Ein idyllischer Weiler in einem Schwarzwälder Hochtal. Drei Familien mit kleinen Kindern befinden sich im Ausnahmezustand. Die Tochter von Jens (Godehard Giese) und Barbara Reutter (Victoria Mayer) ist von einem Schuss tödlich getroffen worden. Beim Spielen? An Entführung der beiden anderen Kinder wollen die Kommissare Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) jedenfalls nicht glauben – zumal einer der Ver-missten, Paul Buchwald (Aaron Kissiov), bald wieder auftaucht. Der macht widersprüchliche Aussagen und gibt sich selbst gegenüber seinen Eltern (Felix Knopp & Isabella Bartdorff) auffallend einsilbig. Auch Hinweise darauf, dass das dritte Kind, Linus Benzinger, gekidnappt sein könnte, gibt es nicht. Gefunden wird hingegen ein Waffendepot mit unbenutzten Kriegswaffen, mitten im Wald, notdürftig verschlossen. Haben die Kinder sich hier vielleicht bedient? Eine „Kooperation“ mit dem namhaften Waffenhersteller aus der Gegend wird auf höchster Ebene vorbereitet, Sportschützen aus dem Umland werden ins Visier genommen. Auch Hobby-Biathlet Martin Benzinger, der noch immer um das Leben seines Jungen bangt. Dieser Großeinsatz der Polizei im Weiler der befreundeten Familien und die Informations-Sperre der Polizei bringt den Vater des toten Mädchens auf ungute Gedanken. Wer sagt ihm denn, dass seine Nachbarn nicht etwas mit dem Tod seiner Tochter zu tun haben!?
Foto: SWR / Johannes Krieg
Der Wald liegt da und schweiget – geheimnisvoll, etwas düster, schneebepudert. Mit einer starren Totalen beginnt „Goldbach“, der erste Schwarzwald-„Tatort“ des SWR. In diese Einstellung knallt ein Schuss. Der zur flüchtigen Wahrnehmung neigende Fernsehzuschauer wird hier 15 Sekunden zu Ruhe und Konzentration gezwungen. Dann nähern sich die Kommissare dem besagten Weiler, um ihre leidvolle Pflicht zu tun: Sie müssen die Todesnachricht überbringen. Die Einführung des neuen „Tatort“-Teams Franziska Tobler & Friedemann Berg erfolgt ähnlich wohl überlegt wie das Eingangsbild: von außen, durch die Windschutzscheibe sieht man sie, wortlos, ein verlegenes Kratzen, dann ein sich Sammeln vor dem schwersten Gang, den Kommissare gehen müssen (was Krimis meist ausblenden). Diese wenigen Sekunden geben einen ersten Eindruck von den Ermittlern und ihrer Beziehung: Sie verstehen sich, bewegen sich emotional auf einer Wellenlänge. Das Aussprechen der Todesnachricht bleibt ausgeblendet. Ein Schnitt zur richtigen Zeit, spiegelt die Sensibilität der Figuren und des Regisseurs Robert Thalheim, und ein Perspektivwechsel öffnet den Blick für die, die im Mittelpunkt der Handlung stehen werden: die Freunde, die Gemeinschaft, die Familien, die aufs Land gezogen sind, um hier den Kindern ein geborgenes Zuhause zu bieten.
Die Kommissare nehmen sich sympathisch zurück – und doch erfährt man in und zwischen den Bildern einiges von ihnen. Diese private Zurückhaltung von Tobler & Berg ist auch einem Realismus des gesunden Menschenverstands geschuldet. „Goldbach“ erzählt von einem toten und einem vermissten Kind. „Auch im wirklichen Leben würde man in so einer Situation private Konflikte zurückstellen“, so Regisseur Thalheim. Natürlich werden Wesensarten und Wertvorstellungen der beiden Schwarzwälder Ermittler in der Geschichte angedeutet. Aber die Schauspieler tragen ihr Rollenkonzept nicht plakativ vor sich her, vielmehr verbindet es sich mit ihrer natürlichen psychophysischen Präsenz. Eva Löbau glaubt man die rücksichtsvolle Frau, die sensibel mit dem Fall und mit Kindern umgehen kann, und auch Hans-Jochen Wagner wirkt absolut stimmig in seinen „weltverbesserischen“, aber nie zu lauten Zwischentönen, die aus dem Bauch kommen, aus der Aura und der Rollengeschichte Wagners und nicht aus dem Drehbuch (womöglich noch in Hinblick auf die Zukunft der Reihe gesetzt). Schön auch, dass hier die erzählte Geschichte wichtiger genommen wird als das Format „Tatort“: Hier gibt es keinen Neuanfang, hier kehrt kein stadtflüchtiger Kommissar in die alte Heimat zurück, sondern hier macht offenbar ein eingespieltes Team seit längerer Zeit gute Arbeit. Dass die Chefin ein bisschen anders drauf ist, liegt im Wesen der Hierarchie; daraus wird aber keine Staatsaffäre gemacht. Steffi Kühnert wirkt keinesfalls wie ein Harald-Schmidt-Ersatz. Vielmehr muss man sich fragen, was die Comedy-Ikone in dieser sehr klug entwickelten Geschichte wohl für einen Stimmungspart hatte übernehmen sollen. Man kann nur froh sein, dass uns dieser Aufmerksamkeitskiller erspart geblieben ist. Alle hätten sich auf ihn gestürzt. Jetzt kann man ungestört hinschauen und die bescheidene Größe dieses vortrefflichen Krimi-Dramas, das auf der Zielgeraden mit dem Thriller liebäugelt, genießen.
Foto: SWR / Johannes Krieg
„Mir war es wichtig, sehr realitätsnah und authentisch zu erzählen und auch die Momente, die man sonst nicht unbedingt im Fernsehkrimi miterzählen würde, ernst zu nehmen. Wie fühlt es sich an, den Sarg für ein Kind auszusuchen? Wie fühlt es sich an, wenn es plötzlich Verdächtige aus dem Freundeskreis gibt? Was macht so ein Verlust mit einer Beziehung? Darin liegt für mich mehr Spannung als im Abarbeiten von 20 Verdächtigen und X Wendepunkten.“ (Robert Thalheim)
Ein Subtext, den der Film dezent angeht, ohne ihn zu bagatellisieren, ist der narrative Nebenstrang um das Waffendepot & die schwäbischen Waffenhersteller. Der schöne Schwarzwald und seine Waffenliebhaber. Männer, die gern mal etwas rumballern. Autor Bernd Lange macht kein übergroßes Thema daraus. Aber das ist gerade die Kunst der Darstellung von Politik & Alltag in einen (Genre-)Film.
Und da erkennt man dann auch die großartige Besetzung. Victoria Mayer und vor allem Godehard Giese, die bereits in „Wunschkinder“ ein leiderprobtes Ehepaar-Doppel gaben, aber auch Felix Knopp, Shenja Lacher, Odine Johne (HR-„Tatort – Land in dieser Zeit“) und die Theaterschauspielerin Isabella Bartforff, die mit der Serie „Das Verschwinden“ den Weg ins Fernsehen finden wird, (er)geben eine spannende Gruppenkonstellation, eben auch, weil hier die Konfliktsituationen nicht auf einen Star fokussiert sind. So entsteht deutlich mehr Gruppendynamik, auch wenn Gieses Figur dramaturgisch den Takt vorgibt; unterstützt von dem etwas zu dick aufgetragenen Blaulicht-Einsatz beim Sportschützen-Nachbarn. Zur 1-A-Besetzung passen auch die alltagsnahen Details der Geschichte, die stärker das Drama betonen und im Genre Krimi sonst eher selten sind: die Eltern beim Auswählen des Sarges, der Vater, der sich an den Tatort drängt, weil er sein Kind noch einmal sehen will, in der verzweifelten Hoffnung, die Tote sei vielleicht nicht seine Tochter, und später dann noch einmal der Vater in dem Moment, in dem der Kommissar ihm die Freigabe der Leiche mitteilt. Szenen, Momente, die in Erinnerung bleiben, die man als Zuschauer genauso mitnehmen wird aus diesem vor allem zwischenmenschlich spannenden Krimi wie den eher konventionell, dafür passend zur Tonlage des Films intim und sehr intensiv aufgelösten Showdown.