Wer gern durch Schlüssellöcher schaut, sieht mitunter Dinge, die nicht schön sind. Manches mag fragwürdig sein, aber nicht alles, was moralisch verwerflich ist, kommt auch einem Verstoß gegen Gesetze gleich. Trotzdem sind die Blicke, die das Ehepaar Carlotta und Dedo Klatt in die Abgründe der Nachbarschaft wirft, verstörend. Dabei wollen die beiden gar nicht wissen, was die Leute in ihrer Freizeit treiben; ihre Suche gilt der vor fast drei Monaten spurlos verschwundenen Teenager-Tochter.
Die Sterne-Wertung: ergibt sich aus 5,5 Sternen von Gangloff und 3,5 Sternen von Tittelbach
Schlicht „Where’s Wanda?“ (Wo ist Wanda?) heißt diese erste deutschsprachige Serie von Apple TV+, und sollte sie in der Tat bloß der Kundschaft des iPhone- und iPad-Herstellers vorbehalten bleiben, wäre das ausgesprochen bedauerlich. Schon allein die Kernidee ist originell, aber herausragend wird die Produktion vor allem durch die Umsetzung, die sich zunächst als höchst vergnüglicher Mix aus Comedy und Drama mit gelegentlichen Spannungsmomenten darbietet; eine Folge startet als typisch amerikanische Sitcom. In der zweiten Hälfte wandelt sich die Handlung unerwartet zu einer Liebesgeschichte, und die letzte Folge („Tag 100“) bietet Spannung pur. Die erste beginnt an Tag 84: Carlotta und Dedo (Heike Makatsch, Axel Stein) geben sich als Abgesandte der Stadtverwaltung aus, die in der kreisrunden Vorortsiedlung einer Kleinstadt die Rauchmelder überprüfen sollen. Das ist bloß ein Vorwand: Tatsächlich installieren sie winzige Überwachungskameras in den Geräten. Im Keller ihres Eigenheims stehen über zwei Dutzend Monitore, dort behalten das Ehepaar und der gehörlose Sohn Ole (Leo Simon) die Nachbarschaft im Auge: Sie sind überzeugt, dass Wanda in einem der Häuser gefangen gehalten wird; und plötzlich wirken alle verdächtig.
Man kann’s auch völlig anders sehen:
An erkennbare Genrevorbilder wie die Krimigroteske „Fargo“ reicht „Where’s Wanda?“ nicht heran. Das liegt auch daran, dass der Genre-Mix zwischen Komik, Emotionalität und Thrill selten mit Leichtigkeit, sondern oftmals bemüht und unentschlossen daherkommt. Wenn Carlotta und Dedo sich beispielsweise als Elektroinstallateure einschleichen und das selbst den unmittelbaren Nachbarn nicht komisch vorkommt, dann strahlt das den ungewollten Vibe von 80er-Jahre-Sketch-Comedy aus. Wenn Carlotta als verzweifelte Mutter in einer TV-Talkshow auf absurde Weise vorgeführt wird und dann vor laufender Kamera ausrastet, wirkt das zu unrealistisch, um zu berühren, und bei weitem nicht witzig genug, um die Fremdscham im Zaum zu halten … Insbesondere bei Makatschs und Steins Elternfiguren fragt man sich über weite Strecken, ob fühlende Wesen aus Fleisch und Blut oder slapstickhafte Knallchargen intendiert sind.
Torsten Zarges: Allzu oft Stückwerk: Die 20-Millionen-Enttäuschung „Where’s Wanda?“ in DWDL, 3.10.2024
Die Vielzahl der geradezu verschwenderisch prominent besetzten rund vierzig Sprechrollen ist beeindruckend, aber den meisten Spaß macht die Umsetzung. Sehr sympathisch ist zum Beispiel die Integrierung der Tageszahlen in die Bilder: auf einer Kaffeetasse, einem Nummernschild oder als Gehwegmarkierung. Zeit spielt naturgemäß ohnehin ein erhebliche Rolle, denn mit jedem Tag, der vergeht, sinkt die Chance, Wanda (Lea Drinda) lebend wiederzusehen; das 17jährige Mädchen führt als Erzählerin durch den Film. Die Handlung wechselt regelmäßig von der Gegenwart in die Vergangenheit, wenn Carlotta und Dedo neue Hinweise auf seltsame Vorkommnisse entdecken, denen die „Soko Wanda“ (Nikeata Thompson, Torsten Michaelis) nicht nachgehen will. Neben der kühnen Konzeption der Chronik erfreut die Inszenierung (Christian Ditter, Tobi Baumann, Facundo Scalerandi) zudem immer wieder durch gestalterische Details: Als Dedo vergeblich versucht, eine Tür mit einem Dietrich zu öffnen, zoomt die Kamera zu seiner Armbanduhr, auf der sich die Zeiger im Zeitraffer bewegen.
Endgültig zur womöglich ungewöhnlichsten Serie des Jahres wird „Where’s Wanda?“ durch die Entscheidung, unterschiedlichste Genres zu mischen. Der Ausgangspunkt, die mutmaßliche Entführung, ist selbstredend keineswegs komisch, aber die Bemühungen des Ehepaars münden ständig in witzige Situationen, zumal Dedo eine gewisse Neigung zum Missgeschick hat. Gelegentlich, wenn sich die beiden einem weiteren Verbrechen auf der Spur wähnen, wird es auch mal richtig spannend. Zwischendurch kommt es zudem zu traurigen Momenten, weil die Eltern natürlich um Wandas Wohlergehen fürchten. Dramatisch wird es zuweilen auch: Gerade Carlotta nimmt regen Anteil an den Schicksalen, deren Zeugin sie wird, und greift hin und wieder ein, um beispielsweise Schülerin Lucie (Harriet Herbig-Matten) beizustehen, die ein Verhältnis mit einem Lehrer hat, oder um einer Frau (Nilam Farooq) zu helfen, ihr Baby zur Welt zu bringen. Nicht legal ist dagegen der Zoo, den sich ein Mann (Heiko Pinkowski) im Keller hält, und komplett kriminell geht’s im Haus von Harald Hessel (Joachim Król) zu: Er hat seine demente Frau in den Keller gesperrt, um sich ungestört seiner Geliebten (Kathrin Angerer) widmen zu können. Die Entdeckung der Terrarien mündet in ein totales Chaos, aber mitunter erweist sich das beherzte Engagement auch als nützlich: Lucie erzählt Carlotta von einem ominösen „Dunklen Haus“ im Wald, doch als Höhle des Löwen entpuppt sich ein ganz anderes Domizil.
Die Drehbücher (Zoltan Spirandelli, Oliver Lansley) werfen ohnehin ständig neue Köder aus: Welche Rolle spielt Carlottas Bruder (Devid Striesow), dessen Einrichtung einen reichlich schrägen Geschmack offenbart und garantiert ein Fest fürs Szenenbild war? Was hat es mit der investigativen Influencerin aus Tschechien auf sich, die am Tag von Wandas Verschwinden offenbar einem Skandal auf der Spur war? Und dann ist da noch die Legende vom Nuppelwocken, einem dem Minotaurus ähnlichen Zottelmonster, das angeblich jedes Jahr an einem bestimmten Tag in die Stadt kommt, um sich eine schöne Jungfrau zu schnappen; selbstverständlich ist Wanda just an diesem Tag, an dem sich alle für das Nuppelwockenfest verkleiden, verschwunden. Ihren Charme verdankt die achtteilige Serie jedoch weder dem enormen Aufwand noch dem imposanten Ensemble, sondern Details wie dem liebevoll gestalteten Vorspann, der die Siedlung als Spielzeuglandschaft zeigt. Der Rest ist preiswürdiges Handwerk, zumal gerade der Schnitt auch dank raffinierter Übergänge für temporeiche Richtungswechsel und die Bildgestaltung oft für verblüffende Momente sorgt. Auf die Idee, eine Szene durch ein Hundegebiss zu filmen, weil sich der Vierbeiner eine der Minikameras geschnappt hat, muss man erst mal kommen. Auch die Musik (Christoph Zirngibl) hat großen Anteil daran, dass sich „Where’s Wanda?“ ziemlich nahe an der Perfektion bewegt: Im Unterschied zu vielen anderen Miniserien ist hier dank der vielen überraschenden Wendungen keine Minute verschwendet.