Dieses Mal wird das Drehbuch dem Reihentitel in besonderem Maße gerecht: Die Umstände sind tatsächlich erheblich anders als gewohnt. Die Geschichten der Reihe „Unter anderen Umständen“ sind in Schleswig-Holstein beheimatet. Jüngst gab es eine Zäsur: Jana Winter (Natalie Wörner) wurde zur Kommissariatsleiterin in Schleswig befördert und wird zu Beginn der Folge im Kreise der Kolleginnen und Kollegen begrüßt. Die ersten Bilder der Episode aber irritieren, sie zeigen eine Berglandschaft. Winters früherer Vorgesetzter Arne Brauner (Martin Brambach) stolpert sturzbetrunken über die Alm und schimpft lauthals auf treulose Kollegen, wenn er nicht gerade mit seiner Urlaubsbekanntschaft (Nicole Beutler) anstößt oder „Happy Birthday to Me“ gegen die Bergwände schmettert. Später sieht man ihn allein bergab torkeln. In einer Schlucht überquert er schwankend einen Gebirgsbach, als plötzlich ein menschlicher Körper vom Himmel fällt. Ehe er sich‛s versieht, wird auf ihn geschossen. Er trägt eine Verletzung davon, kann sich aber noch in den nächsten Ort schleppen und landet im Krankenhaus. Der österreichische Bezirksinspektor Robanegg (Cornelius Obonya) nimmt sich der Sache an, sieht in die Papiere des deutschen Touristen und erfährt, dass er einen Kollegen vor sich hat. Am selben Tag wurde die Leiche einer Frau gefunden. Ein Kletterunfall, wie Robanegg anfangs diagnostiziert. Es wäre nicht der erste. Doch da irrt sich der Inspektor. Denn: Das Opfer hat Chlorwasser in den Lungen. Aus dem Gebirgsbach stammt das nicht.
Arne Brauner ist Alkoholiker und rückfällig geworden. Eigentlich sollte er in einer Bad Gasteiner Entzugsklinik sein, doch er hat die Kur abgebrochen und ist in ein Hotel umgezogen. Jana Winter erfährt von dem Drama, verschiebt den Arbeitsbeginn und fliegt nach Österreich, um Brauner heimzuholen. Der leidet unter retrograder Amnesie. Und ihm macht merklich die Alkoholsucht zu schaffen. Der Ortspolizist Robanegg hat bislang erst mit einem Mord zu tun gehabt und ist nicht undankbar, dass ihm die deutschen Kollegen bei den Ermittlungen ein wenig behilflich sind. Da gibt es eine kleine Stichelei gegen die Deutschen, die „wieder“ das Kommando übernehmen. Aber die werden nicht getrieben von Übereifer, Ehrgeiz oder Wichtigtuerei, was ja peinlich wäre ‒ der verzweifelte Brauner will einfach nur wissen, was ihm eigentlich widerfahren ist. Bei der Toten findet sich eine Packung Hausschokolade des mit fünf Sternen gesegneten Grand Hotels Kroll, in dem auch Brauner abgestiegen ist. Das Haus ist dem Bezirksinspektor gut bekannt: Der Inhaber Peter Kroll (Klaus Pohl) ist sein Schwiegervater, der weichliche Juniorchef Georg (Manuel Rubey) sein Schwager. Dem Senior verdanken die Polizisten die Identifizierung der Toten ‒ sie war als Geologin in die Gegend gekommen und ebenfalls Gast seiner Edelherberge.
Die Ursachen für das Ableben der Geologin und für den Anschlag auf Brauner sind innerhalb dieser zerrütteten Familie zu suchen, vor allem beim Patriarchen Kroll. Der frönt dem Motto „ein Mann hat seine Bedürfnisse“, lässt trotz seines Alters das Schürzenjagen nicht, nötigt weibliche Angestellte zu sexuellen Handlungen, hat in jüngeren Jahren eine fünfzehnjährige Bauerntochter vergewaltigt und lässt keinerlei Schuldbewusstsein erkennen. Das damalige Opfer ist inzwischen erwachsen und nach langer Abwesenheit heimgekehrt nach Bad Gastein, was Fragen nach ihren Absichten aufwirft. Dann gibt es noch einen britischen Investor (Felix Everding), der keine Lust mehr hat auf Investmentbanking und lieber dem dahindämmernden Bad Gastein zu neuem Glanz verhelfen möchte. Scheinbar aus einer Art sportlichem Ehrgeiz heraus, aber tatsächlich treiben ihn ganz andere Motive. Vor allem hat er es auf das Grand Hotel Kroll abgesehen. Der vom Vater gequälte, homosexuelle Junior möchte verkaufen, der Alte nicht. An Konflikten also besteht kein Mangel. Und so klingt die Inhaltsangabe von „Im finsteren Tal“ nach dramatischem Übergewicht, nach lähmendem Ballast. In den Händen des Autors André Georgi, der eine Vorlage von Gwendolyn Bellmann & Marianne Wendt bearbeitete, und der Regisseurin Judith Kennel wird aus dem Stoff jedoch eine subtil erzählte Familientragödie vor dem Hintergrund überkommender patriarchalischer Strukturen. Zugleich ein zeitkritischer Kommentar, denn das selbstgefällige Betragen eines Mannes, der Frauen jeden Alters als Freiwild betrachtet, hat sich nicht nur in abgelegenen Bergdörfern erhalten.
Abweichend vom Format der Reihe, die eigentlich von einer Ermittlergruppe erzählt, in der es realitätsnah auch mal Meinungsverschiedenheiten, Reibereien und Eifersüchteleien geben kann, wird die Handlung in diesem Film von nur zwei Figuren der Stammbesetzung, von Jana Winter und Arne Brauner, getragen. Matthias Hamm (Ralph Herforth), sonst immer für einen wirkungsvollen Auftritt gut, tritt dieses Mal nur zu Beginn in Erscheinung. Martin Brambach nutzt den erweiterten Spielraum und engagiert sich intensiver, als man es von ihm gewohnt ist. Zumeist wird ihm von Regisseuren wenig mehr abverlangt als „den Brambach“ zu geben, den neurotischen Stiesel, den Brambach buffoesk, mit Lust an der Übertreibung und ohne sonderliche Anstrengungen nach wiederkehrendem Muster mit immer gleichen Manierismen abliefert. Resultat: Montiert man mehrere seiner Auftritte aneinander, wird ein uninformiertes Publikum kaum bestimmen können, welche davon aus unterschiedlichen Filmen stammen. Unter Judith Kennels Regie arbeitet der vielbeschäftigte Schauspieler ungleich konzentrierter, modelliert Brauners Verunsicherung, die mehrfach in die schiere Verzweiflung abzugleiten droht, und bringt die körperlichen wie psychischen Symptome des Alkoholentzugs ein ins darstellerische Spiel, ohne darüber in theatralische Schaustellerei zu verfallen.
Nicht offen zutage tritt, dass die Handlung Bezug zur Realität aufweist: Tatsächlich ist Bad Gastein – der Ort wurde laut ZDF-Pressematerial von Produzentin Jutta Lieck-Klenke ausgewählt, die mit ihm bereits beste Erfahrungen als Filmkulisse bei Steinbichlers „Das Dorf des Schweigens“ machen durfte – ein ehemals beliebter Badeort, heute aber von Niedergang und Verfall geprägt. Wie im Film ruhen große Hoffnungen auf Investoren von außerhalb. Und es gibt noch eine sinnige Verknüpfung zwischen Bad Gastein und Jana Winters Wirkungsort Schleswig: 1865 wurde das Herzogtum Schleswig im Rahmen der Gasteiner Konvention von Dänemark gelöst und preußischer Verwaltung unterstellt.
Wie aufmerksam hier inszeniert wurde, zeigt sich auch an den szenenbildnerischen Details. Beispielsweise hat der Bezirksinspektor in seinem Büro ein unvollendetes Puzzle liegen, womit nonchalant zum Ausdruck gebracht wird, dass sich seine beruflichen Anforderungen gemeinhin in Grenzen halten. Die Berglandschaft wird von Kameramann Nicolay Gutscher nicht schwelgerisch, sondern in eher engen Bildausschnitten und damit korrespondierend zur Handlung, zu den Gefühlen der Bedrückung und besonders zur getrübten Wahrnehmung Brauners, ins Bild gesetzt. Von metaphorischer Kraft ist jene Szene, in der Peter Kroll bei schwindendem Bewusstsein halluzinierend seine Tochter in jungen Jahren eine Treppe herunterkommen sieht. Offen und frohgemut, doch dann gewahrt sie etwas, was uns Zuschauern verborgen bleibt. Ihre Miene verdüstert sich, und sie geht rückwärts die Treppe wieder hinauf. Man möchte diese Szene all jenen ans Herz legen, die meinen, das Publikum mit expliziten und drastischen Tableaus erobern zu müssen. (Text-Stand: 27.12.2018)