Vor zwölf Jahren verbrachten Helena (Katharina Nesytowa) und Annika (Eva Maria Jost) einen aufregenden Sommer in Teltow, ihrem Heimatort. Sie kannten sich seit der Kindheit und auf einmal waren sie mehr als nur beste Freundinnen. Erst jetzt sehen sie sich wieder. Seitdem ist viel passiert. Annika hat studiert, war im Ausland und ist eine renommierte Architektin geworden. Helena ist Grundschullehrerin, aktuell sogar Rektorin, und sie hat sich gerade mit ihrem Freund Tayo (Malick Bauer) ein schnuckeliges, renovierungsbedürftiges Haus gekauft. In Teltow. Die meisten ihrer Freunde sind geblieben und haben hier Wurzeln geschlagen. Annikas Bruder Maik (Lorris André Blazejewski) zum Beispiel, der mit seiner Frau Linh (Le-Thanh Ho) die abgebrannte Gärtnerei seiner Eltern wiederaufbauen will. Zum Wiedersehen der beiden alten Freundinnen kommt es an Maiks Geburtstag. Eine Gartenparty mit der alten Clique, zu der noch Emre (Erol Afsin) und Mel (Natalia Rudziewicz) gehören, lässt alte Erinnerungen wieder aufleben. Vor zwölf Jahren haben die Freunde aufgeschrieben, wie sie sich ihr Leben vorstellen. Die Zettelchen wurden in Plastikeier verpackt und vergraben. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Und alle hören zu. Annika jedoch weigert sich vorzulesen.
Die Serie „Wir“ erzählt von einem Freundeskreis in den Dreißigern. Zwischen Nestbau und Karriereplanung versuchen die meisten von ihnen, sich etwas aufzubauen. Dabei ziehen sie gleichzeitig erste Bilanz und diskutieren – die einen mehr, die anderen weniger – die großen Lebensfragen. Habe ich an meinen Träumen festgehalten oder musste ich sie aufgeben? Bin ich auf dem richtigen Weg? Bin ich glücklich? 24 Folgen à 20 Minuten soll die Serie am Ende haben. Die ersten zwölf Folgen werden in diesem Herbst auf ZDFneo ausgestrahlt und sind teilweise vorab in der ZDF-Mediathek abrufbar. Diese erste Staffel steht im Zeichen der beiden Frauen, deren Leben mächtig durcheinandergewirbelt wird. Annika, zupackend im Beruf, bei Freundschaften eher zurückhaltend, arbeitet in Hamburg; da sie ihrem Bruder beim Aufbau der Gärtnerei hilft, ist sie nicht aus der Welt. Sie ist nicht liiert und die alten Gefühle, die ihrer Meinung nach schon vor zwölf Jahren bei ihr stärker waren als bei Helena, lassen nicht lange auf sich warten – Eifersucht und Panikattacken inklusive. Das Objekt ihres Begehrens gibt sich indes cool. „Bring ich dein Leben durcheinander?“, fragt Annika. „Keine Sorge, das tust du nicht“, sagt Helena. Der Zuschauer merkt, dass sie sich etwas vormacht.
Die ersten Folgen erzählen ein Wechselbad der Gefühle. Kränkungen, Entschuldigungen, Melancholie, erotische Anziehung, leidenschaftliche Küsse und deren Entwertung („ein Fehler“) – Es ist ein ständiges Auf und Ab. Ein Hoffen und Sehnen bei der einen. Der Wunsch, das Aufgebaute zu erhalten, bei der anderen. Annika, die in ihrem Erscheinungsbild hipp und cool wirkt, wird immer wieder von ihren Gefühlen übermannt; ihr Körper hält dem Druck nicht Stand. Helena hingegen versucht, kühlen Kopf zu bewahren und Annika auf Abstand zu halten. So gut es geht. Da Katharina Nesytowa eine Schauspielerin ist, mit der man als Zuschauer*in eher Verbindlichkeit und Wärme, Sinnlichkeit und Erotik assoziiert, dürfte allein vom Körperbild her der Verlauf der Geschichte klar sein, auch ohne dass man sich in den Credits unter Buch & Konzept dieses fast durchgängig weiblichen Projekts schlau macht. Obgleich Helenas Freund Tayo ein Netter zu sein scheint, der bald die unausgeglichene Art seiner Freundin zu deuten weiß, so dürfte die Wunschpaarung selbst beim männlichen Publikum von Anfang an feststehen. Die erste Szene von „Wir“, die den Höhepunkt der ersten Folge vorwegnimmt, zeigt die beiden Frauen. Es ist dunkel. Es ist Nacht. Verlegene Blicke, die auf eine Vor-Geschichte verweisen – und dieses „Zeit-Ei“, dessen Inhalt, Annikas Liebesbekenntnis, aber erst bei der Wiederaufnahme dieser Szene gelüftet wird.
„Ich wusste nicht, was du von uns erzählt hast“, heißt es hingegen in dieser ersten Szene der Serie. Nichts hat Helena den Freunden von diesem Sommer erzählt, nichts von ihrem „Nest“ im Wald, in dem sie sich heimlich trafen. Allein Tayo scheint zu wissen, dass es lesbische Episoden im Leben seiner Freundin gab. Diese dramaturgisch reizvolle Ausgangssituation ist nicht unglaubwürdig, im Gegenteil, sie charakterisiert Helena, die selbst weiß, dass man sie für spießig halten kann. Annika wählt für die alten Freunde dagegen einen anderen Sprachgebrauch: „Ihr seid alle so krass erwachsen“, sagt sie zu ihrem Bruder. Selbst der weiß nichts von dieser heimlichen Liebe. In den ersten sieben Folgen ist er neben Tayo, der Helena ausgerechnet jetzt einen Heiratsantrag macht, von den titelgebenden „Wir“ in der zweiten Reihe am präsentesten. Er ist zwei Jahre älter als sie und mit Frau und zwei Kindern am weitesten und am gefestigten auf seinem Lebensweg. Anfangs gibt es Spannungen zwischen den Geschwistern. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit; Maik und Annikas Eltern fühlten sich im Stich gelassen. Doch Bruder und Schwester kommen sich wieder näher. Sie erinnern sich an ihre Jugend, an schöne, gemeinsame Erlebnisse. Im Gegensatz zu ihnen oder Helena wirken Emre und Mel wie zwei, die die sprichwörtliche „Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“ mit Alkohol, Partys und Sido-Lines nach außen fröhlich kultivieren. Bisher sind sie bloße Sidekicks – aber im Laufe der Serie werden gewiss auch sie mehr Biographie bekommen.
So treffend diese Geschichten einer Generation erzählt sind und so spannend es ist, die Anziehungs- und Fliehkräfte dieser beiden Liebenden mitzuverfolgen – ein kleines Fernsehereignis wird „Wir“ erst durch sein Format und seine wunderbar luftige, realistische Inszenierung, bei der der Sommer förmlich aus den Bildern strömt. Die Länge von zwanzig Minuten passt generell gut zum episodischen Charakter der Serie, erweist sich aber geradezu als perfekt für die Segmentierung des jeweils pro Folge Erzählten. Passgenau auch, was die Sehgewohnheiten der Zielgruppe angeht. Ob es allerdings funktionieren wird, die Folgen im Wochenrhythmus in die Mediathek zu stellen – das ist mehr als fraglich. Thirtysomethings sind nun mal keine Social-Media-Maniacs wie Teenager, sie dürften Besseres zu tun haben, als sieben Tage auf das nächste Zwanzig-Minuten-Filmchen zu warten. Diese Serie ist viel zu schade und viel zu interessant auch für ein breiteres Publikum, um sie als Vehikel für eine bessere Bindung jüngerer Zuschauer an die ZDF-Mediathek zu instrumentalisieren. Dank einer präzisen Dramaturgie mit zwei Erzählperspektiven und dank einer sehr einfallsreichen Inszenierung besitzt „Wir“ einen wunderbaren Erzählrhythmus, der zusammen mit der vielschichtigen Liebesgeschichte den Zuschauer in einen wunderbaren Flow versetzt. Die geplante peu-à-peu-Freischaltung der ersten zwölf Folgen in der ZDF-Mediathek dürfte diesem seltenen Genuss den Garaus machen. Die Konsequenz für den, der sich nicht zum Versuchsobjekt machen lassen möchte: „Wir“ erst im November gucken, 12 Folgen am Stück.
Mit dieser Ausstrahlungspraxis vergrault das ZDF vorsätzlich die interessierten älteren Zuschauer. Die aber sollte man nicht ausschließen. Denn „Wir“ ist nicht nur ein Leckerbissen für Freunde kluger Beziehungsfilme und Generationenporträts, für Fans von Eric Rohmer, Rudolf Thome oder den Episodenfilmen von Martin Gypkens, „Nichts als Gespenster“ oder dem anderen „Wir“ (ein immer noch sehenswerter melancholischer Reigen über die Mittzwanziger zu Beginn des neuen Jahrhunderts). Nein, diese Serie ist auch bestens geeignet für Leute, die gut erzählte Alltagsgeschichten mögen, denen es im Fernsehen zu viel Krimi und im Kino zu wenig Sinn und Sinnlichkeit gibt. Kamera, Szenenbild, Musik, Montage und vor allem auch die Besetzung – alles in dieser Studio-Zentral-Produktion aus der Redaktion „Das kleine Fernsehspiel“ ist vom Feinsten, mindestens einem Primetime-Highlight ebenbürtig. Allerdings bedarf es dafür des richtigen Formats. So wie man bei einem Roman die Lesedauer selbst bestimmt, so sollte man auch bei einer Serie mit solch kurzen Folgen die Rezeptionsbedingungen – gerade in Zeiten der Mediatheken – selbst wählen können. Die Ausstrahlung in Häppchen-Form, dieses zuschauerverachtende Getrickse, ist weder einem reiferen Publikum zuzumuten, noch ist es einem öffentlich-rechtlichen Sender angemessen.