„Willkommen auf dem Tummelplatz der menschlichen Abgründe“, begrüßt Kommissarin Alwa Sörensen ihre Kolleginnen und Kollegen von der Kripo Flensburg, als sie sie über das Darknet informiert, und das ist nicht übertrieben. Krimis leben davon, Blicke hinter bürgerliche Fassaden zu werfen, aber „Mutterseelenallein“, die neunzehnte Episode aus der ZDF-Reihe „Unter anderen Umständen“, erzählt von einem besonders abscheulichen Verbrechen. Genau genommen sind es mehrere, weil sich der Täter zu immer weiteren Taten anstacheln lässt. In den meisten TV-Krimis werden Morde aus Eifersucht, Habgier oder Rachegelüsten begangen, gern auch mal im Affekt. In Zora Holts drittem Drehbuch für die Reihe geht es allein um die Lust am Töten; und um den Applaus einer Fan-Gemeinde im Netz, deren Motive letztlich nicht weniger abstoßend sind als die des Mörders.
Das alles können Jana Winter (Natalia Wörner) und ihr Team zunächst nicht ahnen, auch wenn der Film früh sein Thema andeutet, als sich die Hauptkommissarin über die vermeintliche Online-Sucht ihres heranwachsenden Sohnes ärgert. „Mutterseelenallein“ beginnt mit einem winterlichen Nachmittag am Strand. Kinder spielen, Erwachsene reden. Ein Mann (Stephan Grossmann) ermahnt seinen kleinen Jungen, nicht zu nah ans Wasser zu gehen. Als Jimmy am Abend nicht nach Hause kommt, fürchtet der verwitwete Vater das Schlimmste. Winter richtet eine Soko ein und überträgt die Leitung Arne Brauner (Martin Brambach). Kurz darauf wird der Hund der Familie erdrosselt gefunden; die Polizei geht jetzt von einem Gewaltverbrechen aus. Tatsächlich kursieren wenig später Bilder des toten Kindes im Netz. Die Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf einen Urlauber (Michael Wittenborn), der schon mal durch den Handel mit kinderpornografischen Bildern auffällig geworden ist. Seinen Hinweis auf einen dunklen Transporter hält Winters Kollege Hamm (Ralph Herforth) für ein Ablenkungs-Manöver. Für ihn ist der Fall klar, für den Vater auch: Er prügelt den Mann krankenhausreif. Auf diese Weise verschafft er ihm immerhin ein Alibi für alles, was nun passiert.
Geschickt macht das Drehbuch Kommissarin Sörensen (Lisa Werlinder) zur Fremdenführerin des Teams durch die dunklen Seiten des Internets. Als ehemalige Hackerin weiß sie genau, wo sie nach den Abgründen suchen muss, und was sie dort entdeckt, wird alle schockieren, die danach streben, ein gottgefälliges Leben zu führen: Der Mörder wird für seine Taten gerühmt, und weil die Fan-Gemeinde nach mehr lechzt, überträgt er den nächsten Mord als Live-Stream. Dann bittet er um Anregungen für weitere Opfer. Regisseurin Judith Kennel, die bislang alle Filme der Reihe auf in der Regel hohem Niveau inszeniert hat, belässt es bei kurzen Eindrücken, aber die genügen vollauf: Die Vorschläge reichen von Politikern über Repräsentanten von ARD und ZDF bis zur Polizei, was Sörensen auf die tollkühne Idee bringt, ihre Chefin als Zielscheibe ins Spiel zu bringen. Jana Winter als Köder für die Bestie: Hamm ist entsetzt, aber die Hauptkommissarin findet die Idee gar nicht schlecht, denn auf diese Weise wäre die Polizei dem Mörder endlich einen Schritt voraus. Allerdings entwickeln sich die Dinge ganz anders – und vor allem noch viel schlimmer als erwartet …
In der Betroffenheit der Teammitglieder liegt die große Stärke der Geschichte. Die Handlung an sich ist äußerst fesselnd, aber emotional mitreißend wird sie erst durch die persönlichen Perspektiven von Winter, Hamm und Brauner. Gerade die beiden Männer erweisen sich als hoffnungslos „old school“, und das nicht nur, weil Hamm mit Sörensens Darknet-Decknamen „Agent Smith“ (der Gegenspieler aus den „Matrix“-Filmen) nichts anzufangen weiß. Brauner wird gar zur tragischen Figur. Seine Chefin hat ihn zum Soko-Leiter gemacht, weil er einst ein entführtes Mädchen gefunden hat. „Hundert Jahre her“, findet Hamm, und er soll Recht behalten. Sie lebe „in einer veralteten Realität“, sagt Leo Winter (Wörners Sohn Jacob-Lee Seeliger) zu seiner Mutter, als sie wieder mal schimpft, dass er zuviel Zeit im Netz verbringe. Die Zeiten haben sich in der Tat geändert und vor allem Brauner hinter sich gelassen: Als die Leiche des Kindes gefunden wird, hat der Alkoholiker einen Rückfall mit schweren Folgen.
Kennels Arbeit mit dem Ensemble ist auch diesmal wieder ausgezeichnet. Das gilt nicht zuletzt für die sehr markant besetzten Nebenfiguren, allen voran Jessica Kosmalla als Managerin der Ferienhäuser und Anton Weil als ehemaliger Berufssoldat, dessen Treiben ähnlich düster ist wie sein Transporter. Die Bildgestaltung (Kamera: Nicolay Gutscher) ist ein weiteres Qualitätsmerkmal der Reihe. Clever eingesetzte Zeitlupen sorgen dafür, dass die empathischen Momente große Wirkung erzielen. Die unheilvolle Musik (Christoph Zirngibl) bereitet mit ihrem weiblichen Gesang von Anfang an den perfekten akustischen Boden für Holts immer grausigere Geschichte. Nach einem Drehbuch der Ehefrau von Ralph Herforth ist zuletzt auch die nicht minder sehenswerte Episode „In einem anderen Leben“ aus der ZDF-Reihe „In Wahrheit“ entstanden. (Text-Stand: 15.1.2022)