Tatort – Borowski und der stille Gast

Milberg, Kekilli, Eidinger, Arango, Alvart. Ein Nachschlüssel macht Vieles einfacher!

Foto: NDR / Marion von der Mehden
Foto Rainer Tittelbach

„Borowski und der stille Gast“ ist der vierte Kiel-„Tatort“ aus der Feder von Sascha Arango. Man kennt den Täter: ein planvoll vorgehender Voyeur, der eigentlich nicht töten will. Dieser einsame Mann versucht sich, in das Leben, die Aura, die die Frauen umgibt, einzufühlen. Aber nicht nur er hat ein Geheimnis: So wird Borowski Zeuge eines epileptischen Anfalls seiner Kollegen. Sarah Brandt & Sibel Kekilli kommen mit diesem auch inszenatorisch großartigen „Tatort“ endgültig an. Lars Eidinger ist überragend. Spannender als jeder Whodunit!

„Er ist wieder in meiner Wohnung. Er kommt einfach durch die Wand…“ Für die Frau kommt jede Hilfe zu spät. Ein seltsamer Mann ist in Kiel unterwegs. Erst macht er Frauen Geschenke und ist um ihr Wohlergehen besorgt, dann tötet er sie brutal. Der Tatort und die Zurichtung der Opfer spricht eine deutliche Sprache: Hass, Ekel, Rache. Eine klassische Beziehungstat. Eigentlich. Doch ihren Mörder scheinen diese Frauen kaum zu kennen. „Er“, das ist ein harmlos wirkender Postbote. Einer, der schnell befangen ist und der beim Anblick schöner Frauen ins Stottern gerät. Doch mit einem Nachschlüssel ist Vieles einfacher! Jener Kai Korthals liebt es, seinen Opfern unbemerkt ganz nah zu kommen. Er imaginiert sich in ihr Leben. Doch irgendwann platzt der Traum – und dann erwacht das Monster in diesem Mann. Ein Fall, der Fingerspitzengefühls bedarf. Borowski ist genervt. Dieser seelische Dreck, diese geschundenen Körper, Chef Schladitz will mal wieder bei ihm einziehen und dann auch noch dieser Konflikt mit Sarah Brandt. Sie ist Epileptikerin – und er bislang der Einzige, der es weiß. So eine tolle Kollegin und dann das! Er drängt sie dazu, den Dienst zu quittieren. Vielleicht nicht gerade jetzt. Denn „schwarze Haare wie Ebenholz“ ist Korthals’ Beuteschema.

Tatort – Borowski und der stille GastFoto: NDR / Marion von der Mehden
Der Postbote hilft gern und zieht heimlich ein bei hilfsbedürftigen Frauen. Lars Eidinger in seiner Paraderolle als stiller Gast.

Dialog zwischen Borowski und Brandt nach ihrem epileptischen Anfall:
Brandt: „Es ist alles wieder schön. Ich hab’s im Griff.“
Borowski: „Sie sind krank, Frau Brandt. Sie dürfen keine Waffe tragen. Sie sollten nicht einmal Auto fahren. Sie sind arbeitsunfähig.“

„Borowski und der stille Gast“ ist der vierte Borowski-„Tatort“ aus der Feder von Sascha Arango. Allesamt Krimis, in denen der Täter offen geführt wird. „Mich interessiert, wer der Täter als Charakter ist“, sagt er. „Ich möchte erleben, wie seine Konflikte aussehen, seine Ängste. Dafür ist es am besten, direkt beim Täter zu sein.“ Und der besitzt ein reichhaltiges Potenzial an schön schrecklichen Energien und bemitleidenswerten Beziehungsdefiziten in diesem „Tatort“ aus Kiel. „Es ist nicht sein Plan, Frauen umzubringen, sondern, Bindungen zu schaffen und ein Gefühl von Geborgenheit zu erzeugen, was er in den fremden Wohnungen auch findet“, charakterisiert Lars Eidinger seinen äußerst planvoll vorgehenden Voyeur. Dieser einsame Mensch versucht sich, in das Leben, die Aura, die die Frauen umgibt, einzufühlen; er berührt das, was sie berührt haben. Wie eine Spinne nähert er sich seinem „Opfer“ und nährt sich von ihm. Ein schwer pathologischer Fall, keine Frage. Aber nicht vielleicht nur die Spitze des Beziehungsproblem-Eisbergs – und damit doch offen für „Mitgefühl“? Dramaturgisch auf jeden Fall. Jeder Zuschauer habe in abgeschwächter Form das schon mal durchlebt, was der Täter durchlebt habe, so der Autor. „Er hat einen Fehler begangen, er hat ein Geheimnis und er fürchtet um sein Geheimnis. Und hat nicht jeder von uns ein, zwei kleine Geheimnisse?“

Tatort – Borowski und der stille GastFoto: NDR / Marion von der Mehden
Sarah Brandt (Sibel Kekilli) ist Epileptikerin und passt auch sonst gut ins Beuteschema des stillen Gastes, der durch Wände geht…

Eigentlich muss man keine Gründe für die offene Täter-Führung suchen. Das beste Argument ist die Klasse dieses Films von der ersten bis zur letzten Minute (wobei man die allerletzte Minute auch für überflüssig halten kann). Buch und Regie zeichnet eine einzigartige Erzähl-Ökonomie aus. Was nicht heißt, dass es nicht auch Raum für skurrile „Nebensachen“ gibt: Oder was ist es anderes, wenn Borowski genervt sein braunes Auto erschießt, dass nicht nur hässlich ist, sondern jetzt auch nicht mal mehr fährt. Dagegen ist der nächtliche „Besuch“ des befreundeten Chefs bei Borowski, der sich auf Arangos „Borowski und die Frau am Fenster“ bezieht, im Verlauf dieser Episode aber keine Rolle mehr spielt, mehr als ein gagreiches Detail. Diese Szene verdichtet Borowskis Überforderung, behandelt das Mordmotiv-Thema Beziehungsprobleme auf dem „Normalbürger“-Level und zugleich erhält diese Szene ihre Spannung aus der Frage: wird Borowski Brandt verpetzen? Und da haben wir es wieder: „das Geheimnis“, von dem der Autor spricht. Das mehr Spannung in sich birgt als jedes Mörderraten und jedem Zuschauer psychologisch „näher“ sein dürfte als ein Fernsehmord.

Weitere Pluspunkte von „Borowski und der stille Gast“: Sibel Kekilli und Sarah Brandt, beide kommen im „Tatort“ aus Kiel mit dieser Episode an – hoch impulsiv und jähzornig, dann wieder sanft und einsichtig. Lars Eidinger („Alle anderen“) als Mörder wider Willen bringt unglaublich viele Facetten in sein Spiel, die ein herkömmlicher Krimi-Psychopath nicht ausleben darf. Sein Korthals ist verdruckst, spricht wenig und doch sind Eidingers Szenen geradezu unerträglich intensiv. Was auch damit zusammenhängt: Man weiß zwar mit der Zeit um sein „Problem“, aber was er als Nächstes tun wird, kann man nur erahnen. Regie, Kamera, Ausstattung und Schnitt bilden eine perfekte Einheit. Man hat den Eindruck, Christian Alvart sucht immer nach etwas Besonderem (ohne dass es gesucht aussieht), dem besten Bild: Wenn Borowski und Brandt, leicht verzweifelt, über den Fall sinnierend am zweiten Tatort sitzen, sind ihre Körper voneinander abgewandt. Sie kehren sich ihre Rücken zu. Wie Kamera und Schnitt dies einfangen – das besitzt so viele Zwischentöne, die so viel reicher sind als der Begriff „entrückt“, der einem bei dieser Bildfolge als erstes einfällt.

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Reihe

NDR

Mit Axel Milberg, Sibel Kekilli, Lars Eidinger, Peri Baumeister, Thomas Kügel, Jan Peter Heyne, Samuel Finzi

Kamera: The Chau Ngo

Szenenbild: Birgit Kniep-Gentis

Schnitt: Sebastian Bonde

Produktionsfirma: Nordfilm Kiel

Drehbuch: Sascha Arango

Regie: Christian Alvart

Quote: 7,53 Mio. Zuschauer (23,3% MA)

EA: 09.09.2012 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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