Sie könnten Vater und Tochter sein: Der erwachsene, deutlich ältere Martin (Andreas Lust) und die minderjährige Emily (Meira Durand) sind mitsamt Luno, dem Hund, im Auto unterwegs. Im Raum steht sofort die unbehagliche Frage: Was ist das für eine Beziehung? Das Intro lässt zum Harry-Styles-Hit „Sign of the Times“ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihr Verhältnis nicht nur platonischer Natur ist. Er wirft zärtliche Blicke, hat ihren Namen auf die Hand tätowiert, entfernt mit dem Finger einen Tropfen Eis von ihrem Oberschenkel, küsst ihren Fuß, den sie vom Rücksitz vertraulich nach vorne streckt. Sie trägt Lippenstift auf, raucht, lässt den Hund an ihrem Eis schlecken – und schlingt die Arme um Martin, als sie die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland passieren. Die Szene ist aufgeladen mit Erotik, dem Gefühl von Freiheit und sommerlicher Freizügigkeit. Während Martin an der Raststätte einkauft, bittet Emily eine Gruppe von Lkw-Fahrern um eine Zigarette und flirtet ein bisschen. „Wo kommst du her?“, fragt einer. „Von überall“, antwortet sie lachend. Martin hat die Szene aus der Ferne beobachtet und ist beunruhigt. „Wir sind jetzt wieder in Deutschland“, warnt er.
Das Publikum ist der Polizei in jeder Hinsicht voraus
Das Drama im Schwarzwald, das den „Lolita“-Mythos zitiert, aber sich keineswegs voyeuristisch an Männerfantasien ergötzt, wird nun auf zweifache Weise zu einem Polizeifilm in der „Tatort“-Reihe. Emilys Mutter meldet, sie habe gesehen, wie ihre Tochter am Vorabend vor dem Haus stand. Kommissar Berg (Hans-Jochen Wagner) ist genervt, denn alle Nachforschungen zum Verschwinden der damals 13-Jährigen vor 18 Monaten haben nichts ergeben. Zudem ist es nicht das erste Mal, dass die Mutter (falschen) Alarm schlägt. Kollegin Tobler (Eva Löbau), die gerade wegen eines positiven Schwangerschaftstests auf Wolke 7 schwebt, nimmt sich der Sache an und sucht die gereizte Mutter (Kim Riedle) auf. Die übliche „Tatort“-Leiche gibt es auch: Ein junger Motorradfahrer ist auf einer Landstraße angefahren worden und eine Böschung herabgestürzt. Der Autofahrer hätte vielleicht noch sein Leben retten können, beging aber Fahrerflucht. Am Unfallort hinterlässt der Täter einen abgerissenen Rückspiegel. Das Publikum ist der Polizei eine ganze Weile in jeder Hinsicht voraus. Es weiß von Emilys Rückkehr nach Freiburg und es weiß, wer die Fahrerflucht beging: Martin, der den jungen Mann verfolgte, weil der aus dem Auto eine Tasche gestohlen hatte.
Julia von Heinz über Filmästhetik und eine ganz besondere Referenz
„Natürlich beziehe ich mich auf den Tatort ‚Reifezeugnis‘ der 40 Jahre vor uns eine ganz ähnliche Paarkonstellation erzählte: nur dass ich dieselben Abschiedsworte, mit denen der Lehrer Nastassja Kinski verließ nun Emily in den Mund lege …
Mir war in erster Linie Nähe zu den Figuren wichtig. Diese Nähe hat Stefan Sommer mit seiner Handkamera grandios hergestellt. Desweiteren wollte ich aus dem Detail heraus erzählen, nicht aus der Übersicht. Dies hilft uns, ganz bei den Figuren zu sein, sinnlich mitzuerleben, was sie erleben.“
Martin kann bei Emily noch den starken Mann spielen
Die SWR-Folge „Für immer und dich“ – das gleichnamige Liebeslied von Rio Reiser untermalt das bittersüße Ende – ist mithin kein klassischer Whodunit-Krimi. Der Täter ist bekannt, Spannung gewinnt der Film vor allem durch die interessanten Figuren und deren Entwicklung. Das Drehbuch von Magnus Vattrodt wagt sich dabei in einen Grenzbereich der menschlichen Sexualität vor, bei dem es schnell empörte Schlagzeilen hagelt. Martin ist offenbar scharf auf junge Mädchen, aber kein Pädophiler, der sich der Definition nach an Kinder heranmacht, die die Pubertät noch nicht erreicht haben. Der großartige Andreas Lust spielt ihn in der Inszenierung von Julia von Heinz auch nicht als gewalttätigen oder schmierigen Perversen, sondern als besitzergreifenden Träumer, der nach der Pleite seiner Firma mit zunehmender Rücksichtslosigkeit Wege zu einem Neuanfang sucht. Bei Emily kann er, der Versager im Berufsleben, noch den starken Mann spielen, der vermeintlich alles im Griff hat. Im Auto legt er Rio Reisers „König von Deutschland“ ein.
Der Missbrauch kommt auch ohne vordergründige Gewalt zum Ausdruck
Wenn man einen solchen Täter-Typus als differenzierte, gar tragische Figur darstellt, handelt man sich schnell den Vorwurf der Verharmlosung ein. Aber der Missbrauch des Mädchens durch den Erwachsenen kommt hier durchaus zum Ausdruck, auch wenn vordergründig keine Gewalt im Spiel ist. In der dezent gefilmten Sexszene, in der Martin Emily oral befriedigt, ist ihr anzumerken, dass sie keinen Spaß hat. Aber es war ihr offenbar nicht möglich, Nein zu sagen. Als Luno dazu kommt, nutzt sie die Gelegenheit zum Abbruch. Die Szene entspricht gewissermaßen lehrbuchmäßig der Missbrauchs-Definition. „Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen“, heißt es auf der Webseite des Bundes-Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Später sieht sich Emily auf einem Laptop ein Video an, das Martin beim Sex mit ihr gedreht hat – nach wenigen Sekunden klappt sie das Laptop abrupt zu und vergräbt ihr Gesicht beschämt in den Armen. Wichtig auch: Emily ist hier weder eine typische „Lolita“, die ihre gerade entdeckten körperlichen Reize bewusst zur Schau stellt und einsetzt, noch eine Figur, die in einer puren Opferrolle verharrt. Sie begehrt nicht direkt auf gegen Martin, dem sie vor 18 Monaten freiwillig folgte, aber beginnt, eigene Wege zu gehen. Sie stand tatsächlich vor dem Haus ihrer Familie, und später knüpft sie Freundschaft mit Jona (Luisa-Céline Gaffron), die an einer Tankstelle arbeitet. Es sind Schritte zurück in die eigene Kindheit. Die Abhängigkeit von Martin besteht noch, wird aber brüchiger.
Die Vorgeschichte wird nur angerissen – die Spannung hat Vorrang
Mit Meira Durand wurde für diese Rolle ein interessantes neues Gesicht entdeckt. Die im Mai 2000 geborene Schauspielerin stattet Emily überzeugend mit der notwendigen Mischung aus noch ungelenker Kindlichkeit und gerade erwachender Reife aus. Das mittlerweile 15-jährige Mädchen ist meist wortkarg, zurückgezogen und blüht nur im Spiel mit dem Hund auf. Ihre Vorgeschichte bleibt eine Leerstelle. Was in den vergangenen 18 Monaten geschehen ist, erfährt man nicht, was diese verbotene Beziehung einerseits noch geheimnis- und reizvoller macht. Andererseits ist es schwer zu glauben, dass eine 13-jährige mal eben so ausreißt, auch wenn Teenager für ältere Männer schwärmen können, wie Kommissarin Tobler („Ich war mit 14 in meinen Gemeinschaftskundelehrer verknallt“) weiß. Wie lange kannte Emily Martin schon? Wie kam es zu der Beziehung? Wie hat er sie dazu gebracht, ihre Familie zu verlassen? Diese Fragen bleiben offen, auch wenn der Film mögliche Gründe beiläufig anbietet: der süße Welpe, der verstorbene Vater, die anstrengende Mutter, die offenbar chaotische Wohnsituation, die Aussicht auf sonnige Tage am Meer. Das mag unzureichend sein, aber indem sich die Handlung auf wenige Tage konzentriert, bleibt der Film dicht und packend. Offenbar ist Martin das Geld ausgegangen, weswegen er heimkehren musste, um das Sparbuch seiner Mutter (Ursula Werner) zu plündern – möglichst ohne dass sein Bruder (Antonio Wannek) davon Wind bekommt. Der Film erzählt nun von zwei gegenläufigen Bewegungen. Während die Polizei Martin immer näher rückt, entfernt sich Emily innerlich von ihrem Geliebten.
Ein Schlüssel-Dialog – inszeniert als visueller Kommentar zur Bilderflut im Netz
Berg und Tobler sind auch in ihrem dritten gemeinsamen Film zwei angenehm unaufgeregte Ermittler, die eher im Hintergrund bleiben. Wie so häufig im „Tatort“ müssen sie in einem mit Basiswissen angereicherten Schlüssel-Dialog das Thema reflektieren, in diesem Fall geht es um Pornographie und Sexualität. Diese „Pflichtübung“ wurde hier allerdings von Regisseurin von Heinz („Katharina Luther“) bemerkenswert inszeniert: Berg & Tobler sitzen sich während ihres Schlagabtauschs an einem langen Tisch gegenüber, an den Seiten weitere Kolleginnen und Kollegen aus dem Kommissariat – und alle starren auf ihre Bildschirme. Das darf man wohl als Kommentar zur Bilderflut verstehen, der sich jede und jeder Einzelne dank des Internets und der neuen Medien ausgesetzt sieht. Oder sollte man sagen: freiwillig ausliefert?
Dieser Schlüssel-Dialog im Wortlaut
Tobler: „Teenager ist eins der meistgesuchten Wörter auf Pornoseiten. Ich find’s zum Kotzen. Erwachsene Männer, die nackte Mädchen gucken.“
Berg: „Naja, es gibt auch erwachsene Frauen, die nackte Jungs gucken.“
Tobler: „Selten.“
Berg: „Das ist eben die Biologie, Reiz-Reaktionsschema. Die meisten Menschen finden junge, nackte Körper sexuell interessant.“
Tobler: „Ja, dann finde ich halt unsere Biologie auch zum Kotzen.“