Vergiss mein Ich

Maria Schrader, Johannes Krisch, Jan Schomburg. Forsch(end)e Selbst-Findung

Foto: WDR / Pandora Film
Foto Rainer Tittelbach

„Vergiss mein Ich“ erzählt von einer Frau, die plötzlich keinen Zugriff mehr hat auf das, was die Medizin als „biographisches Gedächtnis“ bezeichnet. Sie muss Dinge ihres privaten Lebens, aber auch gesellschaftliche Codes neu lernen: Gefühle, Höflichkeit, Sexualität. Anders als in den vielen Amnesie-Fernsehfilmen, die das Drama und die zweite Chance betonen, löst der zweite Kinofilm von Jan Schomburg nicht alle Widersprüche der Situation auf, mit denen die Heldin und ihr Ehemann leben müssen, sondern kostet auch ihre absurd-komischen Seiten aus. Ein präziser Film über die Bausteine des Lebens, der Kommunikation, der Liebe – über den Traum vom zweiten Leben. Und Maria Schrader in ihrer vielleicht besten Rolle!

Lena (Maria Schrader) hat keinen Zugriff mehr auf das, was die Medizin als „biographisches Gedächtnis“ bezeichnet. Nach einer Party ist plötzlich ihr persönliches Umfeld gelöscht. „Ich kenn hier gar keinen“, sagt sie, und weiß wenig später im Krankenhaus zwar den Namen der Bundeskanzlerin, aber ihren Ehemann Tore (Johannes Krisch) kennt sie nicht mehr. Nach der Entlassung muss sie Dinge ihres Lebens neu erlernen. Die Sprache ist noch vorhanden, doch die Wörter sind an keine Erfahrung geknüpft. Auch ihr Alltag, dieser Intellektuellenhaushalt, die Räume, ihr Arbeitszimmer, die vielen Bücher an der Wand, das alles ist ihr völlig fremd. „Das hab ich alles geschrieben?“, fragt die einstige Koryphäe in Sachen Gender-Forschung ungläubig. „Performative Muster der Geschlechterverhältnisse“, hat sie die Begriffe ihres Spezialgebiets bald auswendig gelernt, deren Bedeutung aber versteht sie noch nicht. Auch an Sex kann sie sich noch nicht erinnern. Einige Hinweise dazu findet sie in ihrem Tagebuch. Ihr Mann ist nachsichtig mit ihr, doch als sie vom Sex mit einer Zufallsbekanntschaft (Ronald Zehrfeld) erzählt, als sei das alles die normalste Sache der Welt, stößt Tore an seine Grenzen.

Vergiss mein IchFoto: WDR / Pandora Film
Baustelle Kölner Dom. Tore (Johannes Krisch) kann Lena (Maria Schrader) zum ersten Mal seinen Arbeitsplatz zeigen. Denn ihre Höhenangst hat sie vergessen. Dieses Motiv ist nicht das einzige, das an Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ erinnert. Doch anders als der Macho-Altmeister bürstet Jan Schomburg den männlichen Dressurakt in „Vergiss mein Ich“ augenzwinkernd gegen den Strich.

„In der Praxis macht Lena interessanterweise das, was ihr früheres Ich kritisierte. Mittels stereotyper Verhaltensmuster eignet sie sich ihre weibliche Identität wieder an und kommt irgendwie zu ‚sich’. Zunächst kleidet sie sich wie ein Teenager, doch auch den Dresscode hat sie bald geknackt.“ (Manfred Riepe: Psychologie heute)

Anders als die zahlreichen Amnesie-Fernsehfilme, die das Drama betonen und in der Regel eine mögliche zweite Chance für das alte Leben andeuten, löst „Vergiss mein Ich“ nicht alle Widersprüche der Situation auf, mit denen die Betroffenen in größter Seelenpein leben müssen, sondern kostet sie genüsslich aus und betont damit auch die Absurdität und Komik, die in diesem Vergessen stecken. Köstlich, mit welcher Naivität und fast kindlicher Ehrlichkeit sich die Heldin das Leben zu erklären versucht. Sie muss auch gesellschaftliche Codes neu erlernen. Irgendwann findet sie ihr Lächeln wieder; für ihren (Kleidungs-)Stil braucht sie – zur Unterhaltung des Zuschauers – dagegen etwas länger. Für tragikomische Momente sorgt, dass ihr die Bedeutung von Gefühlen völlig abhanden gekommen ist (nicht einmal die Emotionen der Mimik kann sie lesen). Unwissender als eine durch „Bravo“ aufgeklärte Jungfrau erlebt sie quasi noch einmal ihr erstes erste Mal. „Ich weiß gar nicht, in welcher Form ich reagieren muss“, fragt sie ihren Liebhaber. „Keuchen, stöhnen, schwer atmen.“ Lena versteht und steigert sich (clownesk mit Bärtchen) sogar in eine männlichere Form der Sexualität. Während ihr Mann ihr vor allem Nacherzählungen ihrer bisherigen Realität anbietet, sucht sie auch ein Stück weit das Neue, dringt vor in eine Phase des Entdeckens, ohne schon richtig zu wissen, wer sie denn künftig sein möchte. Das wiederum verunsichert ihren Tore, der sein altes Leben mit seiner Frau zurückhaben will und den „dieses fast so sein wie früher“ zunehmend belastet. „Du kannst nicht einfach Lena spielen; du kannst nicht tun als ob!“ Und dann diese Sätze, die Lena in schlechten Filmen aufgeschnappt zu haben scheint: „Wir kriegen das wieder hin; morgen sieht die Sache schon wieder ganz anders aus.“ Das ist nicht mehr „seine“ Lena, die kluge, eloquente Frau. Sagt so jemand „Ich will einfach nur ich selbst sein“?

Vergiss mein IchFoto: WDR / Pandora Film
„Dass zum Wieder- oder Neuerfinden ihrer Identität zuweilen ein angeklebter Schnurrbart gehört, bringt gerade genug Drag-Appeal in die Geschichte, um ein progressives Geschlechterverständnis anzudeuten.“ (Jenni Zylka: Spiegel online)4.html

„Auch stört – anders als oft in Spielfilmen, die von einer Krankheit handeln – das Wissen nicht, dass hier eine Gesunde eine Kranke nur spielt, und täte sie das noch so souverän. Maria Schrader stellt, das zeigt ihr immer wieder kunstvoll wechselnder Blick, eine durchsichtige Wand zwischen sich und die Welt.“
(Jan Schulz-Ojala: Tagesspiegel)

„Vergiss mein Ich“ ist einmal ein ganz anderer Film einer Selbst-Findung, der sich weder den Status des bisherigen Lebens zum Ziel nimmt, noch Veränderung zum Dogma erhebt. Jan Schomburg geht wie schon in „Über uns das All“ ins Detail – und richtet den Blick auf die Bauteile des sozialen Lebens, auf die Sprache, die der Wörter, die des Körpers, die des Gefühls, und der Autor-Regisseur reflektiert dabei en passant die gesellschaftlichen Konventionen sowie die Automatismen des Lebens und der Liebe gleich noch mit. Maria Schrader führt den Zuschauer durch diesen durchweg magisch konzentrierten Film anfangs wie ein amoralisches Kind, das an die Darstellung von Autisten in Filmen erinnert, welche aber durch die Geschichte vom Vergessen und diese großartige Schauspielerin mit leiser Ironie aufgeladen ist. Mit der Zeit wird ihre Lena immer selbstbewusster und ziemlich keck (geht beispielsweise mit Schnurrbart und androgynem Outfit zum Sex-Date). Schrader hat man vielleicht noch nie so gut gesehen. In diesem Film erlangt sie, die bereits 1994 in Rainer Kaufmanns „Jules-und-Jim“-Hommage „Einer meiner ältesten Freunde“ spielte, endgültig die Größe einer Jeanne Moreau. Ihr Spiel verselbständigt sich, es spaltet sich von der Semantik der Geschichte ab und entlastet vom „Thema“. Ein anderer Kritiker erinnerten ihre markanten, suchenden Augen, die ihr Lebenspartner Schomburg immer wieder von Kameramann Marc Comes eindrucksvoll in Szene setzen ließ, an Stummfilmstar Asta Nielsen. Keine schlechten Referenzen für eine Schauspielerin, deren mimisches Ausdrucksspektrum in der ersten Hälfte des Films qua Story stark eingeschränkt ist, die aber im letzten Drittel auch mal wieder strahlen darf (aber aufgrund der Geschichte irgendwie anders als sonst). So ist „Vergiss mein Ich“ auch ein Film über das Spielen von (sozialen) Rollen vor und hinter der Kamera.

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Kinofilm

WDR

Mit Maria Schrader, Johannes Krisch, Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller, Peter Herwig, Jeff Zach

Kamera: Marc Comes

Szenenbild: Cora Pratz

Kostüm: Ulrike Scharfschwerdt

Schnitt: Bernd Euscher

Musik: Tobias Wagner, Steven Schwalbe

Soundtrack: Maria Schrader & Sandra Hüller („Musik ist Trumpf“)

Produktionsfirma: Pandora Film

Drehbuch: Jan Schomburg

Regie: Jan Schomburg

EA: 02.08.2015 22:45 Uhr | ARD

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