Arne Brauner ist verzweifelt. Sein Anruf ereilt die Chefin ausgerechnet unmittelbar vor der Abifeier ihres Sohnes. Leo ist es zwar gewohnt, dass seine Mutter ständig alles stehen und liegen lässt, wenn sie wieder mal einen Mordfall lösen muss, aber diesen Moment will Jana Winter auf keinen Fall verpassen. Außerdem ist Brauner Alkoholiker, und weil er unverständliches Zeug stammelt, erkundigt sie sich erst mal, ob er betrunken sei. Der beurlaubte Kollege, zu Schleswiger Zeiten noch ihr Vorgesetzter, versichert, es gehe um Leben und Tod. Er ist ein enger Freund, also nimmt Winter den Groll des Sohnes in kauf und fährt zu der Insel, von der sich Brauner gemeldet hat, doch sie kommt zu spät: Der langjährige Wegbegleiter liegt tot im Watt. Im Telefonat sprach er von einem Mädchen, das als Zeugin aussagen werde, aber es gibt keinerlei Hinweise auf eine Straftat. Der einheimische Kommissar sieht daher keinen Ermittlungsanlass: Das Eiland, versichert er, sei abgesehen von gelegentlichen nächtlichen Ruhestörungen eine völlig ereignislose Ferieninsel. Den wirren Notruf hält er für das Hirngespinst eines Säufers: Brauner hatte 2,4 Promille in Blut. Auf seinem heimlich eingesteckten Telefon entdeckt Winter das Foto eines Teenagers. Als sie heimkommt, sitzt die 15-jährige Lea vor ihrer Haustür.
Foto: ZDF / Manju Sawhney
Wenn Reihen enden, ist das stets mit einer gewissen Wehmut verbunden. Verschwinden dagegen liebgewonnene Hauptfiguren sang- und klanglos, hinterlassen sie eine Art Phantomschmerz: Man hätte sich gern verabschiedet. „Mütter und Söhne“ (2023) war der letzte Fall für Arne Brauner (Martin Brambach); danach war er einfach weg. Thomas Berger (Buch und Regie), der schon die von ihm selbst geschaffene Heldin des einstigen ZDF-Dauerbrenners „Kommissarin Lucas“ (2003 bis 2023) sehenswert in den Ruhestand begleitet hat, holt das Adieu mit seiner ersten Arbeit für „Unter anderen Umständen“ nun nach. Die Abschiedsvorstellung ist entsprechend bewegend, aber darüber hinaus ist „Die einzige Zeugin“ vor allem ein fesselnder Krimi: Leas gut zehn Jahre ältere Schwester Sara ist während eines Strandfests in den Dünen offenbar von mehreren jungen Männern vergewaltigt worden. Das Mädchen hat die Tat zwar nicht beobachtet, aber womöglich die Täter gesehen. Allerdings war es dunkel, von Sara fehlt jede Spur, und Inselkommissar Jakobsen (Golo Euler) hat zudem erhebliche Probleme mit der Flensburger Kollegin (Natalia Wörner), die der eigenen Intuition mehr vertraut als der Faktenlage. Dass sie das Smartphone eingesteckt hat, ist ihm ebenso unbegreiflich wie die Tatsache, dass sie Lea bei sich aufgenommen hat, ohne das Jugendamt zu informieren. Prompt geraten Winter und der mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte auch am Strand stets korrekt gekleidete Insulaner ständig aneinander. „Ich glaube, er steht auf dich“, stellt die Kollegin Sörensen (Lisa Werlinder) trocken fest. Tatsächlich sind Jakobsen und Winter derart unterschiedlich, dass er eine prima Ergänzung für das Team wäre. Das ist zwar nicht vorgesehen, aber vielleicht kann Golo ja Euler noch mal in einer späteren Episode mitwirken.
Foto: ZDF / Manju Sawhney
Für Spannung sorgt vor allem die gute Krimimusik (Christoph Zirngibl). Ansonsten lebt der Film in erster Linie von der optisch stimmig umgesetzten Geschichte (Kamera: Gunnar Fuß). Zwei verdächtige Gruppen haben das Strandfest zum Feiern genutzt: hier ein Junggesellenabschied, dort das bestandene Abitur; und das war die Klasse von Leo Winter (Jacob Lee Seliger). Tatsächlich glaubt Lea, einen der Jungs wiederzuerkennen. Der nette Nick (Nick Julius Schuck) ist jedoch nicht nur ein guter Freund von Leo, sondern auch der Sprössling einer Staatsanwältin (Sophie von Kessel). Leo, ohnehin nicht gut auf Lea zu sprechen, weil Mutter und Sohn die Vereinbarung haben, dass sie keine Arbeit mit nach Hause bringen soll, hält den Verdacht für entsprechend absurd, und auch Jakobsen hat keine Lust, sich aufgrund der Aussage eines „verwirrten Teenagers“ mit einer Staatsanwältin anzulegen.
Sehenswert ist „Die einzige Zeugin“ nicht zuletzt wegen des ausnahmslos guten Ensembles; das gilt vor allem für Mariella Aumann in der Titelrolle. Sehr präsent ist auch der Österreicher Stefan Gorski als Ziehvater der seit dem Tod der Eltern verwaisten Lea. Zwar nur wenige, dafür aber umso bewegendere Momente hat Martin Brambach, dem Berger nach dem intensiven Prolog später noch eine Rückblende widmet, um zu erzählen, warum Lea Vertrauen zu dem einsamen Fremden gefasst hat. Der Schluss mit dem endgültigen Abschied ist ohnehin zu Tränen rührend.
Foto: ZDF / Manju Sawhney
2 Antworten
Spannende und überzeugend gespielte Story.
4,5 Sterne
Hat mir gut gefallen, obwohl die arme Jana immer weniger Kollegen hat. Auch privat könnte etwas passieren, ein Sohn, der die ganze Zeit meckert, reicht nicht