Der Elzacher Schuttig, eine Narrenfigur der schwäbisch-alemannischen Fastnacht, zieht maskiert durch die Straßen, ausgestattet mit einer an einem langen Stock befestigten Schweins- oder Rinderblase. „Damit schlägt und neckt er die Zuschauer, vor allem junge Frauen und Mädchen“, erklärt die Narrenzunft Elzach auf ihrer Webseite. Ein etwas aus der Zeit gefallener Brauch, dessen erstes Opfer im Film Romy Schindler (Darja Mahotkin) wird. Romy wehrt sich, flüchtet vor den aufdringlichen Narren, während ihr kleiner Sohn Jonas verängstigt schreit und ihr Lebensgefährte David (Andrei Viorel Tacu) tatenlos zuschaut. „Die fummeln da an mir rum und du stehst da und macht nichts“, wirft Romy ihm im Auto vor. Sie bringen Jonas zur Schule – dann der harte Schnitt: Romy, die in ihrem früheren Leben in Karlsruhe als Escort-Girl gearbeitet hat, wird von einem Mann über den Flur eines Hotels geschleift. Im Zimmer von Burk Giebenhain (Ronald Kukulies) kommt es zu einem heftigen Streit. Er bietet ihr Geld an, sie schlägt es aus, geht zum Gegenangriff über. Gebrüll, Ohrfeigen, Faustschläge, das intensive Ringen zweier Körper. Burk will keinen Sex, er hält sich für Jonas‘ Vater, fordert einen Vaterschaftstest, doch Romy will davon nichts wissen.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die Ex-Prostituierte, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, ist die zentrale Figur des Films. Und die im Fernsehen weitgehend unbekannte Darja Mahotkin, in Russland geboren und in Bochum aufgewachsen, ist die Entdeckung dieser „Tatort“-Episode. Schmerzhaft vorgeführt wird die männliche Aufdringlichkeit, auch fürchtet Romy das Gerede im Ort, falls ihr Vorleben bekannt wird. Dennoch ist sie alles andere als eine passive Opfer-Figur. Romy weiß sich gegen Übergriffe zu wehren (auch in der Schönheitsklinik, in der sie als Krankenschwester arbeitet) und kämpft um ein selbstbestimmtes Leben. Beim Sex wirkt sie spontan und impulsiv. Regisseur Jan Bonny inszeniert die Nackt-Szenen nicht so harmlos wie im Fernsehen üblich, sondern intensiver, drängender. Die Lust, Grenzen zu überschreiten, Rollen zu spielen, liegt in der Luft. Zwei Menschen-Körper, die miteinander ringen wie Romy und Burk zu Beginn, das ist ein sich wiederholendes Prinzip im Film: Romy mit ihrem Freund David, der in der Klinik als Arzt angestellt ist. Romy mit dem Ex-Kunden Philipp Kiehl (Andreas Döhler), der in der Klinik auftaucht, weil seine Frau Elena (Bibiana Beglau) sich das Gesicht liften lassen möchte – auch das eine passende Metapher. Nachdem ihr Mann erschlagen in seinem Hotelzimmer aufgefunden wurde, torkelt Elena, das Gesicht hinter Bandagen verschwunden, durch die Klinik wie ein tödlich verletztes Tier.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die Sex-Szenen taugen nicht als pornographische Provokation und sind auch kein erotisches Feigenblatt, sondern bilden eine Ergänzung zu den Rollenspielen in der Fastnachtszeit, in der man sich verkleidet, hinter Masken verbirgt – und manchmal nach ausgelassenem Feiern völlig entblößt. Wie Kommissarin Tobler (Eva Löbau) und ihr Kollege Berg (Hans-Jochen Wagner), die hier miteinander im Bett landen, was Bonny ohne großes Bohei erzählt und Löbau und Wagner wunderbar spielen. Zwei Betrunkene, die sich ausziehen und dann eben Sex haben, was irgendwie logisch und zufällig zugleich wirkt. Das verändert die bisher rein professionelle Beziehung der beiden Ermittler. Tobler, die bislang wegen ihres unerfüllten Kinderwunschs eher eine ernste Figur war, nimmt die Sache mit dem One-Night-Stand locker, während Berg im nüchternen Zustand schwer verunsichert ist und ungewohnt dünnhäutig wird – eine etwas rätselhafte Wendung zum Klischee-Typ des Mannes in der Midlife-Krise, der sich zur Ex-Prostituierten Romy hingezogen fühlt und im Bordell nur reden möchte.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die Beziehungs-Akrobatik mündet, wie es das Format verlangt, in einen Kriminalfall, aber die Kommissare erlebt das Publikum weniger beim Ermitteln als bei der Beschäftigung mit sich selbst (wobei Silke Bodenbender auf dem Kommissariat in einer kleinen Nebenrolle mitmischt). Nach Philipps Tod gibt es ohnehin wenig zu ermitteln, denn Romy räumt sofort ein, sich zuvor mit ihrem Ex-Kunden noch einmal getroffen zu haben, „aus Lust“, wie sie sagt. Neben ihr ist noch ihr neuer Lebenspartner David tatverdächtig, und auch dem gewalttätigen Burk Giebenhain darf man wohl einiges zutrauen. Mehr als den Krimi-Plot interessiert Bonny aber die Tragödie – oder auch die Komik – menschlicher Zweier-Beziehungen mit ihren Versteckspielen und energiegeladenen Ringkämpfen. Darin ist diese „Tatort“-Folge meisterlich. Bonnys Inszenierungsstil, der den Schauspielern viel Bewegungsspielraum lässt und bei dem die Dialoge nicht wie aufgeschrieben klingen, auch die bewegliche Handkamera und der sparsame Einsatz von künstlichem Licht schaffen einen realitätsnahen Look ohne künstlich erzeugte Gefühlssoße. An Emotionen mangelt es ohnehin nicht.
Auch nicht an musikalisch-poetischer Begleitung – womit weniger die Auswahl gängiger Hits wie „Verdammt, ich lieb dich“ (Matthias Reim), „Sweet Dreams“ (Eurythmics) oder „Lady in Red“ (Chris de Burgh) gemeint ist, wohl orientiert an dem, was das Feiervolk in der Fastnacht so verlangt. Einmal ertönt aus dem Nebenzimmer gar „Viva Colonia“. Als musikalischen Kontrast singt Filmkomponist Jens Thomas persönlich das melancholisch-romantische, knapp 200 Jahre alte „Ich hab im Traum geweinet“. Der SWR scheint für sein Schwarzwald-Team Gefallen an Lieder-Titeln gefunden zu haben: Nach Rio Reiser („Für immer und dich“) nun also Heinrich Heine. (Text-Stand: 2.2.2020)