? Pubertierende Jungs zeichnen sich ja durch eine gewisse Neigung zu peinlichen Auftritten aus; die männlichen Darsteller führen das ohne Scheu vor der Kamera vor. Unverzichtbarer Teil dieser Realitätsnähe ist auch die unverblümte Sprache. Sensiblen Gemütern wird es gar nicht gefallen, wenn sich die Jugendlichen diskriminierende Beleidigungen wie „Du Missgeburt“ an den Kopf werfen oder die Jungs dauernd davon reden, dass irgendwas „schwul“ aussehe (und das natürlich negativ meinen). Interessant sind auch beiläufig eingestreute Belege der kulturellen Vermischung: Um eine Aussage zu unterstreichen, sagt die keineswegs muslimische Jule gern „Ich schwör’ auf den Koran“.

„Auch wenn Leonie Krippendorff mit ihren 35 Jahren die Pubertät längst hinter sich gelassen hat, fühlt sie sich in Bild und Ton aber dennoch anbiederungsfrei ins Lebensgefühl der Teenager ein, mit all ihren Vibes und Multikulti-Codes, mit ihren fragilen Gefühlen und ruppigen Manifestationen. Mit zärtlichem Blick und einfühlsamer Genauigkeit begleitet sie die Kids, und dieses noch ein wenig spröde Mädchen (Lena Urzendowksy) mittendrin. (…) Sich einen Reim machen auf die Welt, dazu gehört unter den »Digital Natives« natürlich das Handy. Nora nutzt es wie ein Tagebuch, nimmt Bilder des Berliner Sommers auf und kommentiert aus dem Off das Lebensgefühl, das Leonie Krippendorff und ihr Kameramann Martin Neumeyer wiederum in flirrende Bilder übersetzen. (…) Sie spielen mit verschiedenen Filmformaten, der Enge des Handybildschirms, dem Normalformat, und wenn die Kids mehr Platz brauchen, weitet sich das Bild.“ (epd film)

KokonFoto: ZDF / Martin Neumeyer
Berlin spüren. Nora (Lena Urzendowsky), Jule (Lena Klenke) und Aylin (Elina Vildanova) chillen auf dem Balkon ihres Plattenbaus.

Von all’ dem ist Nora weit entfernt. Während Jule viel Zeit mit den Videos irgendwelcher YouTube-Influencerinnen verbringt, geht ihre jüngere Schwester mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben. Weil ihr ein Junge bei einem pubertären Zeitvertreibspiel die Hand gebrochen hat, muss sie eine Klassenfahrt absagen und nimmt stattdessen am Unterricht von Jule teil. Körperlich sind die anderen der kindlichen Nora voraus, aber geistig spielt Nora in einer anderen Liga. Das verdeutlichen nicht nur ihre philosophischen Gedanken, die tagebuchartig die einzelnen Filmkapitel miteinander verbinden, sondern auch ihr Vortrag von Isabelle Tuengerthals Gedicht „Der Falter“; dessen Zeilen („… und stürzt sich freudig in die Glut“) sind eine perfekte Beschreibung dieses für die Jugendjahre so typischen Zustandsgemischs aus Weltschmerz, Verwirrung und Aufbruchstimmung.

Aus der Jury-Begründung der Deutschen Film- und Medienbewertung („Besonders wertvoll“):
Krippendorffs Film ist eine charmante, sehr authentisch wirkende und zugleich einfühlsame Milieustudie. Die jungen Schauspielerinnen sind allesamt sehr überzeugend, die Sprache, die ihnen das Drehbuch in den Mund legt, ist angenehm ungekünstelt und echt. Zugleich gelingt es der Regisseurin, mit ihren Teenagern nicht nur „Typen“ zu markieren, wie etwa das Girlie, die Eitle, die Taffe, der Macker usw., sondern sie stattet sämtliche Charaktere mit Zwischentönen und Vieldeutigkeiten aus. Dazu behandelt sie die körperlichen Aspekte der Transformation in der Pubertät sowohl äußerst dezent als auch angenehm offen und direkt. Und nicht zuletzt verleiht die Berliner Sommerstimmung zwischen Freibadbesuchen und heißen Asphaltnächten dem Film eine eigene, der Sentimentalität des Stoffes angenehm entgegengesetzte Atmosphäre.

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Kinofilm

ZDF

Mit Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Klenke, Elina Vildanova, Anja Schneider, Sert Ogulcan, Mohamed Issa, Helene Grass

Kamera: Martin Neumeyer

Szenenbild: Josefine Lindner

Kostüm: Ramona Petersen

Schnitt: Emma Alice Gräf

Musik: Maya Postepski

Soundtrack: David Bowie („Space Oddity”)

Redaktion: Jörg Schneider

Produktionsfirma: Jost Hering Filme

Produktion: Jost Hering

Drehbuch: Leonie Krippendorff

Regie: Leonie Krippendorff

EA: 17.08.2021 23:00 Uhr | ZDF

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