„Er kommt überall rein. Er kommt durch die Wand.“ Bei Kommissarin Brandt macht es klick, als sie diese Worte hört. Eine vermisste junge Psychiatriepatientin tauchte jetzt an einem Strand wieder auf – in einer Kühltruhe und völlig verwirrt. „Er weiß alles von mir. Er wird kommen.“ Für Brandt steht fest: Kai Korthals ist zurück. Der Mann, in dessen Gewalt sie sich einst befand, der sich in Wohnungen von Frauen unentdeckt einnistete, bevor er sie zerhackte. Borowski und sie hatten ihn zwar damals festgenommen, doch durch eine Panne konnte Korthals entkommen. Der Kollege wiegelt ab, nach ganz anderem steht ihm der Sinn: Borowski will heiraten. Wenn hier jemand zurück ist, dann ist es seine große Liebe: die Psychologin Frieda Jung! Und die sitzt derweil beim Erstgespräch mit einem neuen Patienten. Der erzählt von seinem wenige Tage alten Baby. Dabei entgleiten ihm seine Gesichtszüge…
Lars Eidingers psychopathischer Postbote mit der freundlichen Ausstrahlung sorgte 2012 für öffentliche Aufregung. Weniger wegen seiner Brutalität, sondern weil der „Tatort“-Serienkiller am Ende entkommen konnte. Was als bloßer Schockeffekt gedacht war, ermöglicht nun den grandiosen Fortsetzungsthriller „Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“. Weil der preisgekrönte Autor Sascha Arango („Alaska Johansson“), Spezialist für menschliche Abgründe und die Philosophie des Verbrechens, sich nicht wiederholen wollte, hat er dem Verhalten des Frauenmörders neue Muster und Motive zugrunde gelegt. Zwar hat Korthals der geisteskranken Frau das Baby aus dem Bauch geschnitten, was später deren Tod zur Folge hat, doch weitere Menschen kommen nicht zu schaden. „Ich bin kein schlechter Mensch“, dieser Satz spiegelt die neue Sehnsucht des stillen Gastes, der sein Schema verändert hat: „Er beschleicht die Frauen nicht mehr, er holt sie zu sich“, stellt Kommissarin Brandt fest. Von „Festung der Einsamkeit“, spricht Autor Arango nicht ohne Grund. Auch wenn sich dieser mörderische Voyeur äußerlich weniger unter Kontrolle zu haben scheint als in seiner Killer-Hochphase, Eidinger spricht von „Verschärfung seines geistigen Zustands“, so ist doch mehr Empathie im Spiel: Korthals ist nicht mehr der eiskalte Psycho, allenfalls ein von seiner kranken Seele Getriebener. Und er ist Vater geworden. Doch weil das Kind zu sterben drohte, musste er es den Ärzten überlassen. Jetzt will er es zurück. Korthals hat Frieda Jung in seiner Gewalt, aber er will nicht töten. Er will tauschen. So oder so, schlechte Karten für die Liebe.
Mehr noch als „Borowski und der stille Gast“ entwickelt sich das Sequel zu einem Psychoduell zwischen Korthals und dem Kommissar. Mehr denn je überschreitet Borowski Grenzen – er ermittelt am Rande der Selbstjustiz, belügt seine Kollegin und bringt seinen Gegenspieler zwischenzeitlich in seine Gewalt. Zwei Getriebene, ein wütender Psychopath und ein nicht minder wütender Melancholiker, die einander brauchen. Sie sind verwickelt in ein Spiel, bei dem es weniger um Leben oder Tod geht als vielmehr um die Nähe zwischen Gut und Böse. In einer kämpferischen Umarmung in Borowskis Wohnung findet diese Nähe ihr Sinnbild. „Willkommen auf der dunklen Seite, mein Freund“, lächelt Korthals auf der Zielgeraden – und er scheint sich ehrlich darüber zu freuen, dass Borowski für seine Liebe, seine private Obsession, seine Karriere aufs Spiel setzt. „Als Kriminalist habe ich die Möglichkeit, ein Verbrechen nachzuvollziehen, zu erleben, ohne es selbst begangen zu haben“, philosophiert Borowski zu Beginn des Films über seine Rolle als Kommissar und seine Lust als Kind, Verbrecher werden zu wollen. Jetzt ist er näher dran am Verbrechen als je zuvor.
„Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“ geht psychologisch und thrillertechnisch noch weiter als der Vorgänger von Christian Alvart (Regie bei den bisherigen vier „Tatorten“ mit Til Schweiger). Der Film von Claudia Garde, die bisher elf Mal für den „Tatort“ auf dem Regiestuhl saß, ist über weite Strecken ein twistreiches, surreal verdichtetes Kammerspiel, überaus düster, aber gleichsam mit bizarren optischen Lösungen inszeniert. Die Atmosphäre wirkt durchgängig befremdlich und steigert sich gelegentlich ins Bedrohliche. Objekte wie eine Kuckucksuhr oder die Mechanik eines Fahrstuhls, der eine besondere Bewandtnis für die Geschichte haben wird, verselbständigen sich, so wie sich die Psyche des Antagonisten (und auch des Protagonisten) emanzipiert von der Krimihandlung. Räume in diesem Film neigen zur Abstraktion und bekommen in ihrer Funktion als Projektionen der Seele etwas Symbolhaftes. Bereits der Vorspann arbeitet suggestiv mit Icons des Schreckens, kombiniert mit Text-Zitaten aus „Schneewittchen“. Der Film ist dramaturgisch und (bild)ästhetisch gestaltet wie ein Räderwerk, bei dem alles ineinandergreift und unaufhaltsam voranschreitet – viel Genre-Kunst und ein bisschen griechische Tragödie, ein Hochspannungs-„Tatort“ also, der Krimi- und Ästhetikfans, Normalzuschauer und Fernsehkritiker gleichermaßen begeistern dürfte.