Die Fahrt in einer voll besetzten Seilbahngondel ist anstrengend, erst recht im Hochsommer. Die Luft ist stickig, die Menschen sind schweißnass und wollen ein Fenster öffnen. Doch in der Kabine gibt es einen stummen Typen, der ungerührt das Fenster immer wieder schließt und auf keine Bitten und Forderungen reagiert. Die hochschwangere Nina Kucher (Pina Bergemann) verliert schließlich die Nerven und drischt mit dem Notfallhammer auf die Scheibe ein. Am Ende des Durcheinanders liegt der unbekannte Mann, der das Fenster nicht öffnen wollte, mit einer blutenden Kopfwunde auf dem Boden. Das Opfer wird in der Episode „Die große Angst“ weiter keine Rolle spielen. Die Figur steht für einen namenlosen Außenseiter, der ohne jeden erkennbaren Grund einen Konflikt in der Gemeinschaft schürt. Dass es sich bei dieser „Tatort“-Episode aus dem Schwarzwald um eine Art Gegenwarts-Parabel von Autorin und Regisseurin Christina Ebelt handelt, dafür spricht einiges. In Ebelts „Tatort“-Debüt verwandeln sich die Menschen in überhitzte, latent aggressionsbereite Wesen.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die interessante Idee hätte das Zeug entweder zu einer beklemmenden Dystopie oder einer grotesken Tragikomödie. Ebelt hält sich jedoch an das Realismus-Konzept eines TV-Krimis, und da stören schon bald die Glaubwürdigkeits-Defizite der Handlung. Das beginnt bei Nina Kuchers Partner Sven (Benjamin Lillie): Statt sich der Polizei zu stellen, wie es Nina wünscht und wie es der mit ihnen befreundete Arzt Mesut Edem (Sahin Eryilmaz) im Krankenhaus empfiehlt, flüchtet er mit Nina in den Wald, „um erst mal unsere Optionen zu klären“. Wieso Sven nach den Umständen des tödlichen Gondel-Vorfalls fürchten sollte, dass die Polizei Nina „entweder in den Knast oder in die Klapse“ stecken und man ihnen gar das Kind wegnehmen sollte, lässt sich auch mit dem später offenbarten Wissen um Ninas Hirntumor nur notdürftig erklären. Eher schon wäre Ninas schwere Erkrankung wohl ein Grund, seine hochschwangere Partnerin nicht bei Hitze mit wenig Wasser bergauf durch den Wald zu treiben. Immerhin steht zu Beginn noch im Raum, dass Sven vielleicht seine eigene Mitschuld am Tod des Gondel-Mitreisenden vertuschen möchte.
Ebelt treibt die Eskalation weiter voran. Während sich Sven und Nina in einem großen Waldgebiet verirren und von der Polizei weiträumig gesucht werden, wird auch noch ein achtjähriger Junge aus dem Dorf als vermisst gemeldet. Ein sagenhafter Drehbuch-Zufall sorgt dafür, dass Nina ausgerechnet in dem Augenblick aus einem Gebüsch springt, in dem der Junge auf seinem Fahrrad vorbeifährt. Das Kind verletzt sich bei dem Zusammenprall, Nina leistet Erste Hilfe, ruft den Rettungswagen und verschwindet wieder. Dennoch genügt die öffentlich verbreitete Meldung von Ninas „bösartigem Tumor, der aufs Aggressionszentrum drückt“, dass sich neben den Eltern des Jungen eine Schar aufgebrachter Bürger versammelt und die Polizei unter Druck setzt. Damit dies trotz der ärztlichen Beteuerung, dass Nina keine „unberechenbare Bestie“ sei, nicht allzu weit hergeholt erscheint, muss Nina auch mal im Wald wild um sich schlagen.
Foto: SWR / Benoît Linder
Überhaupt wird ohne Pause auf ermüdende Weise gestritten, geschrien und unbedacht gehandelt. Auch das Ermittlerduo ist kaum wiederzuerkennen und liegt hier im Dauerclinch. Zwischen Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) und Franziska Tobler (Eva Löbau) ist ein Konkurrenzkampf um den Leitungsposten entbrannt. Ebelt erzählt dies vor allem aus der Perspektive der weiblichen Kommissarin, die von Berg bei jeder Gelegenheit belehrt oder heruntergemacht wird. Tobler bemüht sich weitgehend vergeblich um ein besonnenes, deeskalierendes Vorgehen der Polizei, die hier am Einsatzort seltsam unsortiert und hilflos durcheinander läuft, als seien die Szenen schlecht improvisiert. Christina Ebelt hat zuletzt überzeugende Dramen mit jeweils von Franziska Hartmann gespielten, starken weiblichen Hauptfiguren gedreht („Monster im Kopf“, „Sterne über uns“). Bei ihrem „Tatort“-Debüt gelingt es ihr dagegen nicht, ein ähnlich großes Interesse für ihre Figuren zu wecken und eine packende Geschichte zu erzählen.