Tatort – Borowski und der Fluch der weißen Möwe

Soma Pysall, Milberg, Bagriacik, Eva & Volker Zahn, Hüseyin Tabak. Unter Kollegen

Foto: NDR / Christine Schroeder
Foto Thomas Gehringer

Eine junge Frau springt vor den Augen von Polizeischülern vom Dach eines Hochhauses, und am Tag darauf kommt es unter den angehenden Polizisten zu einer schockierenden Bluttat – in Anwesenheit der Ausbilder Borowski (Axel Milberg) und Sahin (Almila Bagriacik). „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ (NDR / Nordfilm Kiel) handelt von den Folgen eines vergangenen Verbrechens, von Traumatisierung, Kontrollverlust und Rache. Die „Tatort“-Episode ist kein klassischer Ermittlungskrimi, sondern ein psychologisch stimmiges, bedrückendes Drama. Herausragend das Spiel von Soma Pysall als junge Polizistin, überzeugend die Inszenierung von Hüseyin Tabak („Gipsy Queen“) bei seinem Fernseh-Debüt nach einem Drehbuch der Grimme-Preisträger Eva und Volker A. Zahn.

Zwei Polizeischüler versuchen, eine junge Frau davon abzuhalten, vom Dach eines Kieler Hochhauses zu springen. Völlig außer Atem – der Aufzug war blockiert – verwickeln sie Jule (Caro Cult) in ein Gespräch, wobei es sicher keine gute Idee von Tobias (Enno Trebs) ist zu fragen: „Bist du mal geflogen“?, nur weil gerade ein Flugzeug am Himmel zu sehen ist. Doch erst als auch Nasri (Soma Pysall) auf der Bildfläche erscheint, stürzt sich Jule in die Tiefe. Nach einem Abend, an dem die befreundete Clique in einem Club das tragische Geschehen zu verdrängen sucht, geht tags darauf in der Fachhochschule der Polizei die Ausbildung weiter. In einer von Kommissarin Mila Sahin (Almila Bagriacik) geleiteten Trainingseinheit eskaliert die Übung einer „Erstbefragung“: Der übermütige Sandro (Louis Held), der den Mann einer getöteten Frau darstellen soll, bringt Nasri in seine Gewalt und hält ihr einen Schraubenzieher an den Hals. Plötzlich kippt das „Spiel“ und wird zu einem irrationalen Schreckensmoment – Nasri befreit sich und sticht wie von Sinnen auf ihren Mitschüler ein, der eigentlich zu ihrer Freundesclique gehört. Sandro verblutet, Sahin und ihr Borowski (Axel Milberg), der unter den Polizeischülern auf der Tribüne des Hörsaals sitzt, können seinen Tod nicht verhindern.

Tatort – Borowski und der Fluch der weißen MöweFoto: NDR / Christine Schroeder
Keine Zeit zur Entspannung. Borowski (Axel Milberg) kümmert sich um den verletzten Sandro (Louis Held).

Die erste Viertelstunde hat es in sich in diesem „Tatort“, in dem also die Täterin nicht erst gesucht werden muss. Vielmehr geht es in der Folge „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ um die Suche nach dem Motiv und nach den Hintergründen einer scheinbar unerklärlichen Tat. Warum rastete Nasri aus? Wie ist ihre Stellung innerhalb der Clique, der neben Sandro und ihrem Freund Tobias, mit dem sie seit zwei Jahren zusammen ist, auch Leroy (der Rapper und Sprayer Sero alias Stefan Hegli in seiner ersten TV-Rolle) angehören? Was verbindet sie mit Jule, der jungen Frau, die Selbstmord beging? In den ersten Verhören finden Sahin und Borowski kaum Zugang zu der verstörten Nasri, wobei die Inszenierung von Hüseyin Tabak dank gekonnter audiovisueller Effekte den Eindruck nahelegt, die Täterin leide unter einer Psychose. Der deutsch-kurdische Regisseur drehte zuletzt den Kinofilm „Gipsy Queen“, in dem eine junge Frau aus Rumänien in Deutschland zu einer talentierten Boxerin wird. Auch in seiner ersten Fernseh-Arbeit spielt das Boxen eine wichtige Rolle. Dass Kommissarin Sahin gerne den Boxsack als Ventil benutzt, weiß man seit ihrem ersten Einsatz in Kiel („Borowski und das Haus der Geister“). Nasri stand sogar bereits bei einem Wettkampf im Ring. Filmisch nutzt Regisseur Tabak das Boxen nicht nur, damit seine Protagonistinnen mal Dampf ablassen, sondern auch in einer Verhörszene mit Borowski und Nasri.

Soma Pysall, die als psychisch angeschlagene Polizistin so verletzlich wirkt, meistert auch die Szenen, in denen sie physisch zu explodieren scheint, glaubwürdig – eine beeindruckende Vorstellung der 1995 geborenen Berlinerin, die in der Coming-of-Age-Serie „Wir sind jetzt“ zum Hauptcast gehörte und auch eine Nebenrolle in der preisgekrönten Serie „Beat“ hatte. Meist ist allerdings ein eher reduziertes Spiel von Pysall gefordert, denn Nasri ist über weite Strecken als Gefangene in der U-Haft zu sehen, die von ihren Erinnerungen heimgesucht wird, aber sich nicht wirklich artikulieren kann. Dass hier kein einziges Mal psychologische Hilfe hinzugezogen wird, erscheint fragwürdig, aber da stimmt die Darstellung offenbar mit der Realität überein: „Bei unseren Recherchen hat uns im Übrigen überrascht, dass es nach der Tat keinerlei psychologische Hilfe oder Betreuung selbst für offensichtlich schwer erkrankte Täter wie Nasrin gibt. Die Ermittlungen nehmen ihren gewohnten Gang, Therapeuten werden in die Vernehmungen nicht eingebunden. Erst wenn der Prozess anläuft, kommt es zu einer medizinischen Begutachtung“, sagt die erfahrene Autorin Eva Zahn, deren stärkste Drehbücher, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Volker schrieb, von psychisch labilen oder traumatisierten Protagonisten handelten („Ihr könnt euch niemals sicher sein“, „Mobbing“, „Das Leben danach“).

Tatort – Borowski und der Fluch der weißen MöweFoto: NDR / Christine Schroeder
Das Boxen spielt eine wichtige Rolle in Hüseyin Tabaks TV-Debüt. Borowski (Axel Milberg) hat sein Ziel erreicht: Nasrin (Soma Pysall) ist richtig sauer.

Da Borowski und Sahin in ungewohnter Ausbilder-Rolle zu sehen sind, fügt die Folge auch dem Zusammenspiel des Ermittler-Duos neue Facetten hinzu. Der erfahrene Borowski lässt Sahin an der Polizeischule den Vortritt, bricht allerdings auch mal ein Verhör ab, als die temperamentvolle Kollegin den Befragten zu forsch angeht. Beide fühlen sich mitverantwortlich für den Tod Sandros, sind gereizt, fassen dann aber auch wieder Vertrauen zueinander. Dennoch bleibt es norddeutsch-spröde, was ja in Ordnung ist in Kiel. Nur bewegt sich Borowski längst in einem ganz eigenen Kosmos, was ihn einerseits zu einer reizvollen, eigenwilligen Type macht, andererseits jeden Zugang erschwert. Und so hat es nach Sibel Kekilli auch Almila Bagriacik nicht leicht, als jüngere Kollegin zu einer eigenständigen, ebenbürtigen Figur zu wachsen. Hier ist Bagriacik übrigens gemeinsam mit Sero zu Beginn auch als Sängerin zu hören – in dem von dem Musiker geschriebenen Titelsong „Fliegen“.

In „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ schließt sich an den fulminanten Beginn eine Mischung aus spannenden, kammerspielartigen Befragungen Nasris und krimitypischer Ermittlungsarbeit an. Dabei führt die Handlung weder ins Milieu der Polizeischule noch wird ein Themenfilm über Migration und Integration daraus. Auch die Besetzung dieses 35. Borowski-„Tatorts“ bürstet sehr schön gegen den Strich: Die Rolle von Jules Vater Luca, der ein Kiosk betreibt, ist mit Kida Khodr Ramadan („4 Blocks“) besetzt. Nasri und Jule waren Freundinnen seit der Kindheit, doch als Teenager trennten sich ihre Wege. Schon mit 16 bewarb sich die ehrgeizige Nasri bei der Polizei, während Jule durch Drogenkonsum abstürzte. Relativ schnell wird klar, dass in dieser Zeit ein Ereignis geschehen sein muss, das alles veränderte. Das auch Jahre später noch dazu führt, dass ein ins Ohr geflüstertes Wort in einer Stresssituation maximalen Kontrollverlust nach sich zieht und später noch weitere Leben zerstört. Die Suche danach zieht sich etwas und die Möwen-Metapher wirkt auch ein wenig bemüht, aber Drehbuch und Inszenierung erzählen insgesamt auf ebenso spannende wie bedrückende Weise von den verheerenden Folgen eines schweren Gewaltverbrechens.

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Reihe

NDR

Mit Soma Pysall, Axel Milberg, Almila Bagriacik, Enno Trebs, Stefan Hegli, Caro Cult, Kida Khodr Ramadan, Louis Held, Thomas Kügel, Anja Antonowicz

Kamera: Lukas Gnaiger

Szenenbild: Dorle Bahlburg

Kostüm: Karin Lohr

Schnitt: Jochen Retter

Musik: Judit Varga

Redaktion: Sabine Holtgreve

Produktionsfirma: Nordfilm Kiel

Produktion: Kerstin Ramcke

Drehbuch: Eva Zahn, Volker A. Zahn

Regie: Hüseyin Tabak

Quote: 8,71 Mio. Zuschauer (25,5% MA); Wh. (2022): 4,62 Mio. (19,5% MA)

EA: 10.05.2020 20:15 Uhr | ARD

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