Luise (Lea Drinda) hockt in einer Polizeizelle und blickt ihre Mutter, Kommissarin Catrin Kogan (Franziska Weisz), finster an. „Wofür hast du die Waffe gebraucht?“, fragt die Polizistin. Die Antwort folgt erst in Episode fünf von sechs. Aber die Vorblende gibt die Richtung vor: Gleich zu Beginn der gut vierstündigen Serie „Wer wir sind“ kommt es zu einer Eskalation mit weitreichenden Folgen. Luise wird von ihrer Freundin Vanessa (Mina-Giselle Rüffer) in die Aktivistengruppe Red Flag Halle eingeführt, die dem Entsorgungsunternehmer Daniel Noll (Jörg Schüttauf) vorwirft, durch illegale Müllaufbereitung den Boden zu verseuchen. Bei einer Protestaktion in der Innenstadt wird Felix (Chieloka Jairus) als Schwarzer von rechten Hooligans provoziert. Die Stimmung schaukelt sich hoch, die Polizei greift ein, doch Kogans Kollege Marco Tietze (Robin Sondermann) greift sich ausgerechnet den attackierten Felix heraus. Catrin beobachtet sein brutales Einschreiten, das an das Video von der Tötung George Floyds durch einen US-Polizisten im Mai 2020 erinnert. Sie zerrt Marco von Felix weg, setzt ihn zur Abkühlung in einen Streifenwagen, wo Marco dann jedoch selbst einem bedrohlichen Angriff ausgesetzt ist. Eine johlende Menge wirft den Wagen schließlich um. Und während sich Luise verängstigt und eher unbeteiligt mitten in dem Durcheinander aufhält, wird ihre Freundin Vanessa von einer Flasche am Kopf getroffen und bricht zusammen. „Jugend-Horden außer Kontrolle“, schlagzeilt die Boulevardpresse.
Foto: MDR / Felix Abraham
Es ist also gleich zu Beginn ordentlich was los. Regisseurin Charlotte Rolfes erzeugt eine bedrückende Atmosphäre der Gewalt-Eskalation. Gleichzeitig werden die wichtigsten Protagonist:innen eingeführt. Das Chaos sortiert sich schnell, die Basis für die verschiedenen Handlungsstränge ist gelegt. Catrin Kogan versucht, bei den Ermittlungen die eigene Tochter herauszuhalten, und deckt vorerst auch ihren Kollegen Marco. Dass sie von dessen fragwürdigen Einstellungen überrascht wird, erscheint aufgrund der engen Verbindung zwischen beiden zwar nicht ganz glaubwürdig, aber der Konflikt innerhalb der Polizei um den Rassismus in den eigenen Reihen und den Umgang mit jugendlichen Straftätern sorgt für weitere Dramatik. In Halle wird in einem von Polizei und Jugendhilfe gegründeten Haus des Jugendrechts versucht, jungen Intensivtätern eine neue Chance zu geben. Dieser liberale Ansatz gerät nach den Ausschreitungen unter Druck.
Der alles überwölbende Konflikt der Dramaserie ist jedoch der zwischen den Generationen. Zwischen verunsicherten Jugendlichen, die ihre Zukunft durch die unbedachte Lebensweise ihrer Eltern und Vorfahren bedroht sehen, und den Erwachsenen, die Verständnis zeigen, aber zu Mäßigung und gesetzestreuem Verhalten ermahnen. Oder einfach so weitermachen wie Unternehmer Noll, der vollmundig von Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit spricht und damit dreistes Greenwashing betreibt. Der inhaltlich-politische Hintergrund wird nicht gerade ausgefeilt entwickelt. Das Drehbuch von Marianne Wendt, Christian Schiller und Magdalena Grazewicz hält sich an die Beziehung unter den Figuren, deren Wut nachvollziehbar erscheint, weil all ihre Bemühungen – legale Proteste und sogar der Nachweis der Verseuchung des Bodens – ohne Wirkung bleiben. Dass es reicht, sich wie Noll vor Kameras und Mikrofonen als Saubermann zu inszenieren, ist allerdings schon ein bisschen dünn. Ähnliches gilt für die kleine Aktivistengruppe, die weitgehend isoliert erzählt wird. Wie lebendig sich eine Protestszene inszenieren lässt, kann man zum Beispiel bei dem Kinofilm „Und morgen die ganze Welt“ (Netflix) von Julia von Heinz sehen. Aber der Vergleich ist natürlich ungerecht.
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Im Fernseh-Maßstab hat „Wer wir sind“ durchaus einiges zu bieten, nämlich eine bis zum Ende packende, ambitionierte Handlung ohne nennenswerte Hänger, getragen insbesondere von den jungen Figuren und ihren ausgezeichneten Darsteller:innen. Allen voran Lea Drinda („Becoming Charlie“, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“), der man, obwohl Luises Wandel zu einer zu allem bereiten Aktivistin ziemlich gewagt ist, bei jeder Wendung bedingungslos folgen möchte. Feinfühlig und ausdrucksstark gelingt Drinda die Darstellung einer 17-Jährigen, deren vermeintlich heile Mittelschichts-Welt gerade einzustürzen droht. Weil ihre Mutter Catrin eine Affäre hat, zieht Vater Alexandr (Sehnja Lacher) vorübergehend zu seinem jüdischen Vater – neben dem Polizei-Einsatz ein weiterer Grund für Luise, ihre Mutter zu beschimpfen. Außerdem sorgt sich Luise um die verletzte Vanessa, für die sie starke Gefühle hegt. Etwas Halt findet sie bei den Red-Flag-Aktivisten, deren Anerkennung sie sich mit der Analyse giftiger Bodenproben verdient, und durch die Freundschaft mit Igor (Arsalan Naimi), der aus dem ukrainischen Odessa stammt und in Halle Musik studiert. Man kommt den Figuren in Rolfes‘ Inszenierung auf eine sensible, unaufdringliche Weise nahe. Gleichzeitig vermeidet Fabian Röslers Bildgestaltung den touristischen Blick auf Halle, den die zahlreichen Regionalkrimis pflegen. Dass Luise, die als Ass im Chemie-Labor ein Stipendium in den USA ergattert hat, eine auffallend große Brille tragen muss, ist typisch für kluge Teenager-Figuren und nicht weiter schlimm, aber auch nicht sonderlich originell.
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Die anderen Red-Flag-Mitglieder haben ebenfalls Stress mit den Eltern: Felix‘ Vater (Philip Bender) ist Staatssekretär und erntet von seinem Sohn Verachtung, weil er ihm rät, sich als Schwarzer „nicht angreifbar“ zu machen. Überzeugend auch Joshua Hupfauer als Niklas, dessen Mutter ebenfalls politisch engagiert ist, die den Sohn aber häufig alleine lässt, weil sie für eine Hilfsorganisation um die Welt reist. Und Pattie (Han Nguyen) soll gegen ihren Willen Medizin studieren. Die aus Vietnam stammenden Eltern haben sich eine Existenz mit einem eigenen Blumenladen aufgebaut. Die Serie bietet genug Raum, um die einzelnen Geschichten zu entwickeln. Die Kluft zwischen den Generationen wird erzählt, ohne von oben herab auf die Jugendlichen zu blicken oder die erwachsenen Figuren zu denunzieren.
Unter diesem Gesichtspunkt sorgt ein weiterer, etwas aus dem Rahmen fallender Handlungs-Strang für zwiespältige Gefühle. Denn die totale Gleichgültigkeit gegenüber der jungen Generation ist allein im sozial schwachen Milieu einer Hochhaussiedlung angesiedelt. Vanessa ist aus den zerrütteten Verhältnissen ihrer Familie in eine eigene Wohnung geflohen. Ihre überforderte Mutter Jennifer (Natalia Rudziewicz) zeigt auch an den anderen beiden Kindern null Interesse und hängt lieber mit ihrem Freund Timo (Jannik Hinsch) und seinen Nazi-Spießgesellen ab. Jennifer besucht nicht einmal ihre Tochter im Krankenhaus. Der Fokus liegt allerdings auf Vanessas wütendem Bruder Dennis, der während der Eskalation zu Beginn einen Kiosk plünderte und auch sonst als junger Intensivtäter längst im Blick von Polizei und Jugendhilfe ist. Dennis wohnt im Haus des Jugendrechts, wo sich insbesondere Luises Vater Alexandr geduldig um den Jungen kümmert. Das beständige Ausrasten und Scheitern von Dennis ist bedrückend, seine liebevollen Versuche, den kleinen Bruder Linus (Yvon Sable Moltzen) zu beschützen, ist aber der vielleicht berührendste Handlungszweig der Serie – und zeigt wertfrei einen Jugendlichen, der existenzielle Sorgen ganz anderer Art hat als die Kinder aus den Mittelschichtsfamilien. Florian Geißelmann, der die Verzweiflung, Wut und Fürsorge von Dennis so energiegeladen und überzeugend spielt, ist eine echte Entdeckung.